Kapitel 1
ARTUSIS QUATSCHLAPPEN
Die Granitplatten des Gehwegs glänzten noch feucht vom letzten Regen, als Gesomina Massati gegen Mittag dieses recht kühlen Berliner Julitages aus dem Tor des Mietshauses eilte, in dem sie damals schon seit fast vier Jahrzehnten wohnte. Der Sommer war bisher völlig verregnet, immer wieder gingen sintflutartige Sturzfluten nieder, was Gesomina aber weder freute noch ärgerte - das Wetter interessierte sie nicht. Die eher klein gewachsene Frau mit kurz geschorenem grauem Haar wandte sich gleich nach links, wo sie nach wenigen Metern den Laden von Tom Spencer passierte, der hier tasmanische Stiefel verkaufte. Wie immer, wenn es nicht allzu stark regnete, saß der stämmige Australier auf seinem Campingstuhl vor dem Geschäft. Früher hatte hier eine Podologin ihre Dienste und Produkte angeboten, die ihm zufolge aber niemand vermissen würde, der seine tasmanischen Stiefel trug. Mit denen könne man problemlos durch die Hölle gehen, hatte er Gesomina erklärt. Tatsächlich gebe es den Beruf des Podologen in Australien gar nicht, was umso bemerkenswerter sei, wenn man die Größe des Landes und die Beschaffenheit seiner Wege bedenke, das könne sie im Internet leicht überprüfen. Gesomina wollte weder vom Internet noch von seinen Stiefeln etwas wissen, da sie keinen Computer hatte und bei jedem Wetter nur Sandalen trug, bei starkem Frost mit Wollsocken. Sie hatte ihm gleich bei ihrer ersten Begegnung gesagt, dass sie als Kind in Mogadischu ausschließlich barfuß herumgelaufen sei, bis die Nonnen, deren Erziehung sie habe ertragen müssen, ihre Füße immer und immer wieder in Schuhe gezwängt hätten. Da solle er ihr nicht mit Stiefeln kommen, und seien sie sonst wo her! Tom Spencer hatte das Verkaufsgespräch daraufhin sofort beendet. Seitdem redeten sie über andere Themen, so auch darüber, dass er eigentlich Literatur studiert hatte. Zuletzt hatte sie ihn auf Dante angesprochen, nachdem sie durch eine Radiosendung auf die Göttliche Komödie gestoßen war.
»Dolce Beatrice!«, grüßte er sie heute und legte die sonnengegerbte Haut um seine Augen lachend in tausend Falten, doch darauf ging sie nicht ein.
»Ich habe keine Zeit«, rief sie ihm zu, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. »Für Dante habe ich jetzt wirklich keine Zeit.«
Tom Spencer sah seiner Nachbarin verwundert hinterher. Sie war eigenwillig, aber so hatte er sie noch nicht erlebt. Ganz im Gegenteil hatten sie sich schon öfter gemeinsam über die Hektik der Deutschen lustig gemacht und überlegt, inwiefern ihr afrikanisches und sein australisches Gemüt einander entsprachen. Ehe er etwas dazu hätte sagen können, war sie aber schon einige Meter weiter.
Energisch warf sie ein Bein vor das andere. Ihre weit genähten Stoffhosen flatterten, und man hätte sich täuschen und annehmen können, sie trage einen Rock, was ihr aber niemals eingefallen wäre - sie hasste Röcke nicht weniger als Stiefel. So lief sie die Straße hinunter bis zum einstöckig gebauten Supermarkt der Familie Dong und verschwand in der Tür.
Erst kurz vor Tom Spencers Einzug in die einstige Podologie hatte eine der großen Supermarktketten diese Filiale aufgegeben. Die Farben waren geblieben, das der aufgeklebten Buchstaben beraubte Leuchtschild und die Griffe der wenigen Einkaufswagen: Blau und Gelb. Das Sortiment aber war jetzt ein anderes. In einer kleinen Küche gleich neben den Kühlregalen saß den ganzen Tag über die alte Frau Dong, schälte und schnitt Ananas, Mango und Melone, die in Plastikdosen verkauft wurden. Es gab frischen Koriander, Minze, Thai-Basilikum, Sojasprossen und Zitronengras, ein Dutzend Sorten Duftreis und Kokosmilch in Büchse und Karton. Gesomina grüßte in die Küche und eilte schon weiter. Sie brauchte nur Mehl, Butter, Ei und Puderzucker. Außerdem Aquavit. Das Rezept kannte sie auswendig: Farina, Burro, Zucchero in polvere, Uova, Aquavite - ein cucchiaiate. Das Wort für einen kleinen Löffel voll von was auch immer hatte sie auf Anhieb gemocht, auch wenn sie sonst von Schnaps nichts hielt. Ihr Mann hatte getrunken. Zu viel getrunken. Jetzt aber brauchte sie ein wenig Aquavit.
Herr Dong erwartete sie an der Kasse. Hätte sie den kleinen Mann, der sie mit einem verbindlichen Lächeln begrüßte, nach dem Aquavit gefragt, hätte er ihr den Schnaps sofort bestellt und einen Boten losgeschickt und sich tausendfach dafür entschuldigt, dass er ihn nicht führte. Oder er hätte sich auf die Suche begeben, in den Schubladen unter den Regalen oder auch im Lager, wo er die absonderlichsten Dinge fand, wenn man ihn nach etwas fragte. Er hatte von seinem recht chaotischen Vorbesitzer sämtliche Lagerbestände übernommen, bis jetzt aber nicht die Zeit gefunden, diese komplett zu sichten. Immer wieder fanden sich neue Kisten mit nicht ganz alltäglichen Waren, mit denen das Sortiment offenbar ergänzt worden war. Saisonware wie Indianerschmuck, Silvester-Raketen, Osterküken oder Lametta, aber auch einige Flaschen italienischer Schokoladenlikör, schwedische Fischkonserven und namibisches Trockenfleisch. Es wäre also durchaus möglich gewesen, dass er auch eine Flasche Aquavit hätte finden können, nur war Gesomina in Eile.
»Sie backen, ja?«, fragte Herr Dong, als sie bezahlte.
»Ja, ja«, sagte sie nur und packte die Zutaten eilig in ihren Beutel. »Ich muss mich beeilen. Ich bin sehr spät dran.«
Zurück auf der Straße, wollte Gesomina ihr Glück in der Bar Centrale versuchen. Das vor wenigen Monaten eröffnete Kneipencafe an der gegenüberliegenden Straßenecke hatte aber wie so oft geschlossen. Sie legte die Stirn ans Fenster und schirmte ihre Augen mit den Händen ab, um bis in das Hinterzimmer zu sehen. Dort hatten die beiden bärtigen Kneipiers, Milan und Robert, ihr Büro, in dem sie zusätzlich als Graphiker arbeiteten.
Die beiden jungen Männer hatten sich von der günstigen Miete herlocken lassen, was sie längst bereuten, so selten kam jemand in ihren Laden, der zuvor von einem Trödler als Lager genutzt worden war. Von außerhalb kam ohnehin so gut wie niemand in die Straße. In den großen und lange nicht gestrichenen Mietshäusern, ihren Seitenflügeln und Hinterhäusern wohnten zwar mehrere hundert Menschen, aber nur wer Arbeit oder einen Hund hatte, lief regelmäßig den breiten Gehweg entlang - und an der Bar vorbei. Vergnügen und Unterhaltung suchte man woanders. Kaffee und Bier gab es zu Hause vor dem Fernseher. Jetzt in den Sommerferien war die Straße wie ausgestorben, tot, bis auf die wenigen Läden, die sich noch halten konnten - das nächste Shopping-Center war nicht fern.
Da sich auch nach mehrfachem Klopfen niemand rührte, gab Gesomina es seufzend auf und lief die ganze Straße zurück, an Tom Spencers Laden und am Salon von Frisör Ergün vorbei, die zu ihrem Glück beide gerade beschäftigt waren. So schaffte sie es zum Weinladen am anderen Ende der Straße, ohne noch einmal aufgehalten zu werden.
Gesomina fragte die Weinhändlerin Julika gleich nach dem Aquavit.
»Für die Quatschlappen, für meinen Jungen«, sagte sie.
»Quatschlappen? Für Ihren Jungen?«
Gesomina erklärte ihr, dass sie früher schon für den Jungen gebacken habe, obwohl seine Mutter das nicht gerne sah, so viel Zucker und Fett und weißes Mehl, vom Schnaps ganz zu schweigen. Als er zu sprechen anfing, hatte er wissen wollen, wie das Gebäck hieß, das man in Italien mal cenci mal chiacchiere nannte, kleine Lappen aus frittiertem Teig oder ein gepuderzuckerter Quatsch für zwischendurch, klassisches Karnevalsgebäck, das schon die alten Römer kannten. Nachdem sie ihm das erklärt hatte, habe der Junge nur noch von seinen Quatschlappen geredet.
»Wirklich?«, fragte Julika, überrascht von Gesominas Redseligkeit. »Ich wusste gar nicht, dass Sie Enkel haben.«
»Wer sagt das denn?«, fragte Gesomina.
»Ich weiß nicht«, sagte Julika. »Sie sagten doch, dass Sie für Ihren Jungen backen.«
Gesomina schüttelte den Kopf und zahlte. Sie redete nur selten von sich und wollte erst recht nicht, dass über sie geredet wurde. Auch jetzt hatte sie weder Lust noch Zeit, Julika von Jona zu erzählen, und eilte aus dem Laden, in Gedanken schon in ihrer Küche. Da sie alle Zutaten hatte, musste sie schnell nach Hause.
Sie vergaß, die Straßenseite rechtzeitig zu wechseln.
»Signora!«, rief Herr Ergün, der keinen Kunden mehr hatte und neben ihr herlief. »Jetzt weiß ich es!«
»Was wissen Sie?«, fragte sie, ohne stehen zu bleiben.
»Warum Sie nicht schön sein wollen!«
»Wie bitte?«
»Ja! Ihre Haare, warum sie die rasieren! Sie sind eine Nonne!«
»Geht es Ihnen noch gut?«, fragte sie und blieb widerwillig am Bordstein stehen. »Haben Sie Haarwasser getrunken? Was fällt Ihnen denn ein?«
»Entschuldigen Sie, das war nicht persönlich gemeint. Aber ich habe einen Bericht gesehen. Über ein Kloster in Tibet und diesen Dalai Lama. Geben Sie es zu, Sie sind eine buddhistische Nonne! Ich sage es auch keinem weiter.«
Gesomina lachte laut auf, so absurd war die Idee.
»Eine Nonna vielleicht«, sagte sie dann. »Eine Ersatz-Nonna, da haben Sie allerdings recht.«
»Na, sehen Sie!«, rief Herr Ergün begeistert.
Gesomina ließ ihn einfach stehen und eilte nach Hause. Sie war verwirrt und wütend, was diese Leute sich einbildeten, so mit ihr zu reden. In ihrem Leben herumzuschnüffeln. Aber sie hatte die Weinhändlerin selbst auf den Gedanken gebracht, und es war ja auch nicht verwerflich, sie für eine Mutter zu halten. Sie konnte schließlich nicht wissen, was mit ihrem Kind geschehen war. Das ging niemanden etwas an. Darüber sprach sie fast nie....