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Die Soziologie trat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus bereits früh wieder öffentlich in Erscheinung. Diese Tatsache darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das soziologische Feld in seiner Form und seinen Grenzen unscharf war und während der Besatzungsherrschaft und noch in den ersten Jahren der Bundesrepublik eine Phase der Neukonstituierung durchlief (vgl. Rammstedt 1998).
Dabei sind analytisch drei Subfelder voneinander zu unterscheiden, die sich zwar teilweise überschnitten und gegenseitig beeinflussten, die sich aber dennoch in relativer Autonomie voneinander entwickelten: Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, die Soziologie als universitäre Disziplin und schließlich die empirische Sozialforschung, die sowohl in universitären als auch in außeruniversitären Einrichtungen institutionalisiert wurde.32 Die Auseinandersetzungen mit und um den Nationalsozialismus in diesen drei Subfeldern sind Gegenstand der Kapitel II.1, II.3 und II.5. Der betrachtete Zeitraum erstreckt sich von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis ins letzte Drittel der 1950er Jahre. Damit umfasst er die zehn Jahre währende restaurative Ära des DGS-Vorsitzenden Leopold von Wiese, die Einleitung verbandsinterner Reformen unter dem nachfolgenden Vorsitzenden Helmuth Plessner, die Etablierung soziologischer Diplomstudiengänge - mithin die Fundierung der Soziologie als akademische Disziplin - sowie die Entstehung und Publikation der wegweisenden Werke der >Gründerzeit< der westdeutschen empirischen Sozialforschung. Herrschaft und Zusammenbruch des Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und seine Folgen und die Entwicklung der Soziologie zwischen 1933 und 1945 bildeten unweigerlich zentrale Referenzpunkte für alle an diesen Prozessen beteiligten Akteure. Die Folgen und Wirkungen des Nationalsozialismus wurden auf verschiedenen Ebenen - personell, institutionell, in Bezug auf die Wissenschaftsgestalt der Soziologie sowie auf ihre Gegenstände - virulent; über den Umgang damit herrschte allerdings keine Einigkeit. Die darauf bezogenen Diskurse verdichteten sich schnell zu Konflikten, die die Entwicklung des soziologischen Feldes in der Folgezeit maßgeblich prägen sollten.
Zudem war die Soziologie auch Teil des intellektuellen Feldes. SoziologInnen waren an der Diskussion um die politische, kulturelle und intellektuelle Begründung der Bundesrepublik in vielfältiger Weise beteiligt. Daher nehme ich in Kapitel II.4 Beiträge von SoziologInnen in den politisch-kulturellen Zeitschriften aus dem Nachkriegsjahrzehnt in den Blick. Hier wurde die Frage nach dem Verhältnis von westdeutscher Gesellschaft und Nationalsozialismus stetig verhandelt. Die Beteiligung von SoziologInnen an dieser Debatte hat bisher kaum Beachtung gefunden.
Darüber hinaus diskutiere ich in Kapitel II.2 das Bild, das sich amerikanische SozialwissenschaftlerInnen von der Schlussphase des Krieges bis ins erste Nachkriegsjahrzehnt bei Aufenthalten in Westdeutschland von der dortigen Gesellschaft und ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus machten. Viele dieser SozialwissenschaftlerInnen waren selbst an der Neukonstituierung des soziologischen Feldes in Westdeutschland beteiligt. Zudem bieten ihre Beschreibungen einen aufschlussreichen Kontrast zu den westdeutschen Selbstbeschreibungen in der Phase des Zusammenbruchs des Nationalsozialismus und der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Für die schnelle Neukonstituierung der Soziologie und ihr öffentliches Auftreten war die Unterstützung durch die alliierten Besatzungsmächte entscheidend. Die Alliierten stimmten in ihren Planungen für das besiegte Deutschland weitgehend überein und in der unmittelbaren Nachkriegszeit überwogen diese Gemeinsamkeiten auch in der Umsetzung ihrer Besatzungspolitik, wenngleich die Grundlage für die später zunehmenden Differenzen zwischen den westlichen Besatzungsmächten und der Sowjetunion bereits gelegt war (vgl. Herbert 2014: 557 ff.). Das übergeordnete Ziel der Alliierten war »eine grundlegende Umgestaltung der deutschen Gesellschaft« (ebd.: 563), die sich »auf fünf zentrale Bereiche [bezog]: die Zerschlagung des Militärs, die Bestrafung der für den Nationalsozialismus und seine Verbrechen Verantwortlichen, die Reform der Wirtschaftsstruktur, den Neuaufbau des politischen Lebens sowie die Demokratisierung der Gesellschaft« (ebd.: 563 f.). Für die Westalliierten bilanziert Herbert, dass sie ihre Planungen nur zum Teil umsetzten, wobei die ersten Monate der Besatzungszeit entscheidend waren: Wo in dieser Zeit noch keine Weichen gestellt waren, da war Veränderung später - im Zeichen des Kalten Krieges und der Einbindung Westdeutschlands in die Blockkonfrontation - kaum noch möglich (vgl. ebd.: 580). Vor diesem Hintergrund zeigt sich für die Hochschulen ein widersprüchliches Bild. Sie wurden, wie alle Bildungseinrichtungen, zunächst geschlossen und blieben dies auch verhältnismäßig lange (vgl. Gerhardt 2005: 109). Aber die ambitionierten Reformpläne der Westalliierten scheiterten an ihren sich schnell verändernden Prioritäten im Kontext des heraufziehenden Kalten Krieges sowie am Widerstand der konservativen Ordinarien. Die Entnazifizierung wurde hier anfangs noch rigoroser durchgeführt als in anderen gesellschaftlichen Bereichen, im Laufe der 1950er Jahre allerdings fast vollständig rückgängig gemacht, so dass die personellen Kontinuitäten mittelfristig sehr groß waren (vgl. Herbert 2014: 566 f., 578; Klingemann 2008: 3343; Schildt/Siegfried 2009: 48, 54 ff.). Dennoch hielten vor allem die USA, deren Politik für die Entwicklungen im Wissenschafts- und Bildungsbereich schnell maßgeblich wurde (vgl. Weyer 1984: 308 ff.), an den Zielsetzungen der Reeducation bzw. Reorientation und damit der gesellschaftlichen Demokratisierung fest.33 Demokratisierung meinte dabei vor allem die »Aneignung demokratischer Ordnung als Lebensform und politischer Kultur« (Fröhlich 2009: 105).
Der Idee der Reeducation lag eine Übertragung psychiatrischer Diagnosen auf die Nation Deutschland zugrunde: Der Psychiater Richard Brickner hatte den Deutschen 1943 in einem viel diskutierten Buch eine kollektive Paranoia diagnostiziert. Der Schlüssel zur erfolgreichen Therapie sei, so sein Argument, die gesunden Anteile der Nation zu stärken. Damit übertrug Brickner ein individualpsychologisches Konzept auf die Nation. Dieser Ansatz bedeutete, die nicht-paranoiden, also die nicht- bzw. antinationalsozialistischen Deutschen zu identifizieren, zu unterstützen und gesellschaftliche Schlüsselpositionen mit ihnen zu besetzen (vgl. Gerhardt 2007: 63 ff., 82 ff.). Sodann ging es darum, insbesondere die »Jugend und die meinungsbildenden, gebildeten Schichten« zu erreichen (Schildt/Siegfried 2009: 45). In dieser Konzeption war der Soziologie eine zentrale Rolle zugedacht (vgl. Borggräfe/Schnitzler 2014: 459), nicht zuletzt, weil sie den Alliierten als unbelastet galt (vgl. Rammstedt 1998: 253 f.). Sie sollte bei der Herausbildung demokratischer Einstellungen - zunächst, aber nicht ausschließlich, bei den Studierenden - mitwirken, Personal für den demokratischen Staat ausbilden und anwendbares Wissen zur Bewältigung der Kriegsfolgen und massiven sozialen Probleme der Nachkriegsgesellschaft bereitstellen (vgl. ebd.: 253, 259).
Die Soziologie hatte nicht nur einen zentralen Platz in der Reeducation-Konzeption der Alliierten, ihr kam auch zugute, dass zwei Offiziere der amerikanischen Militärregierung selbst SoziologInnen waren. Davon profitierte vor allem die DGS, denn beide waren persönlich mit Leopold von Wiese bekannt (vgl. Weyer 1986: 282 ff.). Der erste war der in Harvard lehrende Parsons-Schüler Edward Y. Hartshorne, der über die deutschen Universitäten im Nationalsozialismus promoviert und sich über zehn Jahre lang intensiv wissenschaftlich und politisch mit dem Nationalsozialismus befasst hatte. Er war...
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