Schweitzer Fachinformationen
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»Warum soll ich das alles erzählen? Wen interessiert das? Sagen Sie . Was soll das Aufnahmegerät? Sind wir hier im Fernsehen?«
»Samy, ich bin's, Hana, Mamas Freundin.«
»Mama?«
»Ich bin's, Hana. Olgas Freundin.«
»Zuerst Angelika, dann Hana. Was wollen Sie von mir?«
»Ich möchte dir helfen.«
»Ich brauche deine Hilfe nicht. Geh weg.«
»Durch das Erzählen wirst du dich erinnern.«
»Erinnern?« Samy dreht den Kopf zum Fenster und schweigt.
*
Als er klein war, war alles gut. Er lag im Kinderwagen, hob seine Hände hoch, spielte mit den Fingern, steckte den Daumen in den Mund. Der Daumen schmeckte süß, seine Mama lachte ihn an, sie war schön und sie duftete nach Milch, mit der sie ihn nährte. Alle fanden ihn entzückend. »Schau dir nur die süßen Fingerchen und die kleinen Füßchen an«, sagten sie, sie schnitten Grimassen, schepperten mit der Rassel, ließen Kasperl und eine Armee von Stofftieren vor seinen Augen tanzen. Die Welt rund um ihn war in Ordnung. Doch irgendwann war er größer geworden, und keiner brachte ihm mehr Spielsachen und Süßigkeiten. Die Erwachsenen auf der Straße drehten sich nach ihm um und beobachteten ihn, und er erkannte, dass er anders als die anderen aussah, andere Haare, Augen und Gliedmaßen hatte, dass er ein Außenseiter war. Aber das alles war an Mutters Hand noch leicht zu ertragen.
Der wirkliche Stress begann, als er etwa fünf Jahre alt war. Im Kindergarten. Er hatte dichtes, glänzendes Haar und auffallend dunkle Augen, und Harry fragte ihn wie aus heiterem Himmel: »Und wo ist deine Fiedel?« Und auch die anderen Kinder begannen zu schreien: »Ätsch, pätsch, Fiedelmacher, Fiedelspieler! Fiedlimidli! Fiedlimidli!«
»Welche Fiedel?«, fragte Samy verblüfft. »Ich habe keine Fiedel. Was ist das eigentlich?« Doch Harry gab keine Ruhe: »Sicher, alle Zigeuner haben eine Fiedel. Ich hab es im Fernsehen gesehen, und auch mein Papa hat es gesagt. Jeder Zigeuner wird mit einer Fiedel in der Hand geboren.«
»Was für eine Fiedel?«, ärgerte sich der kleine Junge. »Was redest du denn da für einen Mist?« Und da ist auch schon die Faust gegen sein Kinn geflogen.
»Ich rede keinen Mist, du dreckiger Zigeuner«, zischte Harry, der bis dahin sein bester Freund gewesen war.
»Zigeuner? Wie kommst du darauf?«
Samy war das einzige dunkelhäutige Kind im Kindergarten und lernte dort die ersten Regeln des friedlichen Miteinanders kennen - Fäuste. Er war größer als sie, aber sie waren viele. Und er war - ganz allein.
Und auch die Kindergartentante goss andauernd Öl ins Feuer. »Kinder, die Menschen anderer Rassen sind oft größer als wir. Deswegen ist auch Samy so groß, als ob er schon in die Schule ginge.«
Das war natürlich Wasser auf Harrys Mühlen: »Sind die Menschen anderer Rassen so stark wie Pferde?«, säuselte er scheinheilig.
»Sicher nicht«, sagte Timo. »Die dunklen Menschen kann man verhauen, aber die Pferde nicht.«
»Ich habe zu Hause eine schwarze Puppe, sie heißt Schokolina«, sagte eines der Mädchen.
Was für ein dummes Gerede! Samy hatte es damals noch gar nicht richtig mitbekommen, dass er anders als die anderen war, aber sie zeigten mit dem Finger auf ihn. Sie taten es immer und immer wieder, und dann sah er es selbst im Spiegel: ein dunkles, fast schwarzes Kind, ähnlich den Kindern aus Afrika, die er im Fernsehen sah, aber doch ein bisschen anders.
Samy sperrte sich im Badezimmer ein und wusch sich. Er seifte seinen ganzen Körper ein, sah mit dem vielen Schaum wie ein riesiger Schneeball aus, aber als er sich unter die Dusche stellte, war es vorbei mit der weißen Pracht. Er war weiterhin sehr dunkel, fast so dunkel wie die Nacht.
Und die lästigen Fragen im Kindergarten hörten nicht auf. »Tante, warum hat Samy so eine dunkle Haut und nicht eine rosige wie wir?«, fragte Janeta. Und die Kindergärtnerin konnte ihr keine Antwort geben. »Na ja . vielleicht . ich weiß wirklich nicht, warum«, stammelte sie. »Frag mich morgen, heute müssen wir noch singen.« Und sie begann auch gleich: »Hänschen klein, ging allein .« Irgendetwas an Samy war ihr peinlich. Was konnte aber an einer Haut peinlich sein? Haut ist Haut.
Da war ein Mädchen im Kindergarten, Julia hieß sie, sie war sehr schön und hatte lange honigblonde Haare, die in Locken auf ihre Schultern fielen. Und sie hatte blaue Augen, die waren so blau wie der Himmel über der Stadt. Samy war von Anfang an in sie verliebt und wollte nur mit ihr spielen, was auch Julia gefiel. Deshalb war sie auch immer in seiner Nähe. Sie hatten zusammen aus Bauklötzen den größten Turm gebaut. Sie nannten ihn Kreml, und er fiel, weil er viel zu hoch geraten war, irgendwann in sich zusammen. Das machte ihnen aber nichts aus, denn sie bauten ihn am nächsten Tag wieder auf.
Einmal spielten sie, dass sie Pioniere wären. Mit einem roten Tuch, das sie sich um den Hals, wie sie es bei den Schulkindern sahen, gebunden hatten. Und dann salutierten sie vor den Autos, die am Zaun des Kindergartens vorbeifuhren. Es war sehr schön mit Julia.
Harry war der Anführer der Kindergartengang. Er bestimmte, welche Spiele die Kinder spielten, wer Gewinner und wer Verlierer war, wen die Kinder fesseln und quälen sollten, aber vor allem, wer zu der Gang gehörte und wer nicht. Samy gehörte auf einmal nicht mehr dazu.
Eines Tages lauerten sie ihm dann vor dem Haus auf und schlugen ihn alle zusammen, ohne ersichtlichen Grund. Harry, Denis, Juro, Marek . Sie waren damals noch sehr klein, aber die Schläge hatten ihre Wirkung. Als Samy mit zerrissenem Hemd und einer Beule auf dem Kopf nach Hause kam, rief Olga, seine Mama, die Eltern der Jungen an, stritt mit ihnen und drohte mit einer Anzeige, aber ein paar Tage später passierte es wieder. Die Mutter nahm ihn dann in den Arm, streichelte und tröstete ihn: »Weine nicht, mein Kleiner. Sie werden es nicht mehr tun. Sie werden es nicht mehr tun, und weil du ein lieber kleiner Junge bist, werden sie dich irgendwann gern haben. So wie ich dich gern habe.«
»Aber ich bin schwarz, Mama.«
»Du bist nicht schwarz, sondern braun. So wie Milchkaffee. Das ist ein großer Unterschied.«
»Nein, Mama, ich bin fast schwarz.«
»Das stimmt doch gar nicht. Du bist fast weiß, aber du hast einen etwas dunkleren Teint.«
»Ich bin schwarz. Warum bin ich schwarz, Mama?«
»Du bist doch weiß. Schaue dich nur im Spiegel an. Deine Haut ist so schön, so seidig.«
»Mama, ich bin schwarz wie Kohle.«
»Samy, du bist nicht schwarz. Du bist Österreicher.«
»Sind alle Österreicher so dunkel wie ich?«, fragte er in seiner kindlichen Naivität.
»Nein, nicht alle, aber einige schon.«
»Wie viele?« Samy begann auf den Fingern die dunklen Österreicher, die er kannte, abzuzählen, kam aber nur auf einen.
Olga hatte immer konsequent gelogen, wenn es um die Hautfarbe ihres Sohnes ging. Wenn keiner mit ihm spielen wollte, weil er »schmutzig« war, sagte sie, dass nicht er, sondern die anderen anders seien. Und dass er mit Harry spielen solle, der sei auch Österreicher. Aber Harry ist weiß. Sein Vater ist weiß. Und sein Großvater ist auch weiß. Alle in Harrys Familie sind weiß. Ja sicher, auch Samys Großvater, der Vater seiner Mutter, ist weiß, seine Großmutter und seine Urgroßmutter, alle sind oder waren weiß, nur sie schämen sich für ihn . weil sein Vater. ein Österreicher ist. Ein gottverdammter Neuösterreicher, dessen Vorfahren weiß Gott woher stammen. Sie sind bestimmt aus den tropischen Urwäldern gekommen, dachte Samy damals, und waren fast nackt, nur mit einem Lendenschutz bekleidet, und haben sich von dem, was der Wald bot, ernährt.
Auch darüber wusste die Kindergartentante Bescheid: »Kinder, die meisten schwarzen Menschen sind muskulöser als wir.«
»Arnold Schwarzenegger hat noch mehr Muskeln«, rief Timo. »Die schwarzen Menschen sind, verglichen mit ihm, Schwächlinge.«
»Tante, aber ich bin nicht schwarz«, betonte der kleine braune Junge.
»Natürlich bist du schwarz.«, auch die süße Janeta wollte sich wichtig machen, ». auch wenn du ein bisschen hell-schwarz bist.«
»Aber trotzdem bin ich ein Slowake . auch wenn mein Vater .« Aber statt seine Aussage zu bekräftigen, schickte ihn die Tante die Kisten mit den Spielsachen aus dem Nebenzimmer holen. »Weil du so stark bist«, sagte sie. Vielleicht meinte sie es als Kompliment, alle kleinen Jungs wollen irgendwann groß und stark werden, nur Samy wollte so sein wie alle anderen auch.
»Ich bin nicht stark«, rief er. »Ich bin Slowake. Ein ganz normaler, schwacher Slowake.«
Ganz am Anfang, als er noch nicht der »Zigeuner« war, hatte es ihm Spaß gemacht, die Kisten mit dem Spielzeug von einem Raum in den anderen zu tragen und hoch oben im Regal zu verstauen, aber dann bemerkte er, dass nur die Kleinen und Schwachen auf dem Schoß der Tante sitzen durften. Deshalb wollte auch er klein und zerbrechlich sein. Es nützte aber nichts. Samy war einen Kopf größer als die Gleichaltrigen. Im Tauziehen gewann immer die Gruppe, in der er war. Das war die einzige Disziplin, wo sie ihn dabei haben wollten. Und im Fußball.
Und auch Harry erinnerte ihn ständig an seinen Makel: »Mein Papa hat gesagt, dass die Zigeuner Abschaum sind. Und du bist auch einer von ihnen, deshalb bist du auch Abschaum.
»Rede keinen Blödsinn«, mischte sich Julia in die Unterhaltung ein. Sie legte demonstrativ ihren Arm...
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