Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Es sind die Schreie, die dir in deiner ersten Nacht im Gefängnis am meisten zusetzen.
Schreie, die klingen, als ob jemand Schmerzen hätte. Als ob jemand Hilfe bräuchte. Als ob jemand stirbt.
Man weiß nicht, woher sie kommen, sie sind einfach da, irgendwo dort draußen. In den Lücken zwischen dem grellen Neonlicht der Korridore und der Dunkelheit der Zellen. Irgendwo jenseits der verschlossenen Stahltüren und Suizidnetze. Widerhallend von den dicken Backsteinmauern, hohen viktorianischen Deckengewölben und Gitterstäben aus Eisen. Sie kommen durch die kalte Nacht. Sie kommen, um dich zu holen.
Geräusche spielten in meinem Leben stets eine entscheidende Rolle. Die Stille, in der man eine Stecknadel fallen hört, und der explosionsartige Beifall. Das elastische Ploppen eines Volleys und das Schnappen einer Netzschnur. Das Rutschen weißer Schuhe auf grünem Gras, klickende Kameraauslöser und zoomende Objektive.
Du stehst an der Grundlinie des Centre Court und bist der Dirigent von alldem. Du hast die Kontrolle.
Du gibst dem Balljungen ein Zeichen. Fängst den Ball, den er dir zuwirft, mit der linken Hand. Von der Tribüne ruft man dir Mut zu und Hoffnung. Von allen Seiten dein Vorname. Immer nur der Vorname.
Du fährst dir mit der Hand übers Gesicht. Spitzt die Lippen und pustest kühle Luft auf deine feuchten Fingerspitzen.
Es wird vollkommen still. Sechzehntausend Menschen sind an diesem heißen Sonntagnachmittag hier in Südwest-London versammelt, und jeder Einzelne wartet auf das, was du tust. Sie sind nah genug, um die dunklen Schweißflecken auf deinem weißen Shirt und die hellen Grasflecken an deinen Hüften zu sehen. Um über die niedrigen Mauern zu springen, auf dich zuzustürmen und dich unter sich zu begraben.
Stattdessen atmen sie kaum, als du den Ball hochwirfst, die Knie und den Rücken beugst und dich nach vorne wuchtest. Sie atmen kaum, als der weiße Slazenger-Ball die straffen Saiten deines Schlägers dehnt. Atmen kaum, als der Ball durch die warme Sommerluft zischt.
Erst als er auf der anderen Netzseite landet, hört man sie wieder. Als er vom Rand des gegnerischen Schlägers abprallt und über die Seitenlinie schnellt. Als deine Arme nach oben schießen, deine Füße einen kleinen, zuckenden Tanz aufführen und du den Kopf nach hinten wirfst, zum blauen Himmel über dir.
Dann bricht es los. Der Lärm ist so gewaltig, dass du ihn in der Brust und im Kopf spürst. Er tut weh. Er macht dir fast Angst. Aber eben nur fast, weil du genau weißt:
Das habe ich getan. Ich habe es erschaffen. Ich kontrolliere dies alles.
Das Getöse hält nie lange an in Wimbledon. Es entweicht nach oben, vorbei an den alten Holzsparren und dem dunkelgrün gestrichenen Dach. Es verwandelt sich allmählich von wildem Jubel zu donnernden Applauswellen, die über die Gänge und Sitzreihen fluten.
Wenn du im nächsten Sommer zurückkehrst, fühlt es sich vertraut an. Die Gänge und Trainingsplätze sind fast schon so etwas wie Heimat, und du lässt dich erneut auf den Rhythmus und die Routine der vierzehn Tage ein, stehst spät auf und spazierst die Church Road hinunter, wo du angestarrt und angelächelt und dann von Polizisten durchgewinkt wirst. Die Umkleideräume und die Members' Lounge, die Ehrentafel der Champions, denen du zugeschaut, gegen die du gespielt und nun gewonnen hast. Die Zeilen aus Rudyard Kiplings Gedicht If, die über dem Spielereingang zum Centre Court stehen: If you can meet with Triumph and Disaster / And treat those two impostors just the same. (Wenn du Triumph und Niederlage erleben / Und beide Blender gleich behandeln kannst.) Eine Aufforderung, ein Schlachtruf.
Es ist dein Soundtrack und deine Welt. Als Spieler kennst du den Unterschied zwischen den »Ooh«-Rufen, die einem hektischen Vorhand-Return in einem langen Ballwechsel gelten, und denen, wenn du ausrutschst und dich wieder aufrappelst. Zwischen dem Keuchen, wenn du voll ausgestreckt einem Rückhand-Halbvolley entgegenhechtest, und dem der Ungläubigkeit, wenn du ihn in einem unmöglichen Winkel über das Netz zurückschlägst, der Backspin greift und der Ball dort liegen bleibt, wo er gelandet ist.
Ich hätte nie gedacht, dass irgendwann das Gefängnis meine Welt sein würde. Aber jetzt bin ich hier, im HMP Wandsworth - HMP, diese merkwürdige und grausame britische Abkürzung für Her Majesty's Prison, das Gefängnis Ihrer Majestät. Die nächste Zeit werde ich hier verbringen, und nichts habe ich mehr unter Kontrolle.
Ich kann nicht einfach gehen. Ich kann den Lärm nicht ausschalten. Und nichts von alldem ergibt irgendeinen Sinn, denn ich bin verloren, hilflos, und die bisherigen Regeln gelten nicht mehr.
Das Wandsworth-Gefängnis ist ungefähr drei Kilometer vom Centre Court in Wimbledon entfernt. Die Postleitzahlen der beiden Orte, SW19 und SW18, trennt nur eine einzige Ziffer - und doch liegt zwischen ihnen eine unfassbare Distanz.
Vielleicht noch schlimmer als die Schreie selbst, die in dieser kalten Zelle widerhallen, mit ihrem Schimmel, der dreckigen Toilettenschüssel und der defekten Türluke, ist es, nicht den Grund dafür zu kennen.
Haben diese Männer Albträume, oder sind sie wütend? Sind ihre Verletzungen real oder eingebildet, werden sie angegriffen, oder attackieren sie sich selbst?
Außer Kontrolle, außer Reichweite. Es gibt verschiedene Arten von Schreien. Manche sind ein unablässiges Wehklagen, andere ein ständiges Auf und Ab, mit Höhen und Tiefen. Manche klingen schluchzend und selbstmitleidig, andere entfesselt und wütend. Manchmal verstummt alles, dann hat man eine Minute Ruhe und fragt sich, warum, bevor es wieder von vorn losgeht. Manchmal ist es auch zehn Minuten lang still, dann geht man zurück zu seiner Pritsche mit der dünnen Decke und versucht, seinen Körper an die seltsamen Konturen und Abmessungen einer Matratze anzupassen, die von hundert Fremden vor einem geformt wurde.
Aber immer beginnt es wieder von Neuem, und jedes Mal geht dann etwas anderes los. Geschrei aus anderen Zellen.
- Halt die Fresse!
Schläge gegen Türen. Hip-Hop-Beats aus der Ferne. Stöhnen, Drohungen und Racheschwüre.
Je mehr geschrien wird, desto lauter schreien die anderen zurück. Ein endloser Ballwechsel zwischen Gegnern, die einander nicht sehen können, sich aber trotzdem gegenseitig vernichten wollen.
Also gerate ich in Panik und rufe selbst etwas.
- Ist da jemand? Hört ihr das denn nicht? Kann nicht irgendjemand helfen?
Du drückst den Notfallknopf an deiner Wand. Die »Listener« lassen sich Zeit, aber schließlich kommt jemand an deine Tür. Er schiebt die Metallplatte vor dem Sicherheitsgitter zurück und starrt dich an. Ich werde später genauer erklären, wer diese Listener sind. Wenn du zum ersten Mal eingelocht bist, dann retten sie dich manchmal. Sie helfen dir, Teile dieser neuen Welt zu verstehen, dieser neuen Art des komprimierten Lebens. Aber in diesem Augenblick retten sie dich nicht. Sie können es nicht. Denn das ist nun mal die Situation. Ich erlebe hier meine Taufe und gleichzeitig meine Grundausbildung.
Du schnauzt diesen Typen an, bist selbst kurz vorm Ausrasten. Ein paar tiefe Atemzüge entfernt von allem.
- Da bringt sich einer um! Jemand stirbt!
Und der Listener sieht dich an, gänzlich unbeeindruckt, weil er das alles schon kennt, und komplett ungerührt, weil er es jede Nacht hört. Und das sagt er dir auch.
- Gewöhn dich dran. Das geht die ganze Nacht so.
- Aber was ist da los? Kann nicht jemand nachsehen?
- Die einen sind verrückt, und die anderen wollen nur Aufmerksamkeit. Kommt aufs selbe raus, Kumpel. Und mach dir bloß keine Hoffnungen, wenn sie aufhören. Die fangen schnell wieder an.
Du fragst ihn, wie du dabei einschlafen sollst. Da denkst du noch, dass jemand das alles hier in Ordnung bringen wird.
Und dann sagen sie es dir. Du wirst in deiner ersten Nacht nicht einschlafen. Und morgen auch nicht. In drei Tagen? Da schläfst du vielleicht ein bisschen. In vier Tagen? Wirst du so müde sein, dass du vielleicht bis Mitternacht durchhältst. In der fünften Nacht hörst du die Schreie nicht mehr.
Du sitzt also auf deiner Pritsche, und tausend Gedanken schwirren dir im Kopf herum. Wenn ich das hier erzähle, glaubt mir keiner. Das ist Folter. Das kann man nicht überleben.
Ich sitze mit einem Haufen Psychopathen in einem Käfig. Ich bin allein und verloren. Ich bin eine Nummer, die keiner kennt.
Eigentlich hat diese Geschichte schon lange zuvor begonnen. Und zwar am 7. Juli 1985 auf jenem Rasenplatz im Südwesten Londons, mit jenem Aufschlag weit raus auf Kevin Currens Rückhand. Mit allem, was das bedeutete und danach für mich folgte.
Warum aber saß ich am 29. April 2022 im Southwark Crown Court auf der Anklagebank? Weil ich Fehler gemacht habe und Dinge falsch eingeschätzt, einiges davon habe ich schnell begriffen, anderes hingegen erst, als es zu spät war. Nur wäre nichts von alldem passiert, hätte ich nicht mit siebzehn Jahren Wimbledon gewonnen. Dieser Moment veränderte alles. In diesem Moment wurde mein Weg...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.