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Die antike Welt ist in großem Umfang eine höchst produktive und verzweigt organisierte Briefschreibkultur. Im vorliegenden Handbuch Brief: Antike beleuchten mehr als 70 international führende Forscher und Forscherinnen antike Briefe, Briefschreiber und Brieftypen in ihren jeweiligen literarischen, sozialen und infrastrukturellen Zusammenhängen. Dabei werden aktuelle Fragen einer transepochalen Briefforschung auf die antiken Briefe, Briefcorpora und Briefautoren so übertragen, dass einerseits antike Briefe im Lichte neuester Forschungsfragen erschlossen werden und andererseits die fundierende Bedeutung der antiken Epistolographie für die Geschichte der Briefschreibkultur bis in die Gegenwart deutlich wird: Was weist einen Brief in seiner Medialität und Materialität als 'Brief' aus? Wie kann der Brief - schon in der Antike - Distanz zwischen Personen oder über Raum und Zeit hinweg regulieren? Welche Funktion haben Corpusbildungen? Was macht das antike 'Briefschreibbewusstsein' aus? Welche konzeptionelle Variabilität ermöglichte der Brief? Wer definierte, wann und was einen Brief zu einem 'Brief' machte und wo das Briefformat konzeptionell an seine Grenzen stieß? So kann das Handbuch Brief: Antike einen Beitrag zur möglichen Revision einer transepochalen Beschreibungssprache in der Briefforschung leisten: Welche Einsichten auf Wesen, Form und Funktion des Briefes ergeben sich aus der antiken Epistolographie? Welche Forschungsstrategien sind angezeigt, und welche zusätzlichen Daten (Metadaten) werden benötigt, um die Verfügbarkeit, Verbreitung, Vernetzung und Verdichtung von Briefproduktion und -rezeption in der antiken Welt zu untersuchen und abzubilden?
Aus altphilologischer Perspektive stellt der antike Brief eine Herausforderung dar. Denn uneins ist sich die Forschung bereits darin, mit welchem Verfahren, ja ob überhaupt eine angemessene Definition für den Brief zu finden ist. Methodisch derart grundlegend ansetzende Arbeiten wie Schwitter (2018) und Rühl (2018) greifen hierzu in gut altphilologischer Tradition zunächst auf antike Zeugnisse zurück, etwa auf Demetrius' Bezeichnung des Briefs als der Hälfte eines Dialogs (Eloc. 223-224; II.B.1) oder auf Augustinus, der seine Gattungsbestimmung auf die persönliche Adressierung im Briefkopf gründet (Retract. 2,20; IV.C.35). Beide bewerten diese antiken Definitionen dann aber als unvollständig oder zu unspezifisch.
Alternativ orientieren sich Altphilolog*innen gerne an Vorschlägen der Neueren Philologien, die sich oft schon früher und zumeist auch auf einer theoretischeren Ebene als die textnah arbeitende Altphilologie mit demselben Problem auseinandergesetzt haben. Bevorzugte Bezugspunkte der altphilologischen Briefforschung sind die Arbeiten von Altman (1982) (s.?u. Unterabschnitt '"Brieflichkeit" und [fiktionale] Erzählung') und Nickisch (1991): Letzterer definiert den Brief als ein "Redesubstitut zum Zweck des dialogischen Austauschs", das deshalb ein dem jeweiligen kommunikativen Akt entsprechendes, dominantes Merkmal aufweise - die sachorientierte Information, den partnerorientierten Appell oder die selbstorientierte Manifestation (Nickisch 1991, 12). Diese Definition wandelt beispielsweise Schröder (2007, 148-150) so ab, dass sie zur Untergliederung des von ihr untersuchten Briefkorpus des Ennodius nutzbar ist. Gelegentlich werden auch die Kommunikations- und Medienwissenschaften zurate gezogen. Auf diesem Weg kommt etwa Rühl (2018, 8) zu einer Definition, die zwar im Kern noch von antiken brieftheoretischen Reflexionen ausgeht, diese dann aber mit modernen Gattungsvorstellungen abgleicht und modifiziert: Demnach ist der Brief "eine zumeist schriftlich übermittelte Kommunikation zwischen einem Absender und dem räumlich getrennten und explizit adressierten Empfänger".
Doch nicht immer wagen es altphilologische Arbeiten, sich auf eine Definition des Briefs festzulegen. Auch das einfachere Verfahren, das Besondere am Brief mithilfe eines Merkmalkatalogs (wie Trapp 2003, 1) oder von Gegensatzpaaren einzukreisen (so Altman 1982, 186?f.), findet bei einigen Forschern keine Zustimmung, da sie dem vielseitigen und offenen Charakter des Briefs nicht gerecht werde (so Gibson/Morrison 2007). In letzter Konsequenz führt dies in die Aporie, ob der Brief überhaupt als eigenständige Textgattung gelten kann oder nicht eher eine Textsorte ist, deren einzig unstrittiges Merkmal ihre nahezu unbegrenzte Wandelbarkeit ist. Diese Überlegung bringt Derrida (1980, 54) provokant auf den Punkt: "Le mélange, c'est la lettre, l'épître, qui n'est pas un genre mais tous les genres, la littérature même."
So wichtig, ja unverzichtbar das Bemühen um die 'richtige' Definition und Einordnung des Briefs auch scheinen mag, ist es doch nicht das primäre Problem, das die altphilologische Briefforschung seit ihren Anfängen am meisten beschäftigt: Wie sich noch zeigen wird (s.?u. Abschnitt 'Etappen der altphilologischen Briefforschung bis zur Jahrtausendwende'), zeichnet sich die Frage nach dem spezifischen Profil der Gattung 'Brief' erst ab den 80er-Jahren des 20. Jh. als Forschungsfrage ab und gewinnt dann - offenkundig unter dem Druck der neuphilologischen Briefforschung - zunehmend an Raum. Vor den 80er-Jahren publizierte Arbeiten setzen dagegen, gestützt auf die griechischen und römischen 'Brieftheoretiker', als gegeben voraus, dass der Brief eine eigenständige Textform ist und schon in der Antike als ebensolche wahrgenommen wurde. Was stattdessen immer wieder aufs Neue am Brief diskutiert wird, ist der Grad seiner Literarizität. In der Tat ist die Klärung dieser Frage gerade für die Altphilologie von essenzieller Bedeutung. Denn als literaturwissenschaftliche Disziplin ist sie (zumindest vorrangig) auf literarische Texte fokussiert. Dementsprechend zeigt sie sich primär am literarischen Brief interessiert.
Eine solch klare Schwerpunktsetzung steht in Spannung zur praktischen Seite des Briefs, der als ein typischer Gebrauchstext fest im antiken Alltag und dessen historischen Realitäten verankert ist: Wie etwa die Papyrusfunde aus dem hellenistischen Ägypten ( I.5), die Ostraka ( IV.A.1) oder die Holztäfelchen von Vindolanda ( II.A.5) zeigen, bedarf ein Brief weder einer kunstvollen Formung noch eines literarisch gebildeten Schreibers/Lesers, um seine kommunikative Kernfunktion (= die Vermittlung einer Botschaft an einen abwesenden Empfänger) erfüllen zu können.
Dieses Spannungsfeld bildet daher die Leitkonstante und die zentrale Frage, an der die altphilologische Forschung seit über 100 Jahren arbeitet. Die auf Deissmann zurückgehende Dichotomie von Realbrief und Epistel ( III.9; s.?u. Unterabschnitt 'Die Anfänge im Schatten von Deissmann') wurde dabei zwar vielfach kritisiert und gilt mittlerweile als endgültig überholt; sie lebt aber unterschwellig in der Vorannahme zweier Gegenpole fort (öffentlich - privat; kunstlos - kunstvoll; ans Mündliche angelehnter Gesprächston - stilisierte Schriftsprache). Selbst aktuelle Ansätze, die die alte Dichotomie mit einem flexibleren Modell (Schwitter 2018 in einem Dreischritt; Rühl 2018, 19-27 in einer Skala) zu überwinden suchen, greifen hierfür auf etablierte Begriffe zurück, von denen sie sich zugleich distanzieren.
Gemeinsam ist allen Ansätzen, dass sie Briefe unter literarischen Vorzeichen lesen und sich folgerichtig auf die Briefkorpora und Autoren konzentrieren, an deren Zugehörigkeit zur Literatur kein Zweifel besteht. Diese Beschränkung entspricht der Fachkultur, die sich damit einerseits von den auf die materiellen Realia fokussierten Nachbarwissenschaften, insbesondere der Alten Geschichte ( I.4) und Papyrologie ( I.5), und andererseits von der Theologie in ihren für die Briefforschung besonders relevanten antiken Disziplinen (Neues Testament und Patristik) abgrenzt ( I.2, I.3).
Es überrascht angesichts des Gesagten nicht, dass die altphilologische Forschung für den antiken Brief erst relativ spät ein markantes, fachdisziplinär geschärftes Profil entwickelt hat. Zumal in der ersten Hälfte des 20. Jh. ist die Forschung überschaubar und in vielerlei Hinsicht der historischen und theologischen bzw. antik-christlichen eng verwandt. Methodisch bleibt sie jahrzehntelang auf gattungsgeschichtliche Überblicke, die Bestimmung formaler Briefmerkmale und klassifikatorische Bemühungen begrenzt. Umso bemerkenswerter ist der Aufschwung, den die altphilologische Briefforschung seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts genommen hat - eine Schwungkraft, die sich, wie erwähnt, nicht zuletzt den Impulsen aus den Neuphilologien verdankt und bis heute ungebremst anhält (s.?u. Unterabschnitt 'Narratologische Werklektüre').
Ungeachtet einer zunehmend pluralistischen Briefforschung lassen sich doch einige Schwerpunktsetzungen und Entwicklungslinien ausmachen:
1) So hat sich die altphilologische Briefforschung immer weiter von den Formalia und Realia brieflicher Gebrauchstexte entfernt - eine Entwicklung, die sich aus der Verselbstständigung gegenüber anderen Fachdisziplinen ergibt und mit einer schrittweisen Befreiung von Deissmann einhergeht. Je mehr nun aber die Altphilologie ihre fachkulturell eigenen Zugriffe findet, umso literarischer wird ihre Perspektive auf den Brief: Aktuelle Projekte (s.?u. Unterabschnitte 'Narratologische Werklektüre' und 'Gattungsforschung 2.0') fordern und fördern eine uneingeschränkte Anerkennung der von ihnen untersuchten Briefkorpora als einer literarisch ambitionierten Textsorte, die sowohl mit den Buch- und Werkeditionen der augusteischen Dichter als auch mit kunstreich erzählenden Prosagattungen Schritt halten kann. Methodisch greifen sie vorzugsweise auf literaturwissenschaftliche und -theoretische Modelle zurück, die zumeist den Neuphilologien abgewonnen sind.
2) Seit etwa der Jahrtausendwende ist zudem eine starke Auffächerung der Fragestellungen festzustellen. Verschiedene Ansätze folgen nicht mehr aufeinander in klar unterscheidbaren Wellen, sondern entwickeln sich nun nebeneinander und nahezu gleichzeitig. Daher fällt es schwer, die Strömungen zeitlich zu ordnen. Dies gilt umso mehr, als oft verschiedene theoretische Ansätze miteinander kombiniert werden: Gerade die neuesten Briefprojekte (s.?u. Unterabschnitt 'Narratologische Werklektüre') lassen sich oft unter mehreren 'Dächern' verorten.
3) Drittens hat sich der Radius der untersuchten Briefautoren seit der Jahrtausendwende deutlich erweitert:...
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