Schweitzer Fachinformationen
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Eine Vorgeschichte
. eine der Äolischen Inseln.
Heute beginnt die zwölfte Woche, es ist der 1. September. Noch besitze ich meine Uhr, einen Fernseher, das Radio. Und habe geträumt, das Radio mit der Telefonleitung zu koppeln, daraus einen Sender zu erfinden, ich, der noch nie einen Computer angefasst hat, dessen Hirn und Hände keiner geisterhaften Technik gewachsen sind. Das Telefon ist tot. Seit mehr als siebzig Tagen.
Als ich erwachte, war es zu spät gewesen. Ich hatte über den Mittag hinausgeschlafen, in der Sommerhitze, und wunderte mich: der Kopf, verquerer als nach den grausamsten Weinräuschen. Es dauerte, bis ich begriff.
Das Zimmer hat eine Gegensprechanlage. So wird mir das Essen angekündigt. Eine Tür führt auf die Dachterrasse, dort endet der Lift, den schon F., der römische Filmregisseur und Vorbesitzer des Hauses, an den Turm gebaut hat, auf der dem Meer abgewandten Seite. Fischern, die in der Abendröte ausfahren, leuchtet der Turm als bunter Spiegel, er trägt in seinem Verputz tausendfach Splitter aus farbigem Glas, rot, blau, türkis und golden. Wie oft habe ich von hier den Booten zugewunken, habe am Fenster eine Lampe geschwenkt, mit dem Lichtschalter gespielt, an und aus, kurzkurzlang, langlangkurz, in allen mir vorstellbaren Variationen eines Notrufalphabets. Fuchtelnd, winkend schaute ich gegen die untergehende Sonne, und blinkend bis tief in die Nacht sah ich nur die reglosen Schiffsleuchten, kaum mehr zu unterscheiden von den Gestirnen am Horizont. Keines der Boote hat sich je auf Rufweite genähert, so hat das Rauschen der See all meine lächerlichen Schreie verschluckt.
Manchmal phantasiere ich mir ein Ende dieses Rauschens, dann bin ich dem ersten Wahnsinn nah; doch zumeist beruhigt mich der große Einton, ich schlafe längst ohne meine Wachspfröpfchen in den Ohren, Wind und Meer sind meine Helfer gegen das Halspulsen, Kopfsausen, diese unsichtbare Jagd. Nichts macht mehr Angst als das eigene Herz.
Ein schönes Studio. Mit Bad. Die weiß gekalkten Wände zwei Zimmer hoch und Deckenbalken aus Olivenholz, noch jede Hitze frisst sich hier auf halbem Wege satt in den Mauern. Einstmals ein Wehrbau, quadratisch aufgetürmt als Zuflucht vor Piraten und zu hoch, um aus einem der Fenster, um von der Terrasse in den Weingarten oder aufs Dach des angrenzenden Hauses zu springen. Die Tür zur Wendeltreppe im Turm ist mit Eisenriegeln verschlossen. Wenn eine bauernschwarz gekleidete Frau die Räume putzt, meine Bettwäsche wechselt, werde ich von zwei, manchmal drei Wächtern unter einen Sonnenschirm auf die Terrasse geführt. Seit ich einen von denen, die mir mit dem Lift das Essen bringen, am Arm verletzt habe, bekomme ich nur noch Löffel für die Pasta und das Gemüse; Schalentiere serviert man mir bereits geknackt und zerlegt, das Fleisch immer vorgeschnitten. Salat esse ich mit den Händen.
Bis heute grüble ich über den Lift. Er lässt sich allein von unten steuern, von der Bodenstation, und ich stelle mir vor, dass dort am Fuße des Turms nicht Tag und Nacht jemand wacht. Vermutlich existiert jedoch eine elektrische Sicherung, gibt es einen Alarmknopf. Außer mit dem Messer - dilettantisch, in jäher Verzweiflung - habe ich es schon mit Bestechung versucht. Leider spreche ich zu schlecht Italienisch, und diese Diener und Wächter wissen nicht, wer ich bin. Obwohl mein Buch auch in Italien ein Erfolg war. Nur nicht unter äolischen Bauern. Als ich einmal »100 000 Euro per voi!« auf einen Zettel schrieb, hat der Größte von ihnen, ein kurz geschorener Basketballertyp, dessen tintendunkle Augenringe mir jedes Mal wie tätowierte Mondsicheln er scheinen, das Stück Papier einfach durchgerissen. Ohne Hohn, mit einem Lächeln. Und am nächsten Tag gab es kein Essen. Ich habe es des Klimas wegen und weil man mich um fast alle körperliche Bewegung gebracht hat, nicht vermisst.
Überhaupt fürchte ich, fett zu werden, zu fett und nachgiebig. Oder ich schmecke mein Essen nach Giften ab, glaube, Drogen zu riechen. Verrückt. Der Verleger, ein Mann, der so weit vorausschaut, braucht mich noch immer lebend. Mein Gefängnis: komfortabel und ausbruchsicher. Ein Ort vielleicht für gestürzte Diktatoren oder verurteilte Mafiabosse (nicht der ersten Kategorie). Jedes Abendrot ist ein Himmelbluten, dann lehne ich an den Zinnen und starre hinaus in das atmende Rund, das sich doch, für mich unerreichbar, nur hinter den Augen wölbt. Der Gefangene träumt sich Flügel, und beim Erwachen verflucht er nicht mehr die Mauern; es ist der eigene Körper, in dem er festhängt, sein Kopf, der ihn umzingelt, unfähig, diesen Spuk mit einem Wimpernschlag oder rettenden Gedanken fortzuwischen. So beginnt man, sich selbst als den Grund zu sehen, tauft das Verhängnis auf den eigenen Namen, Schuld hat ein wie vom Zufall hergekehrtes Häufchen Ich. Das keinen anderen dort draußen schert.
Blicke von meiner Insel auf der Insel; in der Tiefe wächst der Malvasier, blühen mir unbekannte Sträucher. Mit Zitronen und Feigen übe ich immer wieder, bis über die Klippen zu werfen. Doch würde eine Flaschenpost jemals unzerschellt aus dem Strudeln und gischtigen Schwappen um die Felskämme und vorgelagerten Riffs hinaus aufs freie Meer gelangen? Frei und verloren - zwischen Europa und Afrika? Wäre ich in einer Wüste oder im Dschungel, längst hätte ich alle Hoffnung aufgegeben. Aber ich glaube ans Wasser, ich liebe das Meer, seit ich der Kindheit in den Alpen entkam und dann aufgewachsen bin in einer großen Stadt. Mein Verleger weiß das, darum hat er mich nach Panarea verlockt. Jonas, kommen Sie für einige Wochen oder auch Monate in mein Haus, im Mai oder Juni, spannen Sie dort aus! Die große Hängematte. Ich musste von nichts ausspannen; dennoch war ich der Einladung gefolgt. Später wollte ich nach Sizilien weiterreisen, in diesen mir bis heute fast unbekannten Erdteil. Ich ging baden, fischen, nahm das Schiff zu den benachbarten Inseln, wanderte durch die vulkanischen Hügel. Schrieb keine Zeile. Bis ein Anruf kam, mein Gastgeber in Deutschland; ich erzählte ihm von den Tagen der Freude, und er sagte, bitte, Jonas, machen Sie auch mir eine Freude. Ich möchte wieder ein Buch von Ihnen. Jonas Heckers Lebenswerk. Mein Lebenswerk? Ich lachte, er lachte zurück. Sie sind jetzt am richtigen Ort. Bald darauf wurden mir die seltener, kürzer gewordenen Anrufe des Verlegers bloß noch über die Sprechanlage vermittelt. Bisweilen unheimlich. Ich denke, er ruft nicht aus Deutschland an, er sitzt hier irgendwo unten, am Fuß des Turms. Oder schon im Turm, ein, zwei Stockwerke unter mir. Merkwürdig nur, dieser leicht krächzende oder brausende, manchmal metallische Ton. Vielleicht ist es der Satellit.
Zur Fingerübung Gedichte, ein paar Zeitungsgeschichten, zwei Entwürfe für ein Drehbuch, viel mehr habe ich nicht geschrieben in meinem Leben. Bis auf den einen Roman, vor sechs Jahren, der kein Aas zu interessieren schien, in den Kritiken grauer Missmut und Hohn, bis der Schriftsteller B., mit seinen aphoristischen Traktaten eine der Galionsfiguren meines Verlages, das Buch einem Kollegen in Paris empfahl - und die französische Übersetzung wurde dreihunderttausendmal verkauft. Es folgten die englischen, spanischen, italienischen Ausgaben, auch in Deutschland hatte das Geschäft so verspätet zu blühen begonnen, mit mir, der inländischen Auslandslegende.
Ein junger Mann geht zu einer Wahrsagerin, es ist nur ein Spaß, eine Wette mit Freunden, die Frau sagt, er werde binnen dreier Jahre töten, was er am meisten liebe. Kurz darauf verliebt sich der junge Mann wie noch nie. Was er auch anfängt, es gelingt ihm, aus dem Spaßvogel wird ein Glückskind, ein Beseelter, und im dritten Jahr . - Sie kennen die Geschichte. Wenn nicht: Sie heißt Der glückliche Hiob, längst sollte es auch eine Verfilmung geben, Hiob's Happiness, da bin ich dagegen, es reicht doch die Schrift.
Mehr Geld, als ich mit diesem Buch verdient habe, ja immer weiter verdiene, mehr brauche ich nicht zum Leben. Ich bin allein, eine Halbschwester in Kanada, ich besitze kein Mobiltelefon und nehme nicht teil an irgendwelchen Umtrieben, keine neuen Fotos, keine Journalisten, kein Netzwerk, ich war immer ein Einzelgänger, auch unter Menschen allein, aber nicht einsam. Mit Mädchen, mit Frauen zusammen, die auch allein waren mit mir, aber nicht einsam. Jedes Mal eine schöne Weile, nie eine lange Weile. Ich habe meine Schlüssel für Zimmer, für kleine Wohnungen in London, in Lissabon und Triest, meine Geschäfte und Konten verwaltet ein Freund; er ist Priester im Kloster M. und ist es gewohnt, dass ich mich über viele Monate hin nicht melde. Ich bin ein Taucher.
Man versucht, mich bei Laune zu halten. Ab und an ein Packen deutscher Zeitungen (nichts darin über einen vermissten Schriftsteller, aber manchmal fehlen auch Teile), dazu DVDs mit internationalen Filmen, sogar mit Sport und deutschen Nachrichten. Sie sind häufig eine Woche alt oder älter, das macht sie fast unwirklich, ich merke es, denn ich besitze noch einen Taschenkalender und...
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