Schweitzer Fachinformationen
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Kerzengerade führte der Weg durch den Wald. Von einer Straße zu sprechen, wäre vermessen, er war gerade mal breit genug für ein Auto, nicht asphaltiert. Die Buchen und Eichen, die den Weg säumten, waren haushoch. Momentan waren ihre Äste noch kahl, aber in ein paar Wochen würden sie voll hellgrüner frischer Blätter sein, ihre Kronen würden sich in der Höhe treffen und ein natürliches Dach über dem Weg bilden. Was für ein schöner Wald, dachte Paul Montgomery, als er im Schritttempo fuhr. Ein herrlicher Ort. So friedlich. Die Ruhe nach und vor dem Sturm. Kaum vorstellbar, dass nur wenige Hundert Meter entfernt eine Leiche lag. Ein Mensch, der keines natürlichen Todes gestorben war, so viel stand fest. Pauls Sonntagsausflug in den uckermärkischen Forst war nicht der Erholung geschuldet. Auf ihn wartete Arbeit.
Drei Polizeistreifenwagen, ein weißer Transporter von der Spurensicherung und ein Leichenwagen standen am Ort des Geschehens wie Perlen hintereinander aufgereiht auf dem Weg und versperrten ihm die Weiterfahrt. Paul stoppte hinter dem letzten Streifenwagen, stieg aus und verschloss seinen Dienst-Audi - sicherlich war das nicht nötig, aber den Automatismus konnte er nicht abstellen. Das hier war Brandenburg auf dem Land. Er war nicht mehr in der Großstadt - davon zeugte der Tatort. Die Kollegen hatten sogar darauf verzichtet, ihn mit Flatterband abzusperren. Warum auch? Hier kam höchstens mal ein schaulustiges Reh vorbei. Anders als Paul das aus Hamburg kannte, wo sich Menschentrauben gebildet haben, sobald ein Tatort als solcher gekennzeichnet worden war. Und kurz darauf waren Videos und Fotos davon im Netz aufgetaucht.
Vier Männer in den weißen Ganzkörper-Overalls des Erkennungsdienstes waren damit beschäftigt, am Waldboden Fußabdrücke zu nehmen, das ließ ihr Handeln zumindest vermuten. Paul scannte die Szenerie: Weiter vorn befand sich eine kleine Gruppe von drei Männern, ebenfalls in weißen Overalls, die um etwas am Boden Liegendes gruppiert waren. Einer kniete. Ein anderer machte Fotos. Sie hatten darauf verzichtet, ein Zelt um den Toten zum Schutz der Spuren aufzubauen, wie das mittlerweile gang und gäbe war. Aber wahrscheinlich hatte man es hier nicht ganz so oft mit Tötungsdelikten zu tun und es im Eifer des Gefechts einfach vergessen.
Rund 30 Meter entfernt standen zwei Erwachsene, die so aussahen, wie man sich gemeinhin Hippies vorstellt: langhaarig, in bunten, weiten Klamotten. Bei ihnen drei Kinder, zwei Teenagermädchen und ein kleinerer Junge, genauso farbenfroh gekleidet. Und da war Mandy. Die einzige Person, die Paul hier kannte. In diesem Augenblick entdeckte sie ihn und lief zu ihm.
»Guten Morgen, Chef!« Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Mit ihren 31 war sie zehn Jahre jünger als er. Das, was ihr an Erfahrung fehlte, machte sie mit ihrer Intelligenz und Fleiß wett, sodass Paul sie mehr als Partnerin auf Augenhöhe sah denn als Kriminalassistentin. Er arbeitete lieber im Team als in spitzer Hierarchie.
»Guten Morgen, Mandy«, grüßte er zurück.
»Ist alles okay bei Ihnen?«, fragte Mandy.
»Natürlich. Warum nicht?« Paul wunderte sich über ihre Frage.
»Ich dachte nur, weil Sonntagmorgen ist .« Mandy druckste herum.
»Ja und?« Sie sprach in Rätseln.
»Ach egal, ich dachte nur, Sie sind ja aus Hamburg .« Mandy wurde rot.
»Um genauer zu sein, komme ich gerade aus meiner Wohnung in Templin, dort bin ich heute Morgen aufgewacht, war eine Runde joggen, wollte gerade frühstücken, als Ihr Anruf mich erreichte. Beantwortet das Ihre Frage zur Genüge?« Paul lächelte.
»Ja.« Mandy strahlte zurück. »Ich dachte, der Anruf hätte Sie aus dem Bett geworfen.«
»Ich glaube, Sie gucken zu viele TV-Krimis«, sagte Paul. »Wir sind in der Realität, nicht im >Tatort<. Hier ist der Kommissar aus der Großstadt nicht verkatert oder gerade aufgestanden.«
Paul hatte wirklich gar nichts mit TV-Kommissaren oder Figuren aus Romanen gemeinsam. Weder war er verschroben noch hatte er Autismus. Er war weder hochintelligent noch ungebildet und ein Suchtproblem begleitete ihn auch nicht. Er war »the normal one«. Der Nice Guy. Er war stets freundlich, aber nicht aus Berechnung, sondern aus Respekt oder einfach als Folge seiner Erziehung.
Mandy wurde ein bisschen rot und murmelte: »Alles klar.«
»Was haben wir?« Paul musste grinsen. Diese Frage klang doch wie aus einem TV-Krimi-Drehbuch.
»Männlicher Toter. Erschlagen. Alles deutet darauf hin, dass er letzte Nacht schon hier gelegen hat. Der kleine Junge«, Mandy zeigte zu der Familie, die im Kreis zusammenstand und sich an den Händen hielt, »hat ihn gefunden. Er dachte erst, der würde schlafen. Bis er das Blut sah.«
»Hat er ihn angefasst?«
»Nein, er hat seinen Vati geholt, und der hat die Lage richtig eingeschätzt und uns sofort gerufen.«
Paul atmete innerlich auf. Ein Kind, das eine Leiche entdeckt, ist nie gut, aber dankenswerterweise hatte der Vater richtig reagiert.
»Es sind Tagestouristen aus Berlin. Brauchen wir sie noch oder können sie gehen?«, fragte Mandy.
»Ich spreche mit ihnen.« Paul entschloss sich, mit der Familie zu reden, bevor er sich ein Bild vom Opfer machte. Die Leiche hatte keine Termine mehr.
»Guten Tag. Mein Name ist Paul Montgomery, ich bin von der Polizei in Templin«, sagte er freundlich und holte seinen Dienstausweis aus der Jackentasche. Er zeigte ihn erst dem Vater, bevor er ihn auf Augenhöhe des Jungen hielt.
»Bist du ein richtiger Polizist, obwohl du keine Uniform trägst?«, fragte der Kleine.
»Ja, ich bin Kommissar, nicht im Streifendienst und deshalb muss ich keine Uniform anziehen. Das ist praktisch, ich kann also rumlaufen, wie ich will. Wie ganz normale Menschen, wie dein Vater.« Paul zeigte auf den bunten Vater.
Der Junge verzog das Gesicht.
»Und du hast den Mann gefunden?«
»Ja, Nepomuk war das«, antwortete der Vater für den Sohn.
»Können wir drei uns unterhalten?«, fragte Paul.
»Ja, sicher«, der Vater nahm die Hand des Sohnes und folgte Paul ein paar Meter weg vom Rest der Familie zu einer kleinen Lichtung, wo eine Bank stand. Sie setzten sich.
»Erzähl doch mal, Nepomuk, wie hast du den Mann gefunden?«
»Wir waren gerade bei der Hörübung. Ein Teil unseres Waldbadeprogramms«, beeilte sich der Vater zu sagen.
»Waldbaden?« Davon hatte Paul noch nie etwas gehört. Sein Blick schien Bände zu sprechen, denn der Vater ergriff wieder das Wort.
»Shinrin Yoku. Das ist japanisch und heißt Baden im Wald. In Japan ist es ein Bestandteil des gesunden Lebensstils. Man taucht mit allen Sinnen in die Stille und Unberührtheit des Waldes ein. Waldbaden verbessert unser Wohlbefinden. Es ist eine Kur für Körper und Seele. Wir kommen jeden Sonntag hierher.« Er machte eine kurze Pause.
Paul startete einen weiteren Versuch, mit dem Kind ins Gespräch zu kommen. »Also, ich muss herausfinden, was hier passiert ist. Und dabei kannst du mir helfen. Erzähl doch mal, Nepomuk.«
»Ich war da.« Er zeigte in die Richtung, wo das Team des Erkennungsdienstes um den Toten gruppiert war. »Und dann hab ich den da liegen gesehen. Ich hab gedacht, der schläft, und darum bin ich zu ihm hin.«
»Und dann?«
»Hab ich >Hallo< gesagt. Aber er hat sich nicht bewegt, und da dachte ich, vielleicht ist er hingefallen und braucht Hilfe.«
»Das war sehr schlau von dir.« Paul schenkte dem Jungen ein Lächeln, der erwiderte es scheu.
»Als ich an seinem Kopf stand, war da das ganze Blut. Dann hab ich nach Papa gerufen.« Nepomuk blickte zu seinem Vater, der den Arm um seinen Sohn legte. Der Junge schmiegte sich an ihn. Der Anblick rührte Paul, versetzte ihm aber auch einen kleinen Stich. Auch Jahre danach tat es noch weh.
»Ich hab sofort ihre Kollegen verständigt, nachdem ich realisiert habe, dass er .« Er machte eine Bewegung an seinem Hals, die symbolisieren sollte, dass der Mann tot war.
Paul nickte ihm zu. »Hast du den Mann angefasst?«, fragte er den Jungen.
Nepomuk schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht«, beeilte sich der Vater zu sagen.
»Hast du noch irgendwas anderes gesehen, Nepomuk? Etwas, das nicht in den Wald gehört?«
»Nein. Da war nix.«
»Ist Ihnen etwas aufgefallen? Jemand begegnet?«
»Nein. Darum kommen wir ja immer hierher, man trifft normalerweise keine anderen Lebewesen.« Der Vater hielt inne, ihm schien in diesem Augenblick die Doppeldeutigkeit seiner Formulierung bewusst zu werden. »Wir haben nichts und niemanden gesehen. Weder vorher noch nachher.«
»War irgendwas anders als sonst? Vielleicht ein Auto, das abgestellt war?« Paul hatte in den Jahren, in denen er Zeugen befragte, die Erfahrung gemacht, dass Menschen sich besser erinnerten, wenn er ihnen Beispiele nannte. Die Fragen so konkret wie möglich formulierte und Bilder im Kopf der Befragten erzeugte, die das Gehirn abrufen konnte.
Der Vater schüttelte den Kopf.
Doch auch diese Methode stieß an ihre Grenzen, wenn es einfach nichts zu berichten gab. Bei diesem Leichenfundort schien es der Fall zu sein. Paul sah sich um, sein Blick blieb bei der Mutter und ihren Töchtern hängen. Er beschloss, die Befragung zu beenden. »Vielen Dank, Nepomuk, du hast mir super geholfen. Und danke Ihnen.«
»Brauchen Sie uns nicht mehr?«
»Nein. Soll meine Kollegin Sie zum Bahnhof fahren?« Instinktiv ging Paul davon aus, dass die Familie nicht im eigenen Auto von Berlin in die...
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