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Schreiben ist die große Angelegenheit meines Lebens geblieben. Wie haben während dieser letzten Jahre meine Beziehungen zur Literatur ausgesehen?
Ich habe La Force des choses im Frühjahr 1963 beendet. Das Buch ist kurz nach meiner Rückkehr aus den Ferien im Herbst erschienen. Es ist wärmstens aufgenommen worden und hat viele Leser gefunden. Allerdings haben mich gewisse Kommentare, die es hervorgerufen hat, etwas verstimmt.
Beim Schreiben, so behaupten einige Kritiker, hätte ich jede Rücksicht auf ästhetisches Empfinden außer acht gelassen und mich damit begnügt, dem Publikum das Buch in einer Art von Rohzustand vorzustellen. Das ist völlig falsch. Es ist nicht meine Sache, zu entscheiden, wieviel mein Bericht in literarischer Hinsicht taugt, aber ich habe nicht bewußt darauf verzichtet, ihm einen Platz im Rahmen der Literatur zu geben. Ich habe nur abgelehnt, daß man auf meine Autobiographie den Begriff änwendet und habe auch erklärt, weshalb: ist ein für den Verbraucher geprägter Ausdruck, und ihn da zu gebrauchen, wo es sich um schöpferisches Schrifttum handelt, geht mir gegen den Strich. Das bedeutet jedoch nicht, daß ich beschlossen hätte, von nun an alles einfach nur noch hinzuschmieren.
Gewissen Theoretikern zufolge würde ein Selbstzeugnis überhaupt nicht der Literatur angehören, weil es, in Sätzen, die gleichsam nur die Rolle von Werkzeugen spielen, einen vorgegebenen Inhalt umschließt. Sein Verfasser würde, nach einer von Barthes vorgeschlagenen Unterscheidung, immer nur ein écrivant, , und nicht ein écrivain, , sein. Esist wohl richtig, daß, wie schon Valéry sagte, ein literarisches Werk immer nur da existiert, wo die Sprache im Spiel ist, wo der Sinn sich durch sie als Mittel auszudrücken sucht, ja sogar zu einer Worterfindung führt. Doch weshalb sollte die Absicht, von etwas Zeugnis abzulegen, neue Wortschöpfungen verbieten? Wenn der Gedanke ohne Zögern im Zeichen eingehen soll, ist es nötig, daß eine bestimmte Disziplin eine absolut zwingende, eindeutige Beziehung zwischen ihnen und den Ideen hergestellt hat; in der Chemie ist Wasser = H2O, nicht mehr und nicht weniger. Die Vokabel ist transparent, da das ins Auge gefaßte Objekt nicht eine Wirklichkeit ist, sondern ein Begriff. Sobald aber die Wörter erst auf die Dinge selbst hinführen, haben sie zu ihnen komplexe Beziehungen, und ihre Kombinationen bringen unvorhergesehene Wirkungen hervor. Roman Jakobson erinnert in einem Artikel über den künstlerischen Realismus[27] daran, daß Gogol das Inventar der Kostbarkeiten, die dem Fürsten von Moskau gehört hatten, poetisch fand, der Futurist Krutschonych hingegen eine Wäscherechnung. Ein Werk, das sich auf die Welt bezieht, kann nicht eine einfache Transkription sein, da jene selbst nicht die Gabe der Rede besitzt. Die Tatsachen bestimmen nicht ihren Ausdruck, sie diktieren nichts: derjenige, der sie berichtet, entdeckt, was es darüber zu sagen gibt, indem er es sagt. Wenn er sich mit Gemeinplätzen, mit Konventionen begnügt, verläßt er das Gebiet der Literatur, doch das ist nicht der Fall, wenn er seine lebendige Stimme vernehmen läßt.
Ob es sich um einen Roman, eine Autobiographie, einen Essay, ein historisches Werk oder was sonst immer handelt: der Schriftsteller versucht in jedem Fall, vermittels seiner einzigartigen selbsterlebten Erfahrung eine Kommunikation mit anderen herzustellen; sein Werk soll eine Bekundung seiner Existenz sein und seinen Stempel tragen; den aber drückt er ihm durch seinen Stil, seinen Tonfall, den Rhythmus des Erzählten auf. Kein Genre ist a priori privilegiert, keines geächtet. Das Werk - sofern es gelungen ist - weist sich in jedem Fall als einzigartiges Universum aus, das auf dem Boden des Imaginären besteht. Durch dieses Werk verleiht sich der Autor selbst einen fiktiven Status: Sartre spielt auf diesen Vorgang an, wenn er erklärt, jeder Schriftsteller sei von einem «Vampir» bewohnt.[28] Das redende Ich hält zu dem erlebten Ich die gleiche Distanz, wie jeder Satz von der Erfahrung, aus der er hervorgeht. Wenn das Publikum die beiden nicht verwechselt hätte, würde La Force des choses nicht so leicht Anlaß zu einem Mißverständnis gegeben haben, das in meinen Augen sehr viel bedauernswerter ist als der Irrtum, über den ich mich soeben geäußert habe.
Ich hatte gewünscht, daß dieses Buch mißfiele. Man hatte mich zu oft zu meinem Optimismus in Augenblicken beglückwünscht, in denen ich innerlich wütete. Diese Wut nun habe ich aus mir herausgelassen, ich habe die Greuel des Algerien-Krieges erneut heraufbeschworen. Ich hoffte, meine Leser damit peinlich zu berühren. Aber nein. Im Oktober 1963 gehörten die Foltern und das Gemetzel bereits der geschichtlichen Vergangenheit an, die keinen mehr störte. Ich habe mißfallen, aber aus einem ganz anderen Grund: ich hatte gesprochen, ohne alle diese Vorgänge auf alt zu schminken. Ich wußte damals nicht, wie sehr dieses Thema tabu und meine Aufrichtigkeit indezent war. Mit Staunen habe ich die Vorwürfe über mich ergehen lassen, die Kritiker und auch so manche Briefschreiber mir entgegengeschleudert haben. Mit sämtlichen Gemeinplätzen, die ich später in meinem Bericht über das Alter als solche aufgedeckt habe, hat man mich überhäuft: alle Jahreszeiten haben ihre Schönheit: fünfzig Jahre, das ist die Pracht des Herbstes mit seinen reifen Früchten und dem Gold seines Laubes! Eine Kolumnistin für Herzensangelegenheiten hat erklärt, ein gutes face lifting würde alle meine Probleme lösen. Eine Journalistin hat mir eine Frau meines Alters als beispielhaft beschrieben, die stets bereit sei, jedes neue bistrot, jedes neue Nachtlokal oder jedes Modehaus, das gerade letzter Schrei ist, auszuprobieren; das Geheimnis dieser locomotive parisienne sei, daß sie «auf sehr unaufdringliche Weise gläubig» sei. Ich würde diese Absurditäten nicht berichten, wenn sie nicht selbst bei Lesern, die im allgemeinen mein Verlangen nach klarer Einsicht billigen, ein Echo gefunden hätten; um sie nicht zu enttäuschen, hätte ich ihrer Meinung nach behaupten müssen, ich fühlte mich jung, und das würde bis zu meinem letzten Atemzug so bleiben.
Ich kann mir ihre Reaktion wohl erklären. Viele von ihnen erheben mich zum Idol und identifizieren sich zugleich mit mir. Sie möchten sich vorstellen, ich sei unwandelbar innerer Heiterkeit zugewandt und bewiese durch mein Beispiel, daß es nicht unmöglich sei, diese Heiterkeit angesichts aller Widrigkeiten und insbesondere auch angesichts des Alters zu bewahren, das kein zufälliges Mißgeschick, sondern unser aller Schicksal ist. Wenn das Alter mich erschreckt, so deshalb, weil es eben erschreckend ist, was sie um keinen Preis zugeben möchten. Tatsache jedoch ist, daß, sofern man nicht vorzeitig stirbt, in jeder Existenz ein Moment eintritt, in dem man sich bewußt wird, unwiderruflich eine gewisse Grenze überschritten zu haben. Das kann sehr frühzeitig eintreten: im Fall einer schweren Krankheit, eines Unglücks, eines Trauerfalls, oder auch sehr spät, wenn man unter günstigen Umständen eine gewisse Kontinuität in seinen Unternehmungen hat aufrechterhalten können. Mir selbst ist die Tatsache, daß ich älter werde, zwischen 1958 und 1962 deutlich bewußt geworden. Von Grauen geschüttelt über die Verbrechen, die im Namen Frankreichs begangen wurden, habe ich mit Wehmut auf meine Vergangenheit zurückgeblickt und wurde mir dabei klar darüber, daß ich in vieler Hinsicht auf immer von ihr Abschied nehmen mußte. Wenn man das Leben wirklich geliebt hat, wenn man es noch immer liebt, versteht sich kein Verzicht von selbst. Ich bereue nicht, es ausgesprochen zu haben. Das, worin ich mich getäuscht habe, war der flüchtige Ausblick auf meine Zukunft; ich habe in sie den während der zuletzt durchlebten Jahre in mir aufgespeicherten Ekel hineinprojiziert: sie ist weit weniger düster geworden, als ich damals voraussah.
Falsch ausgelegt worden ist der letzte Satz meines Buches, und noch heute ruft er ironische, empörte, feindselige oder bedauernde Kommentare hervor. Das ist zum Teil meine eigene Schuld. Ich habe den Epilog schlecht aufgebaut. Als ich einen raschen Rückblick auf mein Leben tat, habe ich zuerst von dem gesprochen, was für mich am meisten zählte: meine Beziehungen zu Sartre, zur Literatur, zum Weltgeschehen. Dann habe ich auf mein Alter angespielt. Doch nicht auf diese letzten Seiten bezieht sich die Feststellung, «daß ich geprellt worden bin». Sie bildet den Abschluß der Gesamtbilanz, die ich aufgestellt habe. Sie erklärt sich nicht durch die Begegnung mit meinem Bild im Spiegel, sondern durch meine angstvolle Auflehnung gegen das Grauen der Welt: wenn ich sie mit den Träumen meiner Jugend verglich, sah ich, wie sehr mich diese irregeführt hatten. «Man hat uns nichts versprochen», sagte Alain. Das ist falsch. Die bürgerliche Kultur ist ein Versprechen, die Verheißung eines harmonischen Universums, in dem man bedenkenlos die Güter dieser Welt genießen darf; sie gewährleistet sichere Werte, die ein fester Bestandteil unserer Existenz sind und ihr den Glanz einer Idee verleihen. Ich habe mich von so großen Hoffnungen nicht leicht losreißen können.
Meine Enttäuschung hat auch eine ontologische Dimension. In L'Être et le Néant [Das Sein und das Nichts][29] schreibt Sartre: «Die Zukunft läßt sich nicht einholen, sondern gleitet als frühere Zukunft in die Vergangenheit . Daher rührt die ontologische Enttäuschung, die das Fürsich bei jedem Ausgang in die Zukunft erwartet . Auch wenn meine...
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