Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Eine Millisekunde. Länger dauerte es nicht. Einmal den Kopf zur Seite gedreht, und die rote Ledertasche war fort, mit allem, was sich darin befand. Gabi hatte nicht mal einen flüchtigen Blick auf den Dieb werfen können. Nun, er würde enttäuscht sein, wenn er seine Ausbeute begutachtete. Sicher, die Tasche sah teuer aus - sie war teuer, ein Geschenk aus der aufregenden Zeit im vergangenen Jahr -, doch es befand sich nicht mehr darin als Gabis ramponiertes Arbeits-iPad, auf dem keinerlei diebesfreundliche Informationen gespeichert waren, ein fast leeres Notizbuch mit einigen wenigen vollgekritzelten und durchgestrichenen Seiten sowie eine Packung Buntstifte, die ihre sieben Jahre alten Nichten, Zwillinge, ihr zum Abschied geschenkt hatten. Die Stifte waren das Einzige, worum es ihr leidtat. Notizbuch und iPad dagegen kamen ihr vor wie eine Mahnung, ein Vorwurf, und darauf konnte sie gut verzichten.
Sie trank ihren starken Kaffee aus, hievte den Rucksack auf die Schultern und stand auf. Im Gare du Nord wimmelte es von Menschen, die in alle Richtungen eilten, laute, verwirrende Durchsagen schallten durch die riesige Halle. Gabis geschwätziger Sitznachbar im Eurostar hatte sie heute Morgen bei der Ankunft gewarnt, dass der belebte Bahnhof als Diebeshochburg galt, und ihr geraten, wachsam zu sein. Sie hatte höflich genickt und gedacht, dass sie wohl kaum ein verlockendes Ziel abgeben würde. Ihr Rucksack war uralt, ihr Pass, die Karten und das Bargeld steckten sicher verwahrt in dem Geldgürtel, den sie unter ihrem Pullover trug. Die rote Ledertasche spielte für sie offenbar eine so untergeordnete Rolle, dass sie gar nicht daran gedacht hatte, darauf zu achten. Während sie nun den Bahnhof mit großen Schritten verließ und auf eine verkehrsreiche Straße hinaustrat, hatte sie den Eindruck, dass dies ein Zeichen war. So wie die Tasche verschwunden war, würde auch die Last verschwinden, die sie mit sich herumschleppte .
Komm schon, wach auf, Gabi! Die Tasche war weg - der eigentliche Knackpunkt, der Grund, warum sie hier war, verschwand nicht so leicht. Sie bemerkte den verwunderten Blick eines Passanten und stellte fest, dass sie laut geredet hatte. Großartig. Jetzt sprichst du schon in der Öffentlichkeit mit dir selbst. Sich einzubilden, der Dieb vom Bahnhof wäre ein Instrument des Schicksals gewesen! Sie konnte dies ihrer ständig länger werdenden Schandparade hinzufügen, genau wie die Tatsache, dass sie ihrem Agenten weisgemacht hatte, sie würde »ein Statement gegen die digitalen Ablenkungen« setzen und nicht nur die sozialen Medien meiden, sondern generell nicht erreichbar sein. Sie hatte ihre Familie gebeten, ihre Mobilnummer nur in Notfällen zu wählen und unter keinen Umständen an andere weiterzureichen, und sie hatte niemandem erzählt, worum es ihr bei dieser Reise wirklich ging oder was tatsächlich dahintersteckte. Verstecken, wegducken, ausweichen, vortäuschen. Die alte Gabi hätte so etwas niemals getan. Aber dieser Mensch bin ich nicht mehr, und ich weiß nicht, ob ich so je wieder sein kann, dachte sie nun, während sie spürte, dass die unausgesprochene Angst, die ihr nur allzu vertraut geworden war, durch sie hindurchströmte. Was, wenn alles vorbei war, und sie .
Blende das aus. Fokussier dich. Du bist jetzt in Paris, mahnte sie sich eindringlich, während sie durch die überfüllten Straßen ging. Dir gefällt diese Stadt sehr, auch wenn dein Vater die Ansicht vertritt, Paris sei nur ein Ort, über den man auf dem Weg in sein geliebtes Baskenland hinwegfliegt. Der Gedanke brachte sie zum ersten Mal an diesem Tag zum Lächeln. Okay. Vier Wochen lang würde sie alles andere vergessen, würde einfach nur hier sein und etwas tun, was ihr keine Angst machte, etwas, womit keinerlei Erwartungen verbunden waren. Es würde eine Flucht sein. Ein Ausweg. Hoffentlich ein richtiger.
Gabi holte tief Luft und musste sofort niesen. Dann noch einmal. Sie blieb stehen, kramte ein Taschentuch hervor, schnäuzte sich und nieste erneut. Das Niesen verwandelte sich in ein Lachen. Heuschnupfen, ausgerechnet jetzt! Es war kein Wunder. Man musste sich nur die Bäume an den Straßen ansehen, deren Knospen sich öffneten, nein, deren Knospen zu voller Blüte explodierten! Die Pollenbelastung würde gigantisch sein.
Hier in Paris, im April, war es wärmer als gedacht. In London war es kühl gewesen, und Gabi hatte sich entsprechend angezogen. Sie fing an zu schwitzen in ihrer wattierten Jacke, den schweren Rucksack auf dem Rücken, also zog sie die Jacke aus und band sie sich um. Anschließend strich sie sich ein paar verirrte Strähnen ihres schwarzen, stumpf geschnittenen Bobs aus dem Gesicht und rief den Stadtplan auf ihrem Smartphone auf. Es war noch ein ganzes Stück bis zum Hotel. Sie hätte die Metro nehmen sollen, anstatt wie eine Dramaqueen aus dem Gare du Nord zu stürmen. Okay. Geschieht dir recht, Muffelkopf, dachte sie, richtete die Schulterriemen ihres Rucksacks und marschierte weiter.
Kates Rollenkoffer prallte gegen die Stufen, als sie die Treppe hinaufstieg. Sie hatte beschlossen, die Metro eine Station vor ihrem Zielort zu verlassen, um sich so einen ersten Eindruck von der Gegend zu verschaffen. Der lange Flug, die Fahrt mit dem Zug vom Flughafen in die Stadt und zum Schluss die Strecke mit der Pariser U-Bahn hatten sie benommen und orientierungslos gemacht. Sie brauchte frische Luft, um ihre innere Uhr umzustellen. Sie musste wissen, dass sie sich jetzt tatsächlich in Paris befand und nicht mehr auf einer endlosen Reise mit Flughafenhallen, zugigen Gängen und Bahnsteigen, die überall auf der Welt hätten sein können.
Als sie aus dem düsteren Untergrund auf die Straße trat, schlugen ihr die Farben, die Gerüche, die Geräusche mit voller Wucht entgegen - ein wundervolles Gefühl. Es war ein herrlicher Nachmittag, der Himmel von einem tiefen Blau, davor leuchteten die hübschen alten Steingebäude, die Bäume reckten ihre Zweige in die Höhe - über und über mit weißen und rosa Blüten besetzt, welche die milde Luft mit ihrem betörenden Duft erfüllten. Die Tische vor den Cafés waren voller lachender und plaudernder Menschen, und kein einziger trug schwarze Kleidung. Das musste man sich mal vorstellen! Kate hörte das melodische Gurren einer Ringeltaube und musste plötzlich an ihre Eltern denken, die zu einem alten Jazz-Song mit dem Titel »April in Paris« tanzten, in dem es um den Zauber des Frühlings in dieser Stadt ging. Jetzt verstehe ich, warum, dachte sie und spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte, auch wenn sich in diesem Moment ein ungeduldiger Pendler an ihr vorbeidrängte und etwas über les touristes grummelte. Kate war das gleich, sie war von Kopf bis Fuß voller Freude.
Das Hotel war nicht weit entfernt, aber sie ließ sich Zeit, dorthin zu gelangen. Es gab so viel zu sehen, und sie blieb andauernd stehen, um alles auf sich wirken zu lassen und ein Foto nach dem anderen zu machen. Ja, sie war schon einmal in Paris gewesen, mit fünfundzwanzig, aber das war mittlerweile sechzehn Jahre her. Sie hatte auch nur drei Tage gehabt, war von einem Ort zum nächsten gehetzt, um die schwindelerregende Anzahl von Sehenswürdigkeiten in sich aufzunehmen, die Touristenmagnete wie den Eiffelturm, Notre-Dame, die Oper und die Champs-Élysées . Das war nicht ihre Entscheidung gewesen, sie hätte sich gern mehr Zeit gelassen, hätte lieber weniger und dadurch in gewisser Hinsicht mehr gesehen. Doch natürlich hatte Josh andere Vorstellungen gehabt. Er hatte Paris »abhaken« wollen, um sagen zu können, dass er da gewesen war, hatte binnen drei Tagen alles abklappern wollen, um anschließend die nächste Kultstadt in Europa in Angriff zu nehmen. Sie hatte nicht den Mut gefunden, ihm klarzumachen, dass das nicht das war, wovon sie geträumt hatte, als sie sich wünschte, nach Paris zu reisen. Okay, hatte sie damals gedacht, jetzt haben wir einen kleinen Vorgeschmack bekommen, und obwohl ich nach wie vor hungrig auf mehr bin, gibt es bestimmt ein nächstes Mal, und dann wird es anders laufen. Dann werde ich meinen Hunger stillen, dafür sorge ich. Doch die Jahre waren verstrichen, und es hatte kein nächstes Mal gegeben.
Bis jetzt. Und wenngleich dies erst der Anfang ihrer Reise war, fühlte es sich bereits anders an, wie ein richtiges Abenteuer an einem Ort, den sie gut kennenlernen würde. Bei der Vorstellung machte ihr Herz einen Satz. Das hier würde für einen Monat ihre Gegend sein, ihr Zuhause - und sie konnte sich gar nicht sattsehen. Gleich hier war ein Café, dessen Markise mit atemberaubenden Kaskaden aus Kirschblüten bedeckt war, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte sie reihenweise kunterbunte Fahrräder, die aussahen, als würden sie jeden Moment von allein davonradeln. Dahinter hatte ein kleiner Gemüseladen seine Waren zu einer Vielzahl von Stillleben arrangiert, ein kleines Stück entfernt verströmten Austern und Jakobsmuscheln, noch in der Schale, den würzigen Duft des Meeres. Etwas weiter weg stellte ein Florist prächtige Sträuße aus blasslila Rosen zur Schau, die man für Kunstblumen halten konnte, bis man sie berührte, ein anderer Laden bot ausgefallene Geschenke sowie ansprechende Kuriositäten an. In den kleinen, kopfsteingepflasterten Seitenstraßen mit den massiven Haustüren der Wohngebäude, die sehr gut für ein Foto taugten, befanden sich versteckte, stille Parks. Hier war das Vogelgezwitscher noch lauter. Entlang der großen Straße hatte Kate imposante Kirchen gesehen, außerdem einen seltsamen mittelalterlichen Turm sowie das prachtvolle Hôtel de Ville, das Rathaus von Paris .
Die...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.