Schweitzer Fachinformationen
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Sie hatten die falsche Torte geliefert.
Henriettes Hand, mit der sie den Deckel der Pappschachtel aufhielt, zitterte vor Entrüstung, während sie auf den Schriftzug aus bordeauxfarbenem Fondant blickte, der sich quer über die Oberseite des Backwerks zog, garniert von dunkleren Musiknoten. »Primadonna« war in verschwurbelten Lettern auf dem blutroten Marzipanüberzug zu lesen, und wenn die Situation eine andere gewesen wäre, hätte Henriette vielleicht sogar gelacht. Denn ihr Chef, Hans Pflockinger, war, wenn man es genau nahm, tatsächlich eine Primadonna. Oft zickig, immer eigen und an den meisten Tagen völlig irrational in seinem Handeln.
Als Henriette zehn Jahre zuvor die Stelle als seine Assistentin der deutschlandweit agierenden Immobilienfirma angetreten hatte, war sie nicht nur einmal mit den Nerven am Ende gewesen. Im Gegenteil, Pflockinger und seine Allüren hatten sie bereits nach einer Woche an seiner Seite über eine vorzeitige Vertragsauflösung nachdenken lassen. Leider wechselte der Chef seine Ansichten und Meinungen schneller als Henriette die Unterhosen. Am Morgen wollte er dies, am Nachmittag das, und wenn man ihm noch drei weitere Stunden ließ, kam er mit einer dritten Option um die Ecke, die für Henriette in der Regel Nachtschichten bedeutete. Das ging ein paar Monate gut, bis sie das Gefühl hatte, gar nicht so viel Kaffee trinken zu können, wie sie ihn benötigte, um die fortwährende Müdigkeit in den Griff zu bekommen. Als sie eines Tages zum vierten Mal ein Exposé für einen gigantischen Wohnkomplex in Frankfurt-Sachsenhausen überarbeitete, weil Pflockinger bei seiner nachmittäglichen Sitzung (auf der büroeigenen Toilette, natürlich) den genialen Einfall gehabt hatte, mit einem völlig neuen Konzept bei der Stadt aufzuschlagen, beschloss Henriette: Es reicht.
Sie marschierte in Pflockingers Büro, das Kündigungsschreiben fein säuberlich gefaltet und in einen wattierten Umschlag gesteckt, klatschte dem Chef das Kuvert auf die Schreibtischplatte und rief, ganz entgegen ihrer ansonsten eher bedachten und diplomatischen Art: »Genug ist genug. Ich gehe!«
Woraufhin Pflockinger sie derart ungläubig ansah, als hätte sie sich vor seinen Augen in eine grüne Kuh auf Rollschuhen verwandelt. »Wie meinen Sie das?«
»Ich kündige«, donnerte Henriette im Brustton der Überzeugung, während sie entschieden mit dem Zeigefinger auf den Umschlag deutete. »Ihre ständigen Meinungswechsel machen mich wahnsinnig. Ich halte es nicht länger aus! Sie sind, mit Verlaub, ein Scheusal, Herr Pflockinger.«
Erschrocken von der eigenen Courage (und in der festen Überzeugung, dass sie sich das Kündigungsschreiben nach der Ansage hätte sparen können) zuckte Henriette zusammen. Der Gesichtsausdruck des Chefs wechselte von überrascht zu erfreut. Dann stand er aus seinem ledernen Sessel auf, breitete die Arme aus und sagte zufrieden: »Na, endlich zeigen Sie mal, was in Ihnen steckt.«
Damit war das Eis gebrochen. Von diesem Tag an behandelte Pflockinger Henriette wie seine Tochter. Er erzählte ihr alles, was er über Unternehmensführung wusste, weihte sie in Interna ein, verriet seine besten Tricks und sogar, welcher seiner Aktenordner im Regal keine Unterlagen, sondern eine Flasche Brandy verbarg, die er für Notfälle immer bereithielt.
Vor allem aber schüttete er ihr das Herz über seinen Taugenichts von Sohn aus, Markus, der gefühlt seit der Wiedervereinigung BWL studierte und auf wirklich gar keinen grünen Zweig zu kommen schien.
»Er ist wie seine Mutter«, raunte Pflockinger von Zeit zu Zeit, während er enttäuscht den Kopf schüttelte. »Durchsetzungsschwach und mit einer Leidenschaft für Pferdewetten.« Dann fiel sein Blick stets auf Henriette. »Wenn Sie meine Tochter wären .«
Es war ein stilles Agreement. Nie hatte Pflockinger es wirklich ausgesprochen, nie hatte Henriette das Thema auf den Tisch gebracht. Aber allen Beteiligten war immer klar gewesen, dass sie eines Tages in seine Fußstapfen treten würde. Nicht als Inhaberin der Firma, Gott bewahre, aber als Chefin oder CEO, wie es heute hieß. Sie hatte die Ausbildung, das Format und die Kenntnisse. Sie wusste alles, genau genommen sogar mehr als jeder andere in dem Laden. Und nach den ersten Monaten, ab dem Moment, als sie Pflockinger mit der Kündigung konfrontierte, waren sie ein unzertrennliches, perfekt aufeinander abgestimmtes Zweiergespann. Henriette wusste, wie Pflockinger seinen Kaffee trank und welche Temperatur das Mineralwasser haben musste. Sie kannte die Lieblingsdüfte seiner Frau und erinnerte Jahr für Jahr an den Hochzeitstag. Sie hatte sogar Kenntnis darüber, dass Pflockinger ein paar seiner Millionen auf vermutlich nicht ganz legalem Weg in die Schweiz geschafft hatte, wo er ein hübsches Chalet in den Alpen besaß, in das er einmal im Monat fuhr. Ohne seine Frau, natürlich, denn im Wallis traf er sich immer mit Fabienne, einer durchgeknallten Künstlerin, die in eben jenem Haus lebte, das er für sie gekauft hatte, und merkwürdige Skulpturen aus leeren Raviolidosen und Holzspänen baute.
Henriette kannte, da war sie sich sicher, jedes noch so schmutzige Geheimnis ihres Vorgesetzten. Umso größer war der Schock an seinem Geburtstag vor zwei Tagen gewesen, als er vor versammelter Mannschaft verkündet hatte, sein Sohn werde in einer Woche in das Unternehmen einsteigen und die Geschäftsführung übernehmen. Henriette, die wie immer einen halben Meter hinter Pflockinger gestanden hatte, während er seine kleine Ansprache hielt, wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Sie spürte, wie ihr die Gesichtszüge entglitten - und nicht allein deshalb, weil natürlich sie die geeignetere Kandidatin, ja genau genommen die einzige Kandidatin für den Posten war. Sondern vor allem, weil sie allem Anschein nach gar nicht mitbekommen hatte, dass Pflockinger seinen Ausstieg plante. Und viel schlimmer noch, er hatte sogar vor ihr verheimlicht, dass er ausgerechnet für diesen Aufschneider Markus mit seinen viel zu eng sitzenden italienischen Anzügen (für die er nicht die Figur hatte), den zurückgegelten Haaren (für die seine Stirn eigentlich zu hoch war) und der Kompetenz einer Büroklammer (für die man ihm auch noch ein völlig absurdes Gehalt bezahlen würde) den Platz hinter dem großen Schreibtisch aus Mahagoniholz mit Blick über die Frankfurter Skyline räumen würde.
Es war absurd. Es war lächerlich. Und es war himmelschreiend unfair.
Wie konnte dieser Lackaffe ihr neuer Vorgesetzter werden? Er wusste nichts über die Immobilienbranche, nichts übers Bauen, nicht einmal wo die Kaffeeküche war, wusste er. Insofern war es auch kein Wunder, dass er sich als erste Amtshandlung nach der großen Verkündung, als sich die leitenden Angestellten im großen Konferenzraum trafen, direkt an Henriette wandte und, ohne ihr in die Augen zu sehen, sagte: »Einen doppelten Espresso, aber sorg dafür, dass er heiß ist.«
Henriette starrte ihn an. »Ich koche hier keinen Kaffee«, sagte sie und brachte dabei so viel Selbstbeherrschung auf, wie sie finden konnte.
Markus Pflockinger hielt erstaunt inne. Blickte in ihre Richtung und bedachte sie mit einem schmierigen Lächeln. »Wie ist doch gleich der Name?«
»Henriette Süßkind.«
»Ab heute, Hetty, wirst du hier Kaffee kochen. Und zwar für mich.« Als sie nicht reagierte, nur ihr Mund vor Entrüstung aufklappte, fügte er hinzu: »Ich darf dich doch Hetty nennen.« Und er meinte es nicht als Frage.
Was danach passierte, wusste Henriette nur, weil man es ihr später erzählte. Sie drehte sich offenbar zur Seite, beugte sich über die bordeauxfarbene Torte (auf der natürlich nicht mehr der Schriftzug »Primadonna« stand, den hatte sie eigenhändig vorher abgepult, während sie den Kuchenbäcker am Telefon in Grund und Boden schimpfte), hob sie an und pfefferte sie diesem aalglatten Widerling mit so viel Schmackes ins Gesicht, dass die Kirschfüllung nur so spritzte.
Eine geradezu beängstigende Stille legte sich über den Konferenzraum. Henriette betrachtete mit einigem Erstaunen die Hand, die die Torte geworfen hatte. Hans Pflockinger musterte mit versteinertem Gesicht seine Assistentin. Selbst Markus hielt für einen Moment den Mund, von dem das süffisante und selbstgerechte Lächeln endlich verschwunden war.
Die Augen des Seniors wurden hart. »In mein Büro«, sagte er knapp, erhob sich von seinem Stuhl und verließ den Raum.
Henriette straffte die Schultern und ging mit klopfendem Herzen hinterher. Was zur Hölle war das gewesen? Was war da bitte in sie gefahren? Das war doch gar nicht ihre Art.
»So, Henriette«, sagte Pflockinger seufzend, kaum dass sie sein Büro erreicht hatten. Er bot ihr keinen Sitzplatz an, stattdessen ließ er sie vor seinem Schreibtisch stehen wie ein Schulmädchen, das zum Direktor zitiert wurde.
»Ich kann das erklären«, beeilte Henriette sich zu sagen, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie zur Verteidigung vorbringen sollte.
Pflockinger hob die Hand und brachte sie sofort zum Schweigen. »Ich will nichts hören.« Dann blickte er zum Fenster hinaus. »Das war Ihrer nicht würdig.«
Die Degradierung aber auch nicht!, wollte Henriette rufen, biss sich aber rechtzeitig auf die Zunge. »Schade um den Kuchen«, sagte sie stattdessen.
»Schade um Ihre Karriere«, entgegnete Pflockinger, und Henriettes Herz begann wie wild zu galoppieren.
Okay. Eine Torte im Gesicht des neuen Chefs war kein Kavaliersdelikt. Aber doch noch lange kein Grund, um sie nach zehn Jahren, die sie sich den Allerwertesten aufgerissen hatte, rauszuwerfen. Vor allem weil es den Richtigen getroffen...
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