I
Agatha Raisin hatte es bis nach Mayfair geschafft. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und arbeitete seit sechs Monaten als Sekretärin für Jill Butterfrick, Chefin von Butterfrick Public Relations. Das Büro befand sich in der South Audley Street. Die Bezahlung war nicht besonders gut, und gearbeitet wurde von frühmorgens bis spät in den Abend. Doch die ehrgeizige Agatha wollte einen klaren Schnitt machen, was ihre unglückliche Vergangenheit betraf. Sie war dem Armenviertel von Birmingham entflohen, wo sie bei ihren ständig betrunkenen Eltern aufgewachsen war und eine furchtbare Ehe mit Jimmy Raisin hinter sich ließ.
Manchmal dachte sie, dass sie sich von Jimmy scheiden lassen müsste, schob es jedoch immer weiter auf, bis sie annahm, dass er sich, genau wie ihre Eltern, längst zu Tode gesoffen haben müsste. Agatha konnte sich nur eine Einzimmerwohnung in Acton leisten, aber sie achtete darauf, in den Secondhandläden nur Designerkleidung zu kaufen, und bemühte sich, ihren Birmingham-Akzent loszuwerden, so gut es ging.
Bis auf ihre Augen, die eher klein waren und an die eines Bären erinnerten, war Agatha eine attraktive Frau. Sie war schlank, hatte lange Beine und schimmerndes braunes Haar, das sie in einem Pagenschnitt trug.
Jill war eine Tyrannin und hielt Agatha oft völlig grundlos bis spätabends im Büro fest. Wie Agatha recht schnell feststellte, waren praktisch alle Kunden »Freunde von Daddy«, und sie vermutete, dass die unfähige und schlecht organisierte Jill andernfalls wohl gar keine gehabt hätte. Für die Public Relations waren drei lahme Idioten zuständig, die wenig zu tun schienen.
Die tatsächliche Arbeit wurde auf Agatha abgewälzt, und die duldete das nur, weil sie Mayfair in sich aufsaugen wollte. Bald würde sie weiterziehen und, wie sie zynisch dachte, von mindestens drei Leuten ersetzt werden müssen.
Schon früher hatte sie versucht, bei einer renommierteren PR-Agentur unterzukommen. Agatha fand sogar, dass das Vorstellungsgespräch bei einer von ihnen vielversprechend gewesen war. Der Chef hatte gesagt, er würde sich melden. Als sie ging, hatte er seine Sekretärin hereingerufen. Agatha war vorn am Schreibtisch der Sekretärin stehen geblieben, um ihr Make-up zu prüfen, als sie entsetzt hörte, wie er sagte: »Die eben ist nichts für uns. Ein bisschen zu plump, passt nicht zu unserem Image. Warten Sie ein paar Tage, und dann schicken Sie ihr eine Absage.« Agatha war gegangen, puterrot vor Scham. Zwei Seelen stritten sich in ihrer Brust. Die ängstliche, erschütterte Agatha wollte sofort aufgeben, doch die entschlossene fauchte: »Eines Tages werde ich es euch zeigen!«
Und nun schien sich das Blatt für Agatha Raisin zu wenden. Eines Vormittags rief Jill sie in ihr Büro.
Agatha wartete höflich auf ihre Anweisungen, während ihre innere Stimme sagte: »Was ist jetzt schon wieder, du hässliches Pferd?«
Jill hatte ein langes Gesicht und sehr große Zähne. Ihr sorgsam gebleichtes blondes Haar hing ihr über die Augen, denn die neueste Mode verlangte, dass eine Frisur auszusehen hatte, als wäre man eben aus dem Bett gekrochen.
»Wir haben ein Problem«, sagte Jill. »Haben Sie von diesem Bankier gehört, Sir Bryce Teller?«
»Ich habe etwas über ihn gelesen«, antwortete Agatha. »In der Zeitung steht, dass er wegen des Mordes an seiner Frau verhaftet werden soll.«
»Er möchte, dass wir uns um die Presse kümmern. Nun, er ist ein Freund von Daddy, das weiß ich. Aber ich muss auch an den Ruf dieser Agentur denken. Gehen Sie bei ihm vorbei - solche Dinge regelt man lieber persönlich -, und sagen Sie ihm, dass wir ihn unter den gegebenen Umständen nicht vertreten können. Aber wir wünschen ihm natürlich alles Gute und so weiter und so fort. Er wohnt in der Wigmore Street, das können Sie zu Fuß erreichen. Hier ist die Adresse.«
Klopfenden Herzens verließ Agatha Jills Büro. Auf dem Weg nach draußen schnappte sie sich einen Stapel Morgenzeitungen und nahm zehn Pfund aus der Portokasse. »Ist das genehmigt?«, fragte ein affektiertes junges Mädchen namens Samantha.
»Sonst würde ich es ja wohl nicht machen«, antwortete Agatha und verschwand. Es war ein sonniger Julitag. Agatha suchte sich ein Café mit Tischen draußen und bestellte ein Sandwich und Kaffee. Nachdem sie ihr Sandwich aufgegessen hatte, steckte sie sich eine Zigarette an und begann, alles zu lesen, was sie über den Mord in den Zeitungen finden konnte. Die Fakten waren erdrückend. Man hatte gehört, wie Sir Bryce seine Frau anschrie. Dann war seine Frau morgens mit einem Käsedraht erdrosselt aufgefunden worden, und Bertha Jones, die Haushälterin, gab an, dass besagter Käsedraht in der Küche fehlte. Bertha Jones hatte zu der betreffenden Zeit freibekommen, um ihre Schwester in Dorset zu besuchen, und Sir Bryces Butler, Harry Bliss, war im Theater gewesen und danach sofort zu Bett gegangen. Aber ein Dr. Williamson, der seine Praxis und Privatwohnung nebenan hatte, sagte aus, dass er wegen der lauen Nacht alle Fenster geöffnet hatte und hörte, wie Sir Bryce seiner Frau lauthals drohte, sie umzubringen.
Sir Bryce engagierte sich sehr für wohltätige Zwecke, und hier kam die Agentur ins Spiel, die für seine Wohltätigkeitsbälle und Spendenveranstaltungen warb. In den Zeitungen waren auch Fotos von Sir Bryce und seiner Frau Nigella. Ein Vorzeigepüppchen, dachte Agatha nur. Für die gertenschlanke blonde Nigella war Sir Bryce der zweite Ehemann, den sie mit dreißig geheiratet hatte; da war Bryce neunundfünfzig und verwitwet gewesen. Seine erste Frau war an Krebs gestorben. Agatha betrachtete sein Bild genauer. Er hatte graues Haar und ein kluges Gesicht.
Seufzend beschloss sie, die Zeitungen im Café zu lassen. Es wurde beständig heißer, und Agatha hatte keine Lust, den Stapel bis zur Wigmore Street zu schleppen. Als sie sich auf ihren hohen Sandalen und in dem mattgrünen Rohseidenkostüm aus dem Secondhandshop auf den Weg machte, wünschte sie auf einmal, sie wäre nicht so sehr von Ehrgeiz getrieben. Sie war eine hervorragende Sekretärin. Warum wechselte sie nicht in ein netteres Büro? Aber Agatha klammerte sich an zwei Träume. Der eine war, in Mayfair zu arbeiten, der andere, sich eines Tages ein Cottage in den Cotswolds zu kaufen. Als Kind hatte sie einmal mit ihren Eltern Campingurlaub in den Cotswolds gemacht. Die beiden hatten sich dort vor Langeweile besinnungslos betrunken und gejammert, aber die kleine Agatha war verzückt gewesen von der Schönheit und Ruhe.
Plötzlich war sie in der Wigmore Street und stellte fest, dass sie sehr gerne ins Büro zurückkehren und erzählen würde, Sir Bryce wäre nicht zu Hause gewesen. Die Messingschilder der Ärzte und Fachärzte blitzten in der Sonne. Agatha fragte sich, warum ein solch reicher Bankier ausgerechnet in so einer Gegend wohnen wollte. Sicher wären Regents Park, Hampstead oder Mayfair passender gewesen. Schließlich blieb sie vor einem edwardianischen Stadthaus stehen. Die Straße war ruhig, was an ein Wunder grenzte, so nahe wie sie an der belebten Oxford Street lag.
Agatha betätigte die Messingglocke und wartete, wobei sie unsinnigerweise hoffte, es würde niemand öffnen. Aber dann machte ein Mann in einem schwarzen Anzug und einer dezenten Krawatte auf. Er hatte schütteres helles Haar und ein Boxergesicht. Das muss Harry Bliss sein, dachte Agatha, der Butler.
»Ich komme von der Jill Butterfrick Agency und möchte Sir Bryce sprechen«, sagte Agatha.
Er ging einen Schritt zur Seite, um sie eintreten zu lassen. Agathas erster Eindruck vom Inneren des Stadthauses war, dass es etwas Klaustrophobisches an sich hatte. Die quadratische Diele war mit dickem Teppichboden ausgelegt, und an den hohen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen, um das Sonnenlicht auszusperren. Bliss ging voraus nach oben und in ein schmales Zimmer mit Fenstern nach vorn und hinten raus.
»Eine junge Frau von der PR-Agentur«, verkündete Bliss. Ein Mann, der an einem Schreibtisch vor einem der hinteren Fenster saß, erhob sich langsam und drehte sich zu Agatha um. Er sah viel älter und vor allem erschöpfter aus als auf den Fotos.
»Setzen Sie sich«, befahl er.
Agatha hockte sich auf die Kante eines dick gepolsterten Sessels. Die anderen Sessel und das Sofa waren ebenso wuchtig und üppig gepolstert, und alle Möbel wirkten unbenutzt. Die Rollos waren heruntergezogen, und seitlich der Fenster hingen dichte Brokatvorhänge mit Seidenfutter. An der einen Wand befand sich ein viktorianischer Kamin, über dem ein Empire-Spiegel mit Goldrahmen hing. Schalen mit frischen Blumen schmückten die vielen Beistelltische. Die andere Wand stand voller Bücherregale.
Sir Bryce nahm auf einem Sessel Agatha gegenüber Platz. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, ein weißes Hemd und eine Seidenkrawatte.
»Der Name?«, fragte er.
»Agatha Raisin.«
»Und Sie sind?«
»Jill Butterfricks Sekretärin.«
»Geschickt, um mir mitzuteilen, dass Ihre ehrenwerte Agentur mich nicht vertreten will?«
Agatha schluckte. »Nun ja, ja.«
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Ja, bitte.« Agatha bemerkte einen großen Kristallaschenbecher auf einem Tisch neben sich. Plötzlich wollte sie dringend eine Zigarette rauchen. Die beiden musterten einander. Ich könnte einem Mörder gegenübersitzen, dachte Agatha. Aber er sah so freundlich und normal aus. Dann meldete sich ihre Intuition, die ihr künftig noch so häufig von Nutzen sein sollte. Aus irgendeinem Grund war Agatha auf einmal fest davon überzeugt, dass Sir Bryce es nicht getan...