Eins
Agatha Raisin beobachtete, wie das Sonnenlicht auf die Wand ihres Londoner Büros fiel.
Es kroch in langen Streifen durch die Jalousieschlitze und wanderte im Tagesverlauf langsam an der Wand tiefer. Diese Sonnenstreifen waren Agathas persönliche Sonnenuhr.
Morgen endete ihr Ausflug zurück in die Welt der PR-Manager. Dann durfte sie heimkehren nach Carsely, ihrem Dorf in den Cotswolds. Noch einmal ins Arbeitsleben zu tauchen, hatte ihr keinen Spaß gemacht. In der kurzen Zeit, die sie fort gewesen war und in der sie sich bereits endgültig im Ruhestand wähnte, hatte sie offenbar jene Energie eingebüßt, die nötig war, um bei Journalisten und Fernsehsendern das nötige Interesse für ihre Kunden zu wecken.
Obwohl sie ihre alte Beharrlichkeit und Kraft noch immer nicht ganz verloren hatte und sogar beachtliche Erfolge vorweisen konnte, vermisste sie ihr Dorf und ihre Freunde. Anfangs war sie über die Wochenenden hingefahren, wann immer sie sich loseisen konnte, aber die Rückkehr nach London war jedes Mal eine solche Qual gewesen, dass sie es die letzten zwei Monate bleiben gelassen und samstags wie sonntags durchgearbeitet hatte.
Sie hatte geglaubt, dass ihr neuentdecktes Talent, sich mit Menschen anzufreunden, auch in der Stadt von Nutzen sein könnte. Nur waren die meisten Mitarbeiter der Agentur, gemessen an ihren gut fünfzig Jahren, sehr jung und zogen es vor, in den Mittagspausen und an den Abenden unter sich zu sein. Roy Silver, ihr ehemaliger Assistent und derjenige, der Agatha überredet hatte, sich für sechs Monate bei Pedmans zu verpflichten, hielt seit einiger Zeit ebenfalls Abstand zu ihr. Er behauptete stets, zu beschäftigt zu sein, um sie auf einen Drink zu treffen oder auch nur mit ihr zu reden.
Seufzend sah Agatha zur Uhr. Sie war mit einem Journalisten vom Daily Bugle auf einen Drink und zum anschließenden Abendessen verabredet. Dabei sollte sie die Werbetrommel für einen Popstar rühren: Jeff Loon, mit bürgerlichem Namen Trevor Biles. Und sie freute sich nicht darauf. Es war schwierig, sich hymnisch über einen dürren, aknegeplagten Jugendlichen auszulassen, der sich privat vor allem der Fäkalsprache bediente. Aber er hatte nun mal diese Stimme, die man früher als »irischen Salontenor« bezeichnete, und die alten Liebeslieder, die er kürzlich aufgenommen hatte, waren allesamt Hits. Nun sollte er irgendwie ein Image als Traum aller mittelenglischen Schwiegermütter verpasst bekommen. Deshalb war es das Beste, ihn möglichst von der Presse fernzuhalten und stattdessen Agatha Raisin vorzuschicken.
Sie ging in den Personalwaschraum und wechselte in ein schwarzes Kleid mit Perlenkette, passend zum gewünscht seriösen Image des Kunden, den sie vertrat. Agatha kannte den Journalisten nicht, den sie treffen sollte, hatte sich allerdings über ihn informiert. Sein Name war Ross Andrews, und er hatte früher in der Oberliga des Journalismus mitgespielt, ehe man ihn auf die Gesellschaftsseiten verbannte. Alternden Medienleuten passierte es oft, dass sie von den Titelseiten in die Star- und Klatschspalten gedrängt wurden - oder, schlimmer noch, Leserbriefe beantworten durften.
Sie sollten sich in der City treffen, da mittlerweile alle großen Zeitungen von der Fleet Street nach East End umgezogen waren.
Es war ausgemacht, dass sie sich in der Bar des City Hotels trafen, wo sie auch essen würden, weil das Restaurant passabel war und die Fenster einen schönen Ausblick auf die Themse boten.
Agatha drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Ihr Kleid, das sie erst kürzlich gekauft hatte, sah verdächtig eng aus. Zu viele Mittag- und Abendessen auf Spesen. Sobald sie wieder in Carsely war, musste sie abspecken.
Als sie hinunter in die Eingangshalle ging, sprang Jock, der Portier, auf, um ihr zu öffnen. »Einen schönen Abend, Mrs. Raisin«, wünschte er mit schmierigem Lächeln und ergänzte murmelnd, kaum dass Agatha außer Hörweite war, »Blöde Kuh.« Agatha hatte ihn nämlich einmal angefahren: »Wenn Sie ein Portier sind, dann öffnen Sie gefälligst die verdammte Tür, wenn Sie mich sehen. Wird's bald?« Das hatte ihr der faule Jock nie verziehen.
Agatha ließ sich mit dem dünner werdenden Strom von Berufstätigen auf dem Heimweg treiben: eine nicht ganz schlanke, kämpferische Frau mit kurzem Haar, Augen wie ein Bär und recht vorzeigbaren Beinen.
Das Hotel lag nur wenige Straßen entfernt. Agatha trat aus dem Licht der Abendsonne in die dämmrige Hotelbar. Obwohl sie Andrew Ross noch nie begegnet war, machte ihr geübtes Auge ihn sofort aus. Er trug einen dunklen Anzug, Hemd und Krawatte, hatte aber diese ordinäre Schäbigkeit, wie sie typisch für Zeitungsjournalisten war. Sein schütteres Haar war unnatürlich schwarz. Er hatte ein breites Gesicht, eine winzige Nase und wässrige blaue Augen. Früher hat er vielleicht mal gut ausgesehen, dachte Agatha, als sie auf ihn zuging, aber jahrelanger Alkoholkonsum hatte seine Spuren hinterlassen.
»Mr. Andrews?«
»Mrs. Raisin. Sagen Sie Ross. Ich hatte mir schon einen Drink bestellt und auf Ihre Rechnung setzen lassen«, sagte er unbekümmert. »Geht ja sowieso alles auf Spesen.«
Agatha wusste genau, dass viele Journalisten Experten darin waren, gefälschte Restaurantquittungen für Kunden einzureichen, die sie hätten einladen sollen, ohne es getan zu haben. Das Geld steckten sie dann in die eigene Tasche. Übernahm hingegen jemand anderes die Rechnung, kannten sie kein Halten.
Sie nickte, nahm ihm gegenüber Platz und winkte den Kellner herbei, bei dem sie einen Gin Tonic bestellte. »Nennen Sie mich Agatha«, sagte sie zu Andrews.
»Wie steht es um den Daily Bugle?«, fragte sie dann. Es wäre zwecklos, mit ihm über ihr eigentliches Anliegen zu sprechen, bevor er nicht genügend intus hatte, um ihr einige Zeilen zu versprechen.
»Das Blatt ist auf dem absteigenden Ast, wenn Sie mich fragen«, sagte er finster. »Das Problem ist, dass diese jungen Journalisten keinen Schimmer von irgendwas haben. Die kommen aus den verfluchten Journalistenschulen und sind so ganz anders als wir damals. Wir haben gelernt, uns auf unser Gefühl zu verlassen. Die kommen von einem Interview zurück und sagen: >Also nein, ich konnte ihn dies oder das nicht fragen. Seine Frau ist ja gerade gestorben.< Irgend so einen Blödsinn. Ich sage denen: >Kinder, zu meiner Zeit haben wir an die Titelseite gedacht und einen Dreck auf die Gefühle von irgendwem gegeben.< Die wollen gemocht werden. Aber ein guter Reporter wird nie gemocht.«
»Stimmt«, pflichtete Agatha ihm aus tiefstem Herzen bei.
Er gab dem Kellner ein Zeichen, dass er ihm noch einen Whisky mit Wasser bringen sollte, ohne Agatha zu fragen, ob sie einen zweiten Drink wollte.
»Das ganze Elend ging damit los, dass sie das Zeitungsgeschäft in die Hände der Buchhalter gelegt haben. Die sind doch nichts als Neidhammel, streichen die Spesenkonten zusammen und streiten mit einem um jeden Penny. Mann, ich erinnere mich da an einen .«
Agatha lächelte und schaltete ab. Wie oft war sie schon bei ganz ähnlichen Treffen gewesen und hatte sich dieselben Beschwerden angehört? Doch ab morgen war sie frei und würde nie wieder zur Arbeit zurückkehren müssen, jedenfalls nicht als PR-Agentin. Sie hatte ihre eigene Agentur verkauft, um frühzeitig in den Ruhestand zu gehen und sich in die Cotswolds zurückzuziehen, in das Dörfchen Carsely, das sie ganz langsam mit seiner sanften Wärme eingehüllt hatte. Es fehlte ihr. Ihr fehlte der Frauenverein von Carsely, das Geplauder bei Tee im Pfarrhaus, das beschauliche Dorfleben. Während sie ihren geübt wohlwollenden Gesichtsausdruck beibehielt, als Ross weiterwetterte, schweiften ihre Gedanken zu ihrem Nachbarn James Lacey ab. Bei ihrem letzten Besuch zu Hause hatte sie sich mit ihm auf einen Drink getroffen, doch ihre unbeschwerte Freundschaft schien dahin. Agatha sagte sich, dass ihre alberne Besessenheit, was ihn betraf, endgültig Vergangenheit war. Trotzdem hatten sie ihren Spaß gehabt, als sie gemeinsam mehrere Morde aufklärten.
Als Ross den Arm heben wollte, um einen weiteren Whisky zu bestellen, hielt sie ihn davon ab, indem sie recht bestimmt vorschlug, dass sie etwas aßen.
Sie gingen in den Speisesaal. »Ihr üblicher Tisch, Mrs. Raisin«, sagte der Oberkellner und führte sie zum Fenstertisch.
Es gab einmal eine Zeit, dachte Agatha, da hatte es ihr gefallen, von Oberkellnern erkannt zu werden. Es war eine Bestätigung dafür gewesen, wie weit sie es vom Armenviertel in Birmingham gebracht hatte. Natürlich sagte heute keiner mehr »Armenviertel«. Man sprach von der »Innenstadt«, höchstens vom »sozialen Brennpunkt«, als würde das den Dreck, die Gewalt und die Verzweiflung mildern. An Armut litt in solchen Vierteln auch die Seele, weil die Fantasie nur von Gewaltvideos, Alkohol und Drogen genährt wurde.
»Und als ich aus Beirut zurückkomme, sagte der alte Chalmers zu mir: >Du bist ein viel zu gerissener und scharfer Hund, Ross, um dich kidnappen zu lassen.<«
»Richtig«, sagte Agatha. »Was möchten Sie trinken?«
»Macht es Ihnen was aus, wenn ich aussuche? Ich stelle immer wieder fest, dass die Damen nichts von Wein verstehen.« Im Klartext sollte das heißen, dass »die Damen« womöglich bezahlbaren Wein orderten oder nur eine halbe Flasche oder etwas ähnlich Inakzeptables. Vermutlich wird er den zweitteuersten Wein auswählen, weil er zwar gierig ist, jedoch nicht so wirken will, ging es Agatha durch den Kopf. Und genau das tat er auch....