Schweitzer Fachinformationen
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Greta nannte sie Big Swiss, weil sie groß und aus der Schweiz war und oft vom Scheitel bis zur Sohle Weiß trug, die Farbe der Kapitulation. Ihre blonden Haare waren so fein wie Pusteblumenflaum. Sie hatte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen, ließ aber den gelassenen Charme vermissen, der normalerweise damit einherging, und der Blick ihrer blassblauen Augen war so durchdringend wie der eines Sektenführers. Wohin sie auch ging, drehten sich selbst Kleinkinder und Hunde nach ihr um. Ihre Schönheit glich der Schweiz selbst - beeindruckend, aber steril -, und verglichen mit ihrem teutonischen Gleichmut wirkten die Menschen um sie herum wie emotionale Freigeister oder, um einen Begriff aus der Psychiatrie zu bemühen, völlig durchgeknallte Spinner.
Allerdings war das reinste Spekulation von Greta - sie hatte Big Swiss nie getroffen, und das würde sie wahrscheinlich auch nie. Ebenso wenig hatte sie je einen Fuß in die Schweiz gesetzt. Aber sie hatte Fotos gesehen, und das Land wirkte einfach nicht echt. Big Swiss dagegen war eindeutig echt. Greta kannte ihre Initialen (FEW), ihr Geburtsdatum (23.5.1990), ihre Klientennummer (233) und ihre Stimme, die tief, laut und ein wenig traurig klang. Vielleicht lag es daran, dass Big Swiss so ausdruckslos sprach und Greta ihr Gesicht nicht sehen konnte, jedenfalls beschwor ihre Stimme wahllos Bilder herauf. Zum Beispiel von Hundezitzen. Von nassen Kiefernnadeln. Auch von Greta, die sich in einem Wandschrank zwischen Nerzmänteln versteckte. Davon abgesehen hatte sie etwas Substanzielles an sich, das Greta gefiel. An dieser Stimme konnte man mit dem Pulli hängen bleiben oder sich einen Zahn abbrechen, aber sie war auch so süß, dass man an ihr saugen, mit ihr im Mund einschlafen konnte.
Jetzt im Moment sprach Big Swiss über ihre Aura, ein unerträgliches Gerede, wäre nicht diese Stimme gewesen. Big Swiss zufolge unterschieden sich Auren nicht nur in der Farbe, sondern auch in der Größe, und ihre war »so groß wie ein Lastkahn«. Sie drang in jeden Raum, bevor Big Swiss selbst ihn betrat, und man wich ihr entweder aus oder wurde niedergemäht - das konnte man sich aussuchen. Auch Big Swiss hatte darunter zu leiden. Ihrer Aura wegen hielt sie es in Räumen mit niedrigen Decken höchstens zwanzig Minuten aus, und auf gar keinen Fall hätte sie in einer Kellerwohnung leben können. Ihr wurde unbehaglich zumute, wenn etwas ihrem Gesicht zu nah kam, selbst bei Gesichtern anderer Menschen. Sie schlief ohne Kissen. Regenschirme konnte sie nicht leiden. Was sie auch aß, musste mit reichlich Chilisauce getränkt oder anders stark gewürzt sein, zum Beispiel mit Gentleman's Relish, einer Paste mit Anchovis. Sie streute auf alles Salz, sogar auf Orangen. In ihrem Körper fühlte sie sich generell unwohl, deshalb setzte sie ihn gern den Elementen aus und war entweder sonnenverbrannt, windzerzaust oder feucht vom Regen.
»An deiner Aura schlage ich mir den Kopf auf«, hätte Greta gesagt, wären sie im selben Raum gewesen. »Ich klammere mich an die Reling des Lastkahns und blute aus einer Kopfwunde.«
Aber Greta und Big Swiss waren nicht im selben Raum, nicht einmal im selben Gebäude. Greta saß Meilen entfernt in ihrem eigenen Haus am Schreibtisch und trug nichts weiter als Kopfhörer, fingerlose Handschuhe, einen Kimono und Stulpen. Ihre Arbeit bestand darin, diese körperlose Stimme zu transkribieren, die genauen Worte zu tippen und auch aufzuschreiben, was Big Swiss' Gesprächspartner sagte, ein Sex- und Beziehungscoach, der sich völlig unironisch Om nannte. Sein echter Name (an dem nichts auszusetzen war) lautete Bruce, und Big Swiss war eine seiner vielen Klientinnen. Fast jeder in Hudson, New York, wo Greta lebte, hatte auf dem Sofa dieses Mannes sein Herz ausgeschüttet. Natürlich schrieb er an einem Buch, und deshalb hatte er Greta angeheuert, um seine Sitzungen zu transkribieren. Bisher hatte sie etwa drei Dutzend Abschriften getippt, wofür er ihr fünfundzwanzig Dollar die Stunde zahlte.
Bei ihrer letzten Stelle hatte Greta Tabletten sortiert und gezählt, und dann hatte sie die Tabletten in Röhrchen gefüllt, und wenn die Kunden ihre verschreibungspflichtigen Pillen abholten, beschrieben sie Greta ihren Stuhlgang. »Ich bin PTA«, sagte Greta dann freundlich. »Keine Krankenschwester.« Dann schalteten die Leute um. Bevor Greta sie aufhalten konnte, platzten sie mit Dingen heraus wie: »Mein Mann hat mich dreißig Jahre lang verprügelt. Ich hatte mehrere Gehirnerschütterungen, und ich habe keine Kinder, die sich um mich kümmern könnten. Könnten Sie mein Rezept für Soma gleich einlösen und mir Rabatt geben?« In solchen Fällen hatte Greta sich oft zum Apotheker umgedreht, einem verbitterten Alkoholiker namens Hopper, und geflüstert: »Ich bin PTA, keine Psychologin. Und das Wiederholungsrezept der Kundin ist nicht mehr gültig. Kümmern Sie sich darum.« Hopper war relativ jung (zweiundfünfzig), litt unter Bluthochdruck und Nierenproblemen und hatte chemische Verbindungen auf die Unterarme tätowiert. Nicht diesen üblichen abgedroschenen Mist wie die chemische Struktur der Liebe, auch nicht Dopamin oder Serotonin. Er hatte sich für Tattoos von Drogenverbindungen entschieden - Koffein, Nikotin, THC - und war zu nichts zu gebrauchen, wenn nicht alle drei gleichzeitig und ergänzt um Alkohol durch seine Adern strömten.
Greta erfuhr an sich gerne die Geheimnisse anderer Leute. Das war nicht das Problem. Das Problem war, im grellen Schein der Neonlampen von Junkies angestarrt zu werden, während aus den Lautsprechern I'd Really Love to See You Tonight oder Touch Me in the Morning drang.
In der Apotheke war es zu warm, zu hell und wie auf einer Bühne, und Greta merkte, dass sie es mit ihrer Gestik und Mimik übertrieb, als würde sie in einem Stummfilm spielen. Am Ende wollten die Junkies nur ihre Drogen, und Greta wollte sich einfach nur hinsetzen. In ihren Beinen und Füßen pulsierte es. Zum ersten Mal in ihrem Leben trug sie Strumpfhosen, nicht nur eine, sondern zwei übereinander, und dazu schwarze Kompressionsstrümpfe. Es war nicht besonders kleidsam, aber sie hatte das Gefühl, sie brauche Halt. Sie wollte gedrückt werden, richtig fest.
Und dann reichte ihr eines Tages ein Mann ein Rezept für Oxy 30 mg und eine Hose und verlangte, sie solle ihm das Medikament geben und seine Hose flicken. »Ich bin PTA, keine Schneiderin«, sagte sie. »Und das Rezept ist gefälscht, Sir.« Mit angewidertem Blick zog er eine Pistole. Es war Heiligabend. Hopper rückte sofort zweihundertsechzig Oxy 80 mg heraus, und der Junkie zog lachend von dannen. Er starb zwei Tage später an einer Überdosis. Eine Woche danach nahm Hopper sich nach Ladenschluss in der Apotheke das Leben. Die Abendnachrichten und alle Zeitungen berichteten darüber.
Und Greta? War wie immer nicht aus der Ruhe zu bringen, solange ihre Strümpfe nur eng, eng, eng waren. Wenn sie die Strümpfe auszog: dumpfe Traurigkeit, nichts Ernstes. Das irritierte Leute (ihren Verlobten), die offene Trauerbekundungen (untröstliches Schluchzen) erwarteten, vor allem, da ihre Mutter sich das Leben genommen hatte, als Greta dreizehn war, und Greta danach bei diversen Tanten aufgewachsen war, erst in Kalifornien und Arizona und schließlich in New Hampshire, wo sie die Highschool besucht hatte. Ihr Verlobter tastete sie immer wieder ab und suchte in ihren Taschen nach Tabletten, weil er fürchtete, sie könnte planen, sich auch das Leben zu nehmen. »Du siehst zu viel fern«, sagte Greta. »So funktioniert das nicht. Das geht nicht so eins zu eins.« Außerdem glichen Gretas Versuche Wurzelkanalbehandlungen - sie waren schmerzhaft, einschüchternd und fast immer gefolgt von einer längeren Schonfrist. Ihre aktuelle Schonfrist sollte noch fünf Jahre halten.
Die Leiche ihrer Mutter hatte sie nicht entdeckt, aber Hoppers. Er hatte sich ins Herz geschossen statt in den Kopf, aber danebengezielt und war an einem Herzinfarkt gestorben. Ihre Mutter hatte sich in den Kopf geschossen, nicht ins Herz und nicht danebengezielt. Beide hatten Abschiedsbriefe hinterlassen und dazu etwas, das Greta als unbeabsichtigte Nachworte betrachtete. Hoppers war, dass er auf der Seite liegend neben Dyazide gestorben war, was ihm, richtig eingenommen, vielleicht das Leben gerettet hätte. Das Postskriptum ihrer Mutter war eine lange Haarsträhne an einem Fetzen Kopfhaut gewesen, ein Nachtrag, der Greta jahrelang gequält hatte.
»Berührt dich das gar nicht?«, fragte ihr Verlobter verblüfft.
»Bei mir ist alles mit nassem Sand bedeckt«, sagte sie, »weil mein Kopf in einem riesigen Betonmischer steckt.«
»Also hast du doch Gefühle«, sagte ihr Verlobter. »Sie sind nur vergraben. Unter Beton. Vielleicht wird es Zeit, den Beton aufzubrechen.«
»Womit, einem Presslufthammer?«
»Vielleicht mit einem Psychologen.«
Also versuchte Greta es wieder einmal mit einer Therapie. Nachdem sie im Laufe von zehn Wochen ihre ganze Geschichte erzählt hatte, hatte der Seelenklempner emotionale Taubheit diagnostiziert, was Greta etwas übertrieben fand; sie selbst betrachtete es an schlechten Tagen als »Haltung«, an guten als »Klasse« und, wenn sie besonders von sich eingenommen war, als »heitere Gelassenheit«. Er hatte mehrere überzogene Vorschläge gemacht: Bikram-Yoga, Hypnose, Urschreitherapie, Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen (EMDR), Akupunktur und einen Swing-Tanzkurs. Außerdem legte er ihr nahe, auf Koffein und Nikotin zu...
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