PROLOG
"Du wirst es für uns tun, nicht wahr, Martha? Sag, dass du es tun wirst!", bettelte Lady Fetherall mit Tränen in den Augen.
"Ich bin Bergbäuerin, Caro, keine Schauspielerin. Unser Leben ist völlig verschieden verlaufen. Wie soll ich jemanden eine ganze Woche lang davon überzeugen können, dass ich du bin? Ich habe meine Zweifel, dass ich es auch nur eine halbe Stunde lang könnte", widersprach Martha.
"Als wir klein waren, hast du alle überzeugend nachgeahmt. Ich weiß nicht mehr viel aus der Zeit, bevor Papa starb, aber ich erinnere mich, dass du Leute imitiert hast, um mich zum Lachen zu bringen. Du hast dir damit oft Ärger eingehandelt."
"Das war doch nur ein Spiel, als wir kleine Kinder waren. Ist es nicht überhaupt eine Straftat, sich für eine andere Person auszugeben, mit der Absicht andere irrezuführen?"
"Das weiß ich nicht, aber du würdest mich ja nicht damit täuschen, also wahrscheinlich nicht."
"Aber deinen Viscount würde ich täuschen, oder nicht?"
"Sag das doch nicht immer wieder." Ihre Schwester schauderte und verriet damit ihre Gefühle für den Mann, den sie in zwei Wochen heiraten sollte. "Er ist nicht mein Viscount. Selbst, wenn ich Richard nie kennengelernt und mich nicht in ihn verliebt hätte, wäre Lord Elderwood für mich nichts anderes als ein steifer und kalter Aristokrat."
"Er wäre aber dein steifer und kalter Aristokrat, wenn Mr. Harmsley dich nicht überredet hätte, ihn stattdessen zu heiraten, oder nicht?"
"Stimmt", sagte Caro und verzog das Gesicht. Ihr Blick drückte einen solchen Horror aus, dass Martha sich fragte, ob dieser Viscount, mit dem ihre Schwester verlobt war, nicht nur eine bedeutendere Version von Caros abstoßendem ersten Ehemann war. Sie schauderte bei dem bloßen Gedanken an eine Wiederholung dieser schrecklichen und bisweilen gewalttätigen Ehe für ihre Schwester. Martha hasste den Gedanken daran, wie Caro sich fühlen musste. "Ich muss dir noch etwas sagen", gestand Caro, aber sie vermied den fragenden Blick ihrer Schwester.
Martha wurde in diesem Moment beinahe überwältigt von der Liebe zu ihrer Halbschwester, die sie dank ihres herzlosen und manipulativen Großvaters, des Ratsherrn Tolbourne, nur sehr selten sah. Sie erinnerte sich daran, dass Caro als kleines Mädchen auf die gleiche Weise weggeschaut und die Hände gerungen hatte. Das war, bevor ihr Großvater sie getrennt hatte. Er hatte es unter dem Vorwand getan, dass Martha eine Schande für die Familie sei, weil sie rote Haare hatte. Es gebe niemanden mit dieser Haarfarbe in seiner Familie und ebenso wenig in der ihrer lügnerischen Mutter. So behauptete er. Also behauptete er, sie könne nicht das Kind seines Sohnes sein, sondern sei mit Sicherheit der Bastard eines anderen Mannes. Sie sei wahrscheinlich Sam Tolbourne untergeschoben worden von der hinterhältigen Furie, die ihn zum Durchbrennen verleitet hatte, als er kaum dem Schulzimmer entwachsen war.
Martha war sicher, dass ihre Eltern einander sehr geliebt haben mussten, um so etwas zu tun. Tolbourne hatte hochfahrende Pläne für seinen einzigen Sohn gehabt und ihrer Mutter und ihrem Vater den Umgang miteinander strengstens untersagt. Darum mussten sie durchbrennen, als ihre Mama feststellte, dass sie ein Kind erwartete.
Als ihr Vater starb, war Martha alt genug, dass ihr Vater selbst ihr diese Geschichte noch erzählt hatte, aber Caro erinnerte sich kaum noch an ihn. Wie unendlich einsam musste ihre Halbschwester gewesen sein, als ihr Großvater sie als kleines Kind drangsaliert und mit seiner verzerrten Version ihres impulsiven aber liebevollen Papas manipuliert hatte . Er hatte ihr damit sogar die Erinnerungen an all seine Wärme und Zuneigung geraubt.
"Bringe es hinter dich, Caro", sagte sie freundlich.
"Ich erwarte ein Kind, Marty", sagte Caro hastig, als sei dies die einzige Möglichkeit es auszusprechen, ohne in Tränen auszubrechen.
"Meine Güte .", sagte sie nur. Wie seltsam, sich ihre verletzliche Halbschwester als Mutter vorzustellen. Schon in wenigen Monaten. Caro war jahrelang mit dem grässlichen Sir Ambrose Fetherall verheiratet gewesen, bis er betrunken die Treppe hinabstürzte und sich den Hals brach. Es musste eine große Erleichterung für Caro gewesen sein, dass diese Verbindung kinderlos geblieben war. Darum musste es ein umso größerer Schock für sie gewesen sein, als sie feststellte, dass sie schwanger war - und nicht verheiratet mit dem Vater des Kindes.
"Wusstest du von dem Baby, als du mit Viscount Elderwood verlobt wurdest?", sagte sie.
"Ja, aber Großvater ließ mir keine andere Wahl, als den Antrag anzunehmen. Und ich wagte nicht, Lord Elderwood zu sagen, dass ich ihn nicht heiraten will. Auch ohne das Baby würde ich ihn nicht heiraten, Martha. Titel bedeuten mir nichts. Ich möchte nur geliebt werden, und Richard liebt mich aufrichtig."
Nun, natürlich sagt er das, da er dir ein Kind angehängt hat.
Martha brachte ihre innere Stimme zum Schweigen.
Was für ein Schlamassel, obwohl es nur Charlton Tolbournes Schuld war, weil er Caro zu dieser Ehe zwingen wollte. Martha fühlte sich verpflichtet, wenigstens den Versuch zu machen, ihre Schwester davor zu bewahren, einen Mann heiraten zu müssen während sie das Kind eines anderen unter dem Herzen trug. Also würde sie das Risiko wohl auf sich nehmen müssen. Es war der einzige Weg, damit Caro und ihr Liebhaber heiraten konnten, ohne dass ihr Großvater es herausfand und sie gegen ihren Willen zu einer anderen Ehe zwingen konnte.
"Ich vermute, es ist Mr. Harmsleys Baby und nicht das deines Viscounts?"
"Selbstverständlich", sagte Caro entrüstet. "Ich liebe Richard, und ich könnte mich von keinem anderen Mann mehr in dieser Weise berühren lassen. Und bitte hör damit auf, ihn meinen Viscount zu nennen."
"Du bist mit ihm verlobt, und ich musste dich das fragen."
"Vermutlich musstest du das."
"Wie fühlst du dich mit dem Baby?", fragte Martha behutsam.
"Ängstlich", sagte Caro und sah auch so aus. Sie suchte offensichtlich nach Worten, um es zu beschreiben. "Aber überglücklich, dass es Richards Kind sein wird, damit ich es lieben kann und ihn auch."
Martha verstand sie. Selbst für die sanfte Caro wäre es schwierig gewesen, ein Kind von Fetherall zu lieben. Martha fühlte wieder die alte Verantwortung, das Leben ihrer kleinen Halbschwester so zu gestalten, wie ihr verstorbener Vater es gewollt hätte. Nach seinem Tod war sie wahrhaftig nicht sehr erfolgreich damit gewesen. Doch Caro verdiente es, nach einer einsamen Kindheit und unglücklichen Ehe endlich glücklich zu werden.
Martha spürte auch einen kleinen eifersüchtigen Stich, weil ihre Schwester das Glück mit einem Kind erleben durfte, das auch sie so verzweifelt gesucht hatte, als ihr geliebter Tom Lington noch lebte. In ihrem Herzen war immer noch eine schmerzende Leere, und Tom lag in seinem nassen Grab, seit er vor fünf Jahren in der Schlacht von Trafalgar gefallen war. Wäre er noch am Leben, würde er ihr wahrscheinlich den Rat geben, ihr Herz für ihre Halbschwester und die Familie zu öffnen, die Caro mit Harmsley gründen würde.
Also sah es so aus, als würde sie das völlig verrückte Risiko auf sich nehmen müssen, die Stelle ihrer Halbschwester einzunehmen. Währenddessen würden Caro und Harmsley nach Schottland eilen, um dort zu heiraten. Sie würde nur Noakes, die ergebene Zofe ihrer Schwester, an ihrer Seite haben, um ihr bei dem Betrug zu helfen.
"Ich bin voller Angst und Schrecken, dass Großvater mich sonst zur Ehe mit dem Viscount zwingen wird, selbst wenn er herausfindet, dass ich ein Kind erwarte, Martha."
"Aber du bist keine Siebzehnjährige mehr, die man gegen ihren Willen zum Altar zerren kann, Caro. Du bist eine Witwe von dreiundzwanzig Jahren und vor dem Gesetz berechtigt zu heiraten, wen du willst."
"Sag das unserem Großvater. Seit er herausfand, dass ich mich heimlich mit Richard treffe, lässt er mich beobachten. Aus diesem Grund musste ich dich bitten, hierherzukommen, statt zum Haus von Noakes' Schwester in Islington wie sonst. Selbst Großvaters Helfershelfer können sich wohl kaum gewaltsam Zutritt zu den Räumen einer exklusiven Londoner Modistin verschaffen, bei der ich meine Aussteuer anfertigen lasse. Du weißt selbst am besten, wie erbarmungslos Großvater sein kann, nach allem, was er dir angetan hat. Wir würden uns nicht so gut verstehen, wenn auch nur ein Körnchen Wahrheit an der boshaften Geschichte wäre, die er uns als Kinder erzählte."
Martha schauderte. "Ich weiß, was du meinst."
"Er tut alles, um seinen Willen durchzusetzen. Und er will, dass sein Urenkel eines Tages ein Lord sein wird. Er behauptet, unser Papa habe ihn im Stich gelassen, indem er eine unpassende Frau heiratete, und nach ihrem Tod heiratete er noch einmal eine andere, die in seinen Augen nicht besser war. Es waren immerhin unsere Mütter, Martha, selbst wenn wir uns nicht an sie erinnern können."
"Wir beide wissen, dass es gute Frauen waren. Papa liebte sie, weil er ein guter Mann war und nicht im Geringsten wie sein Vater. Aber was Tolbourne betrifft, hast du ganz recht. Ich war erst sechs, als er mich hinauswarf. Er musste gewusst haben, dass es eine Lüge war, als er mich...