Schweitzer Fachinformationen
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Es war der Anruf eines befreundeten Bergführers im Sommer 2017, der so dringlich klang, dass ich ihm nachgehen musste: Auf der beliebten Alpenüberquerung, dem E5, war er mit seiner Gruppe von der Braunschweiger Hütte im Pitztal zum Rettenbachjoch aufgestiegen und in 2990 Metern Höhe auf einer Großbaustelle gelandet: Hubschrauber flogen, Bagger und Muldenkipper waren in der Berglandschaft im Einsatz. Mit brachialen Eingriffen ins Gelände hatten die Seilbahnbetreiber aus Sölden damit angefangen, Lifte und Skipisten auf dem Rettenbachferner zu erhalten.
Der Gletscher, in dessen Zungenbecken das Weltcup-Stadion steht, hatte sich über eine kritische Geländestufe zurückgezogen und war durch den andauernden Masseverlust immer steiler geworden. Zu steil für die Weltcup-Rennen, mit denen Sölden Ende Oktober die Skiweltcup-Saison eröffnet. Liftstützen waren aus dem Eis ausgeschmolzen und in ihren Fundamenten instabil geworden. Was damals noch nicht klar war: Der Ort wurde zur Dauerbaustelle. Denn nur durch dauernde massive Geländekorrekturen konnten die Seilbahnen Sölden auch in den folgenden Jahren jedes Mal über den Sommer die Trassierung anpassen, immer wieder unter Einsatz schwersten Geräts und mit Sprengungen.
Als die Umweltschutzorganisation WWF die Bauarbeiten im Spätsommer 2023 erstmals richtig an die Öffentlichkeit brachte, blieb der Aufschrei nicht aus. Konsequenzen gab es dennoch keine. Selbst die massiven Eingriffe und Geländeveränderungen sind offensichtlich von der Betriebserlaubnis gedeckt. Und sie scheinen sich auch wirtschaftlich zu rentieren. Selbst das Image der Bahnbetreiber hat keine schwereren Kratzer abbekommen - wie der glänzende Weltcup-Auftakt 2024 zeigt. Während sich das Sterben der Dorflifte und kleinen Skigebiete im Zuge des Klimawandels eher leise vollzieht, sind gerade die vermeintlich "schneesicheren" Gletscherskigebiete zu Brennpunkten in der Auseinandersetzung mit dem Wandel der Gebirgsnatur geworden. Nirgends wird so viel gebaggert und gearbeitet, um den Pistenbetrieb aufrechtzuerhalten.
Nun ist der Pistenbetrieb bei weitem nicht die einzige Industrie, wo derart massiv in die Natur eingegriffen wird. Allerdings ist gerade beim sogenannten Natursport Skifahren die Symbolwirkung besonders groß, weshalb die Debatten hier besonders hart geführt werden. Der Skibetrieb spiegelt gewissermaßen nur die Verhaltens- und Denkweisen einer ganzen Gesellschaft wider. Nirgendwo spitzt sich der Konflikt zwischen Natur und ihrer technischen Zurichtung so zu und nirgendwo liegt der Wandel in der Natur so deutlich vor Augen wie beim Carven durch die Galerien von Schneekanonen oder über zerrüttete Gletscher hinweg.
Schneekanonen sind längst bis auf 3000 Meter Höhe zum Mittel der Wahl geworden. Sonst hätte es auch im Oktober 2024 keine Piste auf dem vormaligen Rettenbachferner gegeben, der jetzt nur noch ein schmales Becken oberhalb der künstlich abgetragenen Gletscherschwelle füllt. Sind solche Bauarbeiten tatsächlich gerechtfertigt? Jakob "Jack" Falkner, einer der Granden aus den Jahrzehnten des Dauerwachstums der Skigebiete der Alpen, macht gar keinen Hehl daraus, dass es nach seinem Willen immer weitergehen soll: Die jahrelang umstrittene "Gletscherehe" - die Verbindung der Skigebiete von Sölden und dem Pitztal -, die schließlich auch wegen der hohen Naturschutzauflagen abgeblasen wurde, will der Pisten-Impresario noch längst nicht aufgeben. Aus seiner Sicht ist sie die logische Abrundung des international angesehenen High-End-Skigebiets. Die Pitztaler Seite hat den Kampf für neue Seilbahnen und Pisten unterdessen bis vor Österreichs höchste Gerichte getragen, um die Umweltprüfung auszuhebeln. Höher, schneller, weiter - die Devise gibt auch heute noch die Marschrichtung vor. Immer unnachgiebiger verfolgen Seilbahnbetreiber ihre Interessen, während zugleich der Wandel der Natur immer mehr an Dynamik gewinnt. Wirtschaftlich rentiert sich das ihren Angaben zufolge und sie haben sichtbar ihr Publikum (tatsächlich haben sie ihre Kundschaft noch).
Kajaks in der Altstadt von Innsbruck, Rafting-Boote vor dem Landhaus und dann ziehen im Juni 2023 rund 600 Menschen mit den Wassersportgeräten durch das Zentrum der Landeshauptstadt von Tirol. Sie kommen aus Tälern wie dem Kaunertal und dem Ötztal, von Naturschutzorganisationen und der Initiative "Wildwasser erhalten Tirol", kurz WET. Sie fordern an diesem Sommertag die Landesregierung zum ersten Mal in einer Demonstration dazu auf, die Pläne für ein neues Pumpspeicherkraftwerk im Kaunertal und Platzertal im Tiroler Oberland fallen zu lassen. Dabei soll das bisher nahezu unberührte Platzertal oberhalb des bestehenden Gepatschspeichers als zweiter Stausee geflutet werden, damit je nach Stromangebot im europäischen Netz Wasser hochgepumpt oder abgelassen werden kann.
Die Blaupause für das Vorhaben der Tiroler Wasserkraft AG (TIWAG) gibt es bereits: Seit Sommer 2020 sind die Arbeiten im Längental bei Kühtai im Gang. Das Verfahren dazu dauerte zehn Jahre und führte bis vor das Bundesverwaltungsgericht in Wien. Dort bekam die TIWAG grünes Licht für ein erstes Großkraftwerk: den Ausbau der vorhandenen Stauseen in Kühtai zum Pumpspeicher mit einem weiteren Becken im bisher unverbauten Längental. Ergänzend wird Wasser aus verschiedenen Bergbächen über einen 25 Kilometer langen Stollen zugeleitet, der durchs Gebirge bis ins Stubaital führt. Auf einer der größten Baustellen Europas formen die größten Baufahrzeuge, die es überhaupt gibt, ein Hochgebirgstal zum Stausee um.
Die Bilder, die der Bayerische Rundfunk erstmals in der Sendung "Bergauf Bergab" im August 2022 sendet, werden mehr als eine Million Mal abgerufen. Die Energiegeschichte der Alpen erhält ein neues, aufsehenerregendes Kapitel mit Landschaftseingriffen, die es in dieser Art seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Wolfgang Stroppa, Projektleiter der TIWAG, bringt das Dilemma auf den Punkt: "Die Energiewende braucht Speicher. Die Bevölkerung oder die Gesellschaft muss sich überlegen: Wie will ich das schaffen. Und ich muss dann vielleicht auch etwas opfern. Das Tal hat dann eine andere Funktion."
Rechtfertigt der Energiehunger der Gesellschaft das Opfer eines seit der letzten Eiszeit entstandenen, unberührten Bergtals? Wo aus Gletscherresten und Schneefeldern in der Gesteinswüste des Hochgebirges Bäche strömen, die dann Becken bildeten, Moore und über Kaskaden und in Mäandern ein Hochtal schufen, das sich im Laufe der Zeit immer wieder umgestaltet? Wo das fließende Wasser Leben bedeutet und zugleich das fortwährende Werden und Vergehen in der Landschaft antreibt, ein seit der Eiszeit ununterbrochener und vom Menschen nur wenig beeinflusster Prozess? Gäbe es nicht andere, bessere Möglichkeiten, als solche Opfer zu bringen? Und dürfen dafür gleich noch mehrere weitere Wildbäche angezapft werden, die zu den letzten frei fließenden und natürlichen Gerinnen in Tirol zählen?
Im Ötztal, das am Oberlauf der Ötztaler Ache bis zu 80 Prozent des Wassers für das geplante zweite Pumpspeicherkraftwerk Kaunertal abgeben müsste, breitet sich der Widerstand schließlich auf das gesamte Tal und auf Politiker aller Parteien aus. Die TIWAG klammert diesen Teil des Vorhabens daraufhin aus dem Antrag aus, um die Realisierungschancen zu erhöhen. Das Projekt würde im Platzertal mitten in eine weitgehend unberührte Naturlandschaft am Rande der Ötztaler Alpen eingreifen und ganze Täler, Bachlandschaften und Ökosysteme dauerhaft verändern oder gar zerstören. Was also ist die Gesellschaft bereit zu opfern?
Erneut findet keine wirkliche Debatte statt, trotz der aufrüttelnden Bilder. Im Gegenteil: Der Umgang mit Energie bleibt grob fahrlässig angesichts der immensen Folgeschäden, die die Energiegewinnung hervorruft. Auch in der Schweiz werden neue Großkraftwerke und flächendeckende Solaranlagen in der Berglandschaft geplant. Auch dort sind die ersten Großprojekte, wie das Wasserkraftwerk Trift und die Solarprojekte auf der Alpe Morgeten im Simmental und Grengiols im Oberwallis, äußerst umstritten. Und auch in diesen Fällen werden die Gerichte angerufen.
Der Druck auf die alpine Landschaft hat sich durch die Energiewirtschaft noch einmal dramatisch erhöht. Nochmal: Wie viel wollen wir, wie viel können wir an Naturlandschaft noch abgeben für den Energiehunger der Gesellschaft? Oder liegt es nicht viel näher, Energie zu sparen und sorgfältiger mit ihr umzugehen? Und für die Stromgewinnung zuallererst Flächen zu suchen, die bereits durch Straßen, Parkplätze oder Dächer verbaut sind?
Wasser ist eine der wertvollsten Ressourcen der...
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