Schweitzer Fachinformationen
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Wo um alles in der Welt war dieses Buch?
Ich war, gelinde gesagt, hektisch. Es kam auf jede Sekunde an, zumindest dachte ich das. Der Schweiß tropfte mir von der Nase. Es war heiß, es herrschte jene Art Hitze, die einen in Istanbul packt, wenn der Sommer seine Schwüle über die Stadt legt und man kaum atmen kann.
Ich hastete in der Wohnung umher und kramte eilig meine Siebensachen zusammen.
Dann hielt ich einen Augenblick lang inne.
»Wie ein Dieb, in meiner eigenen Wohnung«, sagte ich lachend zu mir.
Es war ein bitteres Lachen, das in der Leere widerhallte.
Es war Mittag. Draußen wurde die unerträgliche Luft von Stimmen belebt. Sämtliche Moscheen im Stadtviertel - so stellte ich mir zumindest vor - sandten von ihren Minaretten Gebete aus und wetteiferten in einer großen Kakofonie miteinander.
Seit Freitagabend war dies so - wenngleich es sehr ungewöhnlich war. Diese Gebete waren nicht die üblichen, mit denen die frommen Bürger zur Andacht gerufen wurden; es war jene Art von Gebeten, wie sie nur bei Beerdigungen und bei Versammlungen in den Moscheen am Freitagmittag skandiert wurden.
Es waren die asynchronen Stimmen von Imamen, die sich in Trauer befanden und einen unbehaglichen Gesang gen Himmel sandten.
Dieser Gesang währte nun ununterbrochen seit vielen Stunden; wenn ein Minarett fertig war, übernahm ein anderes, mit dem höchstmöglichen Lautstärkepegel.
Wo aber war jetzt dieses Buch?
In jenem Augenblick begann ich zu verzweifeln. Meine innere Stimme sagte mir, dass es falsch sei, ohne das Buch zu gehen. Ich war im Stress; in der Stadt herrschte Chaos, und ich würde es nicht so leicht in einer Buchhandlung finden, selbst wenn ich dafür riskierte, noch mehr Zeit zu verlieren.
Ich hatte mich mit dem Zusammensuchen und Packen beeilt und war fast fertig. Mein ganzes Gepäck und ein paar Kisten standen an der Tür bereit.
Dann erkannte ich, dass ich noch nicht in meinen Bücherregalen im Arbeitszimmer nachgesehen hatte. Könnte es dort vielleicht hinter den Geschichtsbüchern stehen? Aus Platzmangel standen manche Bücher in zwei Reihen hintereinander, sodass man nicht alle sah.
Und da war es.
Die Welt von Gestern von Stefan Zweig.
Hastig griff ich danach, packte es in eine meiner prall gefüllten Taschen, atmete tief durch und lief, begleitet von den wabernden Gebeten, ein letztes Mal durch die Zimmer. Eine Minute lang studierte ich die Einzelheiten im Zimmer meines Sohnes, dann ging ich ins Schlafzimmer, als ob ich mir alles ganz genau in mein Gedächtnis einprägen wollte.
Ich hatte Tränen in den Augen, da ich wusste, dass es ein endgültiger Abschied war, ein notwendiger Sprung ins Ungewisse, ein Schritt, der ein Kapitel in meinem Leben als Journalist und einfacher Bürger beenden würde.
Ein Augenblick des Abschieds von allem, was ich in der Hoffnung auf ein besseres Leben für mich und alle anderen über die Jahre aufgebaut hatte.
Das war's.
Halt, nein, doch nicht.
Im Wohnzimmer fiel mein Blick auf eine Flasche. Es war mein Lieblings-Whiskey, ein sehr seltener Malt. Ich schnappte sie, ahnend, dass die kommenden zwei oder drei Stunden entscheidend sein würden. Irgendwie fühlte es sich sicherer an, zu wissen, dass auch diese Flasche irgendwo im Kofferraum war.
Ich schloss die Tür hinter mir.
Es kam mir vor, als senkte sich der Vorhang nach einem Akt in einem Theaterstück.
Als ich eilig den Wagen belud, bemerkte ich, dass niemand auf der Straße war. Nur ein paar im Schatten dösende Katzen scherten sich nicht um die Gebete.
Dann trat meine Nachbarin aus dem Stockwerk unter meiner Wohnung heraus. Im Vorbeigehen schenkte sie mir ein vielsagendes Lächeln: »Ich glaube, ich weiß, was du hier machst«, bedeutete es.
Ich wusste, dass sie unglücklich darüber war, wie ihr Land regiert wurde. Wir sagten kein Wort, vielleicht, weil wir beide fanden, dass es in jenem Augenblick nichts zu sagen gab. Wir sahen uns kurz an, dann ging sie über die Straße und verschwand.
Ich drehte den Zündschlüssel um. Der Tank war voll. Gut, dachte ich, so werde ich keine Zeit verlieren.
Eine Frage jedoch ließ mich nicht los.
Ich wusste, dass die Brücken über den Bosporus früh an jenem Tag wieder geöffnet worden waren. Am Freitagabend hatte man diese Verbindungen zwischen der asiatischen und der europäischen Seite gekappt. Ich lebte auf der asiatischen Seite und wollte in den Westen.
Allerdings wusste ich nichts vom Verkehrsaufkommen, von möglichen Straßensperren, Scharmützeln oder Schießereien. Die Emotionen kochten hoch, und eine gewisse Gesetzlosigkeit hatte die Stadt erfasst.
Nicht weit vom Fuß der mächtigen Nordbrücke blieb ich an einer Kreuzung stecken. Menschenmassen, fast allesamt Männer, hatten sich versammelt und blockierten wild diskutierend Teile der Straße. Aus einem Kiosk an der Ecke drang, für alle unüberhörbar, die zornige Stimme von Präsident Recep Tayyip Erdogan und übertönte die andauernden Gebete.
Ich brauchte etwa fünfzehn Minuten, um durch die Menge zu gelangen, die offensichtlich pro-AKP eingestellt war. Danach war ich im Handumdrehen auf der Brücke, wo der Verkehr reibungslos zu fließen schien.
Ich ging etwas vom Gas und blickte zu beiden Seiten über die prächtige Schönheit des sich nach Norden und Süden erstreckenden Meeresarms, der Asien von Europa trennt, die wundervollen Anwesen an den grünen Hängen und die weißen Boote, die träge dahintrieben und einen Streifen Schaum hinter sich ließen, während sie das Wasser wie ein Stück blauen Stoff zerschnitten.
Ich musste diesen Anblick so intensiv in mich aufsaugen wie möglich: Ich wusste nicht, wann oder ob ich ihn jemals wieder zu Gesicht bekäme.
Ich war nun wesentlich ruhiger. Mein Ziel war die westliche Grenzstadt Edirne, gut zwei Stunden entfernt. Ich machte Musik an, ohne zu wissen, welche CD im Abspielgerät war.
Eine Sekunde später ertönte Us and Them von Pink Floyd. Es war ein verblüffender Zufall, ein erstaunlicher Kommentar zum Geschehen.
Ich sang mit und trat aufs Gas.
Die vergangenen Stunden waren ein einziger Albtraum gewesen. Und wenn ich auf meine starke Intuition vertrauen konnte, würde er in eine entsetzliche Zukunft münden.
Zu Anfang war es ein angenehmer, warmer, leicht windiger Freitagabend; der Abend des 15. Juli 2016.
Wir saßen auf einem Balkon im Herzen Istanbuls. Ein Kollege - der Herausgeber eines der größten Medienunternehmen der Stadt - und seine Frau, eine Wissenschaftlerin und Dissidentin, hatten mich zu sich eingeladen. Ab und zu strich uns eine Brise sanft übers Gesicht und legte sich dann wieder.
Das Abendessen war köstlich, der Wein perfekt; die Unterhaltung war unbeschwert und die Witze äußerst fröhlich. Wir tauschten uns über den Stillstand in der türkischen Politik aus, klagten sarkastisch über die Bürde unseres Berufs, waren uns einig in unserem Zynismus, welch großer »Fehler« es gewesen sei, die journalistische Laufbahn einzuschlagen, und erfreuten uns nebenbei an allerlei Klatsch und Tratsch.
Ein wenig später, gegen zweiundzwanzig Uhr, piepte mein Mobiltelefon. Es war ein anderer Kollege und gemeinsamer Freund, der in Bodrum war. »Etwas Seltsames geht vor sich«, lautete seine Nachricht.
»Was?«, schrieb ich zurück.
»Offenbar herrscht Chaos auf der asiatischen Seite der südlichen Bosporusbrücke, Soldaten blockieren sie und rufen >Kriegsrecht erklärt<, alle sollen heimgehen. Könnt ihr das überprüfen?!«, fuhr er fort.
Das klang höchst bedenklich.
Er hatte immer schon einen sechsten Sinn gehabt; ich musste die Sache ernst nehmen.
Keine Minute später landete eine Nachricht mit einem Link zu einer aktuellen Mitteilung auf meinem Display.
Darin hieß es, dass es im Bezirk Beylerbeyi, unterhalb der Brücke, zu seltsamen Unruhen gekommen sei. Das war nicht weit entfernt vom Hauptquartier der 1. Armee und der Militärschule Kuleli.
Mein Kollege - wir saßen mittlerweile nur noch zu zweit am Tisch, da seine Frau zu Bett gegangen war - war jedoch skeptisch. Er war in einer Stimmung, die sich am ehesten mit folgenden Worten umschreiben ließe: »Das ist ein Land, das wie ein Irrenhaus wirkt, und es ist Freitagabend, warum also sollten wir das Ganze ernst nehmen?« Vielleicht dachte er, dass es wieder einen oder zwei Selbstmorde gegeben hätte. Die Bosporusbrücken sind für solche Akte berüchtigt.
Ich erhob mich vom Tisch.
»Ich glaube, da ist ein Staatsstreich im Gange«, sagte ich kühl zu ihm. »Ich werde das besser überprüfen. Und du rufst deine Redaktion an .«
Während mein Kollege zum Telefon griff, um mit seinen Mitarbeitern zu sprechen, nahm ich meinen Helm und sprang auf meinen Motorroller - der in den letzten vier Jahren mein Hauptverkehrsmittel gewesen war: eine persönliche Antwort auf den grauenhaften Istanbuler Verkehr.
Die Wohnung des Kollegen lag zehn Minuten vom »Schauplatz« entfernt. Bald war ich auf der Brücke, in der Hoffnung, dass mich mein Roller so nah wie möglich an die Soldaten heranbringen würde, die den Verkehr blockierten, die Menschen anwiesen, nach Hause zu gehen, und diejenigen bedrohten, die sich weigerten, das zu tun.
Ich stieß bis in ins Zentrum des Chaos vor, wo Autos und Lastwagen sogar noch mehr hupten als gewöhnlich. Mein Zweirad verschaffte mir zwar einen gewissen Bewegungsspielraum, doch selbst damit kam ich nicht viel weiter. Auf halbem Wege über die Brücke musste ich umkehren, als ich sah, wie Menschen in Panik zurückrannten.
Der Anblick war wirklich...
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