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Sebastian
War ich etwa der Weihnachtsmann? Nein. War heute vielleicht ein Feiertag? Auch nicht. Also erklärte nichts die Weihnachtsmusik, die aus dem Flur in mein Büro drang. Ich holte tief Luft und versuchte, meine Mimik zu lockern. Arbeiteten die Leute im Dezember gar nicht mehr? Wussten sie nicht, dass ich in einer Besprechung war und sie ihre Arbeit zu tun hatten?
»Bis morgen Geschäftsschluss brauche ich eine Analyse«, sagte ich gerade zu Ali, als mir Lukes Pullover ins Auge sprang. War das ein Ren? Wirklich? Mein Compliance-Beauftragter trat sonst sehr seriös auf.
»Fliegen Sie nicht heute Abend schon?«, fragte Ali.
Ich antwortete nicht, denn was hatte mein Flug nach Barbados damit zu tun?
»Natürlich, ich besorge Ihnen die Analyse«, schob sie rasch nach und blätterte in ihrem Notizblock.
»Gut, das war's.« Ich stand auf, und alle nahmen ihre Unterlagen und verließen lautlos das Zimmer: Schweigen, mein bevorzugtes Hintergrundgeräusch im Büro. Und nicht Mariah Carey, Wham! oder gar Michael Bublé.
Als ich etwas später meine Tür öffnete, wünschten mir Slade »Merry Christmas«. Ich stürmte ins Vorzimmer zu meiner Assistentin.
»Die. Sollen. Das. Sofort. Ausmachen«, knurrte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Die Leute sind einfach nur gut drauf, Sebastian«, erwiderte sie seufzend. »Aber klar, ich bitte sie, die Musik leiser zu drehen.«
»Warum sollten sie jetzt besser drauf sein als im November? Oder im Oktober?« Ich wusste nicht, was mich mehr nervte: die Idiotie der Weihnachtszeit oder mein Zorn deswegen. »Haben Sie . Lametta um Ihren Monitor drapiert?«, fragte ich ungläubig. Was ließ nur alle im Dezember durchdrehen? Was ließ sie furchtbare Kleidung tragen, furchtbare Musik hören und zu viele furchtbare Dinge essen? Ich konnte kaum erwarten, das Land zu verlassen und all dem zu entkommen. Nur noch Stunden, dann wäre ich unterwegs zu einem Strand in der Karibik. Griffin, einer meiner ältesten Freunde, würde auch hinfliegen, und wir würden dort ein paar Tage verbringen, doch die übrige Zeit würde ich glückselig die Einsamkeit genießen.
Auf meinem Schreibtisch vibrierte das Smartphone. Ich kehrte in mein Büro zurück, sah aufs Display und meldete mich. »Granny?« Unter der Woche rief sie mich nie an.
»Sebastian, ich brauche deine Hilfe.«
Mein Puls klopfte mir leise in den Ohren, und ich schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel, alles möge in Ordnung sein. Niemand war mir wichtiger als Großmutter. Jedes Wochenende rief ich sie an, und mehrmals im Jahr kam sie mich besuchen. Dann saßen wir lange beisammen, tranken zu viel Whisky, schimpften und rechneten mit allem ab. In Kindheit und Jugend war sie eine Leitfigur für mich gewesen, weit mehr als mein Vater oder meine Mutter. Ihr traute ich mehr als allen anderen Menschen, und sie war die Einzige, für die ich bedingungslos alles tun würde.
»Was soll ich tun?«, fragte ich.
»Ich habe mir den Fuß verstaucht und .«
Warum zog sie nicht zu mir, wie ich es ihr hundertmal vorgeschlagen hatte? »Ich schicke einen Wagen und lasse dich nach London bringen.«
»Sei nicht albern. Ich komme nicht nach London.«
»Dann schicke ich dir eine Krankenschwester .«
»Sebastian, mit meinen dreiundsiebzig Jahren habe ich wohl das Recht, nicht dauernd unterbrochen zu werden, wenn ich mit dir spreche.«
Diesen Ton durfte niemand mir gegenüber anschlagen. Niemand außer Granny. »Entschuldige. Was brauchst du?«
»Die Ärztin hat gesagt, ich muss den Fuß hochlagern und darf ihn nicht belasten.«
Das klang nach einem guten Rat.
»Es ist die zweite Dezemberwoche. Der Weihnachtsmarkt in Snowsly öffnet in drei Tagen, und wir sind nicht annähernd fertig mit den Vorbereitungen. Ich habe nicht mal das Gutshaus fertig dekoriert.«
»Um Snowsly musst du dir sicher keine Sorgen machen. Und lass doch die Leute vom Empfang das Hotel schmücken.« Granny besaß ein Gutshaus in Snowsly, einem Dorf in den Cotswolds, und hatte es zu einem kleinen Hotel umgebaut. Inzwischen beschäftigte sie zwar einen Manager, kümmerte sich aber weiter um vieles und kommandierte das Personal herum.
»Das Dorf verlässt sich auf mich. Schließlich bin ich die Vorsitzende des Weihnachtskomitees. Schon während der zwei Tage, seit ich mir den Fuß verstaucht habe -«
»Du rufst mich jetzt an und hast dir den Fuß bereits vorgestern verstaucht? Warum erfahre ich als Letzter davon?«
»Mein Fuß und ich werden wieder gesund. Das ist nicht meine Sorge. Das Problem ist, dass Weihnachten bis zu meiner Genesung um ist - und manche hier ihr Auskommen verlieren, wenn wir keinen tollen Weihnachtsmarkt hinbekommen. Die Geschäfte im Dorf machen vor dem Fest den größten Umsatz. Du musst nach Snowsly kommen und das Organisieren für mich übernehmen. Ich kann schließlich kaum etwas tun und muss auf dem Sofa sitzen.«
»Nach Snowsly kommen?« Binnen Stunden ging mein First-Class-Flug in die Karibik, wo das Fest kein Thema war. Meine Pläne zu ändern und ins Weihnachts-Hauptquartier im Herzen Englands zu reisen, war das Letzte, was ich wollte.
»Du weißt, wie sehr die Geschäfte hier auf den Markt angewiesen sind.«
Das wusste ich, aber nur aus ihren Erzählungen. Ich selbst war zu Weihnachten nie in Snowsly gewesen. Seit ich achtzehn war, hatte ich die Feiertage und den Jahreswechsel am Strand oder am Pool verbracht, weit entfernt vom Weihnachtswahn. Haarsträubend, wie die Leute im Dezember ihren Verstand verabschiedeten und so taten, als hätten sie eine großartige Zeit! Und warum? Das hatte mir nie jemand überzeugend erklären können. Ich zog eine Margarita am Pool diesem Trubel bei Weitem vor, dazu garantierten Sonnenschein und keinerlei Erwähnung der Feiertage.
»Das kriegt ihr alle bestimmt prima hin. Soll ich jemanden schicken?«
»Nein, Sebastian.« An den Fingern einer Hand konnte ich abzählen, wann Granny je die Geduld mit mir verloren hatte, und ihrem gereizten Seufzer nach zu schließen handelte es sich um eine dieser Gelegenheiten. »Niemand kriegt das prima hin, und nein, ich will niemand von deinen Leuten geschickt bekommen, die bestimmt alle ihre eigenen Weihnachtskrisen zu meistern haben. Du musst kommen und helfen. Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.«
Jetzt war es an mir zu seufzen. Ihre Bitte würde ich nicht abschlagen. Das konnte ich nicht. Es gab nichts, was ich für Granny nicht täte. Aber hätten die Mächte der Unterhaltungshölle eine maßgeschneiderte Folter für mich ersonnen, hätte ihnen kaum etwas Schlimmeres einfallen können, als mich nach Snowsly zu schicken, um dort Weihnachten zu organisieren. Weihnachten in England ertragen zu müssen, war schon eine Herausforderung. Aber ein Klacks gegen Weihnachten in Snowsly, denn nirgendwo wurde das Fest pompöser begangen.
Enge, kurvenreiche Sträßchen und Wege verbanden alle Dörfer und Weiler der hügeligen Cotswolds zu einem unregelmäßigen Netz. Hier war England absolut pittoresk, und nichts und niemand kam schnell voran.
Die Straßen waren für Pferde gedacht, nicht für Autos, und so verging die Hälfte der Reisezeit zwischen den Dörfern mit zwei Rädern auf dem Bankett, wenn wieder gewartet wurde, bis ein entgegenkommendes Fahrzeug sich vorbeigeschoben hatte, wobei die wenigen Zentimeter zwischen den Autos den Unterschied zwischen einer fortgesetzten Fahrt und einem Versicherungsschaden bedeuteten. Im Sommer waren die Straßen lange grüne Tunnel aus Ästen, die sich über der Fahrbahn vereinigten, als wollten sie sich wie in einem dreihundert Jahre alten ländlichen Tanz die Hände reichen. Die Wände dieser Baumtunnel bestanden aus Sträuchern voller Nüsse und Beeren, ein Festmahl für zahlreiche Tiere. Am Ende jedes Tunnels wartete zur Belohnung eine spektakuläre Aussicht auf Wiesen und Äcker oder Wälder. Manchmal waren in der Ferne sogar die blaugrauen Umrisse der Malvern Hills zu erkennen.
Jetzt im Winter dagegen waren die Hecken kahl, und die Bäume streckten ihre Äste wie Skelette über die Straßen, ohne den weißen Winterhimmel zu verdecken.
Das nächste hübsche Dorf sah dem letzten sehr ähnlich - mit dem unvermeidlichen knallroten Briefkasten in der Mitte, den gelben Steinwänden der Cotswolds, den kreuz und quer stehenden Häusern aus allen Epochen der letzten tausend Jahre. Der Pub. Die Kirche. Leute, die in Tweed und Wolle Hunde ausführten. Und da und dort ein Hinweis darauf, dass wir im Monat des Wahnsinns waren: Kränze an den Türen, Lichterketten um die Fenster, geschmückte Bäume in den Vorgärten. Geisteskrank das alles.
Schon lange war ich nicht mehr in diesem Teil der Welt gewesen, doch ich stellte fest, dass ich die Gegend noch immer kannte wie meine Westentasche. Die letzten zehn Jahre hatte mein Fahrer Granny abgeholt und nach London gebracht. Das sparte mir Zeit, und sie genoss die Abwechslung. Ich verließ die Stadt eher selten und nur für Auslandsreisen. Schließlich besaß sie alles, was ich brauchte: meine Personalagentur, die ich in rastloser Arbeit aufgebaut hatte; mein Penthouse mit Blick auf die Themse; mein Leben, das ich mir geschaffen hatte.
Wieder in den Cotswolds zu sein, war wie eine Rückkehr in die Kindheit. Jeden Sommer war ich damals durch die Hügel um Snowsly gestromert, hatte Hecken geplündert, mich in Maisfeldern verlaufen, war ein sorgenfreier Junge gewesen. Jeden Sommer. Und zu Ostern. Überhaupt in den Ferien.
Nur nicht an Weihnachten.
»Haben wir es also geschafft,...