Schweitzer Fachinformationen
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Christine Bauriedl-Schmidt & Markus Fellner & Kathrin Hörter & Ines Schelhas
Am 15. März 2019 gingen rund um die Welt junge Menschen auf die Straße, erhoben als Fridays for Future die Stimme, um auf die Klimakrise sowie deren verheerende global wirksame Folgen aufmerksam zu machen und um Klimagerechtigkeit zu fordern. Die Gesichter dieser Bewegung sind jung, meist weiblich und sie sprechen beeindruckend eloquent. Die Fridays for Future-Bewegung fand schnell Resonanz in den erwachsenen Generationen, so dass sich Flügelorganisationen gründeten, denen auch die Bandherausgeber:innen angehören. In unserem Fall sind dies die Psychologists for Future, die All for Future oder die Parents for Future. Die Bandherausgeber:innen sind Psychoanalytiker:innen, Eltern und Mitglieder der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse (MAP) und als Einzelpersonen Mitglieder diverser anderer Klimagruppierungen, z. B. der seit 2019 bestehenden bundesweiten Psychoanalyse AG der Psychologists for Future oder der 2020 gegründeten Klima AG der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e.V. (DGPT). Aufgeweckt durch den Protest der Jugend haben wir 2019 den MAP Arbeitskreis Klimakrise gegründet, mit dem Ziel, die psychoanalytische (Kultur-)Theorie und unsere therapeutische Erfahrung für die individuelle sowie die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Klimakrise fruchtbar zu machen. Dieser gemeinsame Reflexionsraum ist uns eine große Hilfe, die Gefühle, die mit diesem komplexen, bedrohlichen Thema einhergehen, auszuhalten. Wie ein Kollege kürzlich bemerkte: »Wenn wir uns alleine mit der Klimakrise auseinandersetzten, dann würden wir wohl verrückt.«
Am 21. Januar 2022 stand die von Atomwissenschaftler:innen in den 1940er-Jahren kreierte Doomsday Clock auf 100 Sekunden vor Mitternacht und signalisierte damit die große Bedrohung für die Erde und für die auf ihr beheimateten Lebewesen. Im Jahr 2009 hat der Klimawissenschaftler Johan Rockström planetarische Grenzen definiert, die eingehalten werden müssen, damit unser Planet Erde nicht in Gefahrenzonen gelangt, bei denen unwiderruflich Kipppunkte erreicht werden würden, durch die sich unumkehrbar und unvorhersehbar die Lebensbedingungen auf der Erde dramatisch verändern. 2021 hat ein weiterer Klimawissenschaftler, Michael Mann, in seinem Buch Propagandaschlacht um das Klima die strategischen Lügen herausgearbeitet, mit denen die Verantwortlichen für die fossile Brennstoffindustrie systematisch die Verantwortungszusammenhänge tarnen und verschieben. All dies ist kein Geheimnis, wir kommen nicht an den Nachrichten vorbei, die über Naturkatastrophen, Auswirkungen der Klimakrise in anderen Teilen der Welt und vor der eigenen Haustür oder über die Klimakonferenzen berichten. Mittlerweile gibt es einige Filme, die sowohl die naturwissenschaftliche Seite der Klimakrise wie auch deren psychologischen Aspekte sehr anschaulich beleuchten und ansprechend präsentieren. Und dennoch wird vergleichsweise wenig getan - weder von der Politik noch von Individuen oder Gemeinschaften. Diese lähmende Apathie steht in krassem Gegensatz zu den verheerenden Prognosen, die auch wiederum nicht verheimlicht werden. Wie es zu diesen individuellen und kollektiven Abwehrbewegungen kommt und welche sozialpsychologischen Effekte dabei an Bedeutung gewinnen, das sind die Interessensfelder des kritischen psychodynamischen Klimadiskurses.
Wir können mit 2010 einen Startpunkt für eine Welle des Klimadiskurses setzen, um die Beschäftigung mit der Klimakrise in eine psychodynamische Traditionslinie einzuordnen. Im Oktober 2010 fand in London eine psychoanalytische Konferenz zum Klimawandel statt: Engaging with climate change: Psychoanalytic Perspectives, die als interdisziplinärer Austausch von Wissenschaftler:innen mit Psychotherapeut:innen, Umweltaktivist:innen und Politiker:innen angelegt war. Für den deutschsprachigen Raum haben dazu Lothar Bayer und Jeremy Gaines (2011) einen Tagungsbericht in der Psyche veröffentlicht. Bei dieser Konferenz traten mit Sally Weintrobe, Irma Brenman-Pick, Paul Hoggett, Rosemary Randell, John Steiner und Renée Lertzman Vertreter:innen der objektbeziehungstheoretischen Schule auf, die auch heute noch wesentlich im psychodynamischen Klimadiskurs aktiv sind. Die durch die Konfrontation mit der Klimakrise in Gang gesetzten destruktiven, psychologisch wirksamen Dynamiken wie die Unbewusstmachung und Leugnung der Klimakrise können mit der Dominanz einer narzisstischen Weltsicht in Verbindung gebracht werden sowie mit der Notwendigkeit einer kritischen Betrachtung von Neoliberalismus, Kapitalismus und dem daraus resultierenden konsumorientierten Lebensstil der Industrienationen. All das wurde bereits 2010 thematisiert, während auf die besondere Verantwortung der Industrienationen, in denen die Klimakrise zum größten Teil versursacht wird, hingewiesen wurde. Die Hauptvorträge sowie die Beiträge der Diskutant:innen hat Sally Weintrobe (2013) in einem Buch unter gleichklingendem Titel veröffentlicht. Etwas später zog die intersubjektive Schule mit relevanten Veröffentlichungen nach. Zu nennen ist hier beispielsweise Donna M. Oranges (2017) sozialphilosophisch und kapitalismuskritisch ausgerichtetes Buch Climate Crisis, Psychoanalysis, and Radical Ethics, in dem sie den Begriff der Klimaungerechtigkeit vor dem Hintergrund eines historischen Unbewussten herausarbeitet und hier auch die Psychoanalytiker:innen in die Pflicht nimmt, aus ihrer »Blase« herauszutreten und sich der Verantwortung für die Konsequenzen eines konsumorientierten Lebenswandels zu stellen. Die Begründung dieser moralischen Forderung unterlegt sie dabei im Rahmen eines »ethical turns« mit der Subjekttheorie des seit 15 Jahren immer mehr beachteten litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas. Dass psychodynamische Psychotherapeut:innen Gefühlsregungen nicht allein unter dem Aspekt der möglichen neurotische Deregulierung betrachten, sondern als Realgefühle und Ausgangspunkt für klimapolitisches Handeln (bzw. auch dessen Fehlen) ernst nehmen können, ist der Kern des relativ neuen Begriffs der »Klimagefühle«. Renée Lertzman (2015) beispielsweise identifizierte hinter der scheinbaren Teilnahmslosigkeit komplexe psychische Prozesse, die sie als posttraumatische Erstarrung und später als environmental melancholia bezeichnet, während andere Autor:innen eher Klimaangst (z. B. Sally Weintrobe) oder Klimaschuld (z. B. Rosemary Randall) fokussieren.
Den meisten psychodynamischen Ansätzen zur Betrachtung der Klimakrise gemeinsam ist eine gesellschaftskritische Perspektive, die die Umwelt- und Klimakrise als humanitäre Katastrophe begreift. In der Verschränkung von psychodynamischem Diskurs und gesellschaftspolitischen Themen kommen wir nicht umhin, den Blick noch in die Vergangenheit zu lenken: Blitzlichtartig fällt hier der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud ein, mit dem Verweis auf eine Verpflichtung der Vernunft zu einem militanten Pazifismus sowie Freuds Konzeption der Psychoanalyse als einer kritischen Kulturtheorie, in deren Kern der Psychoanalyse über ihren klinischen Kontext hinaus ein »zweiter Auftrag« im Sinne einer emanzipatorischen Subjektwissenschaft zukomme (Parin 1978, S. 341). Dieser Grundgedanke wurde angesichts des Fortschreitens von Industrialisierung, Nuklearisierung und Technisierung auch in den 1960er- und 1970er-Jahren aufgegriffen, beispielsweise vom Psychoanalytiker und Psychiater Harold Searles, der sehr für die Anerkennung der Bedeutung der nicht-menschlichen Umwelt für die Entwicklung des Menschen eintrat. Im Kern des nachlässigen und zerstörerischen Umgangs des Menschen mit der Natur liegt für Searles die abgewehrte, große Angst des Menschen vor den archaischen und nicht-menschlichen Ursprüngen als eine Angst vor dem Vernichtet-Werden verborgen. Bereits bei Eissler (1968) finden wir den Hinweis auf die durch Wissenschaft errungenen Effekte als disharmonisch im Hinblick auf das Gesamtkollektiv, womit er - so können wir sagen - den Gedanken der Klimaungerechtigkeit bereits pessimistisch und mit kritischem Blick auf das Abendland umreißt: »Ihre Ergebnisse zeitigen Effekte, die heilsam sind und integriert werden können, gleichzeitig aber solche, die weit über die gegenwärtigen sozialen Möglichkeiten hinausgehen und erschreckende Destruktionsmöglichkeiten enthalten.« (ebd., S. 648) Natürlich darf in diesem Blitzlicht nicht der Hinweis auf Horst Eberhard Richters (1984) Entwurf eines im Gotteskomplex gefangenen Menschen fehlen, der seine unerträgliche Ohnmachtsangst durch narzisstische Omnipotenz und megalomane Technikgläubigkeit abwehrt. Bereits bei Eissler und Richter lässt sich ein Hinweis auf das Bild des abendländischen Menschen finden, der narzisstisch aus der Balance gekommen ist, der mehr auf das Ego denn auf die Gemeinschaft achtet. So kommt Eissler (1968) dann auch zu dem Schluss, dass es die aus der kindlichen Angst hervorgegangene Sorge des reifen Erwachsenen ist, die die liebevoll-fürsorgende Verbindung zur Umwelt gewährleistet und deren große Schnittmenge zwischen Ich und Überich zu sinnvoll regulierenden Handlungsvollzügen führt.
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