Nicht mehr allein
Alison:
Die Tür zum Flur öffnete sich, und als Erste kam Katie wieder herein. Sie zog Dominic hinter sich her. Katie und er waren schon seit über zwei Jahren zusammen. Schon im ersten Semester hatten sie sich kennen- und lieben gelernt und seitdem kaum einen Tag ohne den anderen verbracht. Dominic lächelte mich freundlich an.
»Hallo, Alison!«, begrüßte er mich mit ruhiger Stimme. Dominic war das komplette Gegenteil von Katie. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Katie, die ständig plappernde, wohlgerundete Rothaarige. Und Dominic, groß, schlank, mit kurzen braunen Haaren. Katies Ruhepol, der sie so liebte, wie sie war. Manchmal wirkte Dominic auf mich wie ein Planet, der ruhig seine Bahnen durchs Universum zog, und Katie war der kleine Mond, der um ihn herum kreiste.
Ich erhob mich vom Stuhl, begrüßte Dominic und auch Rebecca, die nach ihm durch die Tür kam. Sie umarmte mich, hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Rebecca war der Inbegriff der klassischen Schönheit. Schwarze lange Locken, und ein bildschönes Gesicht mit grünen Augen. Ich kannte sie schon seit unserer gemeinsamen Schulzeit. Rebecca war ein guter Mensch, sie war für ihre Freunde da und verteidigte sie wie eine Löwin. Aber sie war auch die klassische Ballkönigin, die alle bewunderten, der alle nacheiferten. Ich war die graue Maus. Hellbraune, schulterlange Haare, braune Augen in einem ovalen Gesicht. Die Freundin, die keiner sah. Neben Rebecca und auch Katie war ich unscheinbar, wurde nicht mal wahrgenommen.
Erst durch Will veränderte sich etwas. Ich veränderte mich. Ich war nicht länger unsichtbar. Wills Liebe erfüllte mich, ließ mich von innen heraus strahlen. Durch ihn fühlte ich mich vollkommen. Und nun war ich zerbrochen. In tausend Stücke. Wie eine Vase, die man achtlos fallen gelassen hatte.
Hinter Rebecca kam Kevin, ein unheimlich großer Kerl. Der einzige »Nicht-Student« unter uns. Kevin arbeitete als Kfz-Mechaniker in der Stadt. Letzten Herbst fuhr Rebecca ihren, von Papa gesponserten BMW-Z3 zur Inspektion in Kevins Werkstatt. Ich konnte es genau vor mir sehen, wie Kevin mit ölverschmierten Händen, das T-Shirt eng um seine Muskeln gespannt, auf Rebecca zuging. Was anfangs pure Leidenschaft war, wurde bald zu inniger Liebe und zu Rebeccas bisher längster Beziehung. Damit kannte Kevin Will am kürzesten von uns allen.
Ganz im Gegenteil zu demjenigen, der nun das Esszimmer betrat. Liam. Ich senkte meinen Blick, konnte ihm nicht in die Augen schauen. Aus Angst vor dem, was ich sehen könnte. Nach Wills Beerdigung hatte ich Liam vielleicht dreimal gesehen. Auch er versuchte anscheinend, diese Treffen unserer alten Clique zu vermeiden. Wer konnte ihm das verübeln? Hatte er doch mit Will einen der wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren. Seinen Bruder. Und genau deshalb konnte ich ihn nicht anschauen. Ich wich ihm aus, ging ihm, so gut es ging, aus dem Weg. Schwänzte unsere gemeinsamen Vorlesungen. Und das, obwohl er doch mein bester Freund war. Oder es zumindest früher gewesen war. Durch Liam hatte ich Will erst kennengelernt. Wahrscheinlich wünschte Liam sich heute, er hätte uns nie bekannt gemacht. Dann würde Will heute vielleicht noch leben. Aber so war es eben nicht gewesen.
Liam und ich hatten uns erst in der Uni kennengelernt und einige Vorlesungen zusammen besucht. Mit der Zeit wurde er, neben Katie, zu meinem besten Freund, und unser kleiner, feiner Freundeskreis immer größer. Erst Katie, Rebecca und ich, dann Dominic, Liam und Kevin. Und schließlich Will. Nachdem Will es endlich geschafft hatte, an derselben Uni wie sein Bruder einen Studienplatz zu erhalten. Ich lernte Will kennen und lieben. Auf den ersten Blick.
Meine Gedanken flogen zu dem Moment, als ich Will das erste Mal erblickt hatte. Auf der Geburtstagsparty von Dominic. Ich konnte ihn immer noch genau vor mir sehen. In Jeans und weißem Hemd. Ein ansteckendes Grinsen auf den Lippen. Graugrüne, blitzende Augen. Blonde Locken. Ich glaube, ich habe ihn damals wirklich mit offenem Mund angestarrt. Und es war kaum zu glauben, aber er sah mich. Nur mich. Nicht Rebecca oder eine der anderen hübschen Studentinnen, die sich auf der Party tummelten. Nachdem Liam uns vorgestellt hatte, tanzten wir den ganzen Abend zusammen, blendeten die Welt um uns aus. Nur wir beide. Ich konnte noch immer seinen Atem auf mir fühlen, sein Parfüm riechen. Ich spürte immer noch den Stoff seines Hemdes unter meinen Händen. Und ich hörte immer noch seine Antwort auf meine geflüsterte Frage:
»Wo bist du nur gewesen?«
»Auf der Suche nach dir!«
Ich kniff mit verzerrtem Gesicht meine Augen zu. All dies ging mir durch den Kopf, als Liam den Raum betrat. Vielleicht war das Teil meiner Strafe. Immer wieder an Will erinnert zu werden.
Alle setzten sich, und Katie, ganz die perfekte Gastgeberin, verteilte Wein und Kekse. Es war noch zu früh für ein Abendessen, aber ich ahnte schon, dass der Abend mit Pizza auf dem Sofa enden würde.
Liam schien sich auch etwas unbehaglich zu fühlen. Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. In unbeobachteten Momenten warf ich immer wieder einen vorsichtigen Blick auf ihn. Er sah ganz anders aus als sein Bruder. Er hatte dunkelbraune Haare, die ihm in die hellblauen Augen fielen. Irgendwann mal hatte er mir erzählt, dass seine Frisur Short Shag Style genannt werde, und sein Bruder hatte ihn dann geneckt, er sei ein eitler Pfau. Und wie immer hatte es in einem Gerangel geendet. Ich verlor mich in der Erinnerung. Sah, wie beide miteinander kämpften, und lachten. Liam hatte das gleiche ansteckende Lachen wie Will. Ich sehnte mich sehr nach diesem Lachen. Und nach meinem besten Freund. Ich vermisste Liam fast so sehr wie Will.
Liam schaute plötzlich auf. Und ich war mal wieder zu sehr in Gedanken versunken, um zu reagieren. Er blickte mich ruhig an. Ich sah schnell weg. Schloss meine Augen und atmete tief ein. Nein, heute war Schluss. Wenn Liam die Kraft hatte, hierherzukommen, sich mit mir an einen Tisch zu setzen und mich anzuschauen, dann war ich es ihm wohl auch schuldig, ihm in die Augen zu sehen und alles zu ertragen.
Ich öffnete meine Augenlider, und begegnete Liams Blick. Ich erwartete die geballte Wucht an Gefühlen. Seine unbändige Wut, seinen tiefen Schmerz. Aber stattdessen blickte ich in traurige, aber auch besorgte Augen. Besorgt? Um wen? Um sich? Mich?
Verwirrt und sehr aufgewühlt erhob ich mich, riss mich von seinem fesselnden Blick los, und verschwand durch die Balkontür. Die Gespräche verstummten, und ich wusste, alle sahen mir hinterher. Ich hörte nur noch Katies Stimme:
»Ich schaue mal nach.«
Ich stand am Balkongeländer, krallte mich fest, suchte Halt. Die kalte Luft strömte in meine Lungen, kühlte mein erhitztes Gesicht. Ich blickte mit offenen Augen in die Dunkelheit. Jemand öffnete leise die Tür und schloss sie fast lautlos. Schon erwartete ich Katies Hand auf meiner Schulter und ihre helle Stimme. Doch mein Herz blieb fast stehen, als eine tiefe, immer noch sehr vertraute Stimme mich ansprach.
»Alison?«
Oh mein Gott! Von all meinen Freunden musste ausgerechnet ER mir hinterhergehen. Ich schluckte hart, schaute weiterhin in die Dunkelheit.
»Wie geht es dir?«, fragte Liam mit samtiger Stimme. Ich zögerte, drehte ihm aber dann doch meinen Kopf zu. Besorgt sah er mich an. MICH! Die doch an allem schuld war. Einen kurzen Moment war ich wütend. Ich hatte seine Fürsorge nicht verdient. Doch mein Herz lechzte nach Zuwendung. Es war zu lange alleine gewesen. Mit all meinem Schmerz und meiner Trauer.
»Gut.« Die Lüge ging mir inzwischen locker von den Lippen. Und die wenigsten fragten wirklich nach der Wahrheit. Die meisten wollten lieber die bequeme Lüge hören, damit sie zur Tagesordnung übergehen konnten. Doch Liam konnte ich nicht belügen. Er durchschaute mich. Vor allem aber gab er sich nicht mit der Lüge zufrieden. Liam zog seine Augenbraue hoch, und fragte nochmals mit Nachdruck: »Wie geht es dir?«
Innerlich musste ich über seine Hartnäckigkeit lächeln. Wie sehr ich das vermisst hatte. Wie sehr ich ihn vermisst hatte. Und mein verkümmertes Herz regte sich etwas, als mir bewusst wurde, dass er wirklich um mich besorgt war. Dabei schmerzte sein Herz doch mindestens genauso.
Ich seufzte tief, und antwortete leise: »Wie dir. Ein schwerer Tag nach dem anderen.« Liam nickte wissend. Er stellte sich dicht neben mich an das Balkongeländer, legte seine Hände auf das Holz und schaute hinaus in den Abend. Sein Atem hinterließ kleine Wolken in der Kälte. Ich betrachtete sein Profil, seine gerade Nase, seine geschwungenen Lippen. Seine kleine Narbe über der linken Augenbraue, die er sich als Kind zugezogen hatte, als er auf seinem Bett rumgehüpft war, bis er sich seinen Kopf am Nachttisch aufgeschlagen hatte.
»Ich vermisse ihn«, flüsterte er so leise, dass ich ihn kaum verstand, aber dennoch gingen seine Worte mir tief ins Herz. Liam sah mich an. Abwartend, traurig. Ich senkte meinen Blick.
»Ich auch«, flüsterte ich zurück. Hektisch blinzelte ich mit den Augenlidern, um die Tränen zurückzudrängen. »Vermissen« beschrieb nicht mal annähernd meine Gefühle, oder eben auch Nicht-Gefühle. Denn ganz oft fühlte ich nichts mehr. War wie leer.
Liam drehte sich um, lehnte sich gegen die Balkonbrüstung, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute durch die Balkontür zu unseren Freunden. Ich drehte meinen Kopf und folgte seinem Blick. Rebecca saß auf Kevins Schoß, lachte Katie an. Ihre Hand ruhte auf seinem Nacken, kraulte ihn sanft. Mit seinem typischen Grinsen blickte...