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Thomas Bagger gehört zu Deutschlands Top-Diplomaten. Geboren 1965 in Lüneburg, Studium in München, 1992 Promotion zum Thema »>Strategische Technologien<, internationale Wirtschaftskonkurrenz und staatliche Intervention. Eine Analyse der Entwicklungen und Widersprüche am Beispiel der Halbleiterindustrie«. 1992 tritt er die Diplomatenlaufbahn an, von 2023 bis 2025 ist er Staatssekretär im Auswärtigen Amt, nun neuer Botschafter in Rom. Bagger gilt als Vordenker deutscher Außenpolitik. 2019 veröffentlichte er in der Fachzeitschrift Washington Quarterly einen viel beachteten Artikel mit dem Titel »The World According to Germany«.8 Seine Diagnose: Deutschland ist unfähig, die Welt so zu erkennen, wie sie ist, und darauf aufbauend eine pragmatische Außenpolitik zu definieren. Als Hauptgrund identifiziert er zwei eng miteinander verwobene Irrtümer. Zum einen herrsche die Vorstellung einer linearen Entwicklung hin zur Ausbreitung parlamentarischer Demokratien. Zum anderen neigten viele hierzulande »zur Universalisierung unserer in Wahrheit einzigartigen deutschen historischen Erfahrung«. Wir hatten Glück. »Das geeinte Deutschland ist das Ergebnis eines friedlich gelösten Weltkonflikts. Wir aber neigen gern dazu, diese historisch fast singuläre Erfahrung zur Blaupause für andere zu erheben.« 9 Kaum jemand hat die Weltfremdheit der deutschen Außenpolitik so treffend auf den Punkt gebracht wie Bagger.
Der Diplomat mit ungewöhnlich klarer Sprache weist zudem auf eine besondere Selbsttäuschung mit Tendenz zur Selbstüberhöhung hin: Deutschland sei fest davon überzeugt, dass das Ende des Kalten Krieges und die Wiedervereinigung das »normative Normal« sind, nach dem die Welt strebt. Die Überwindung geopolitischer Konflikte und das Erreichen nationaler Selbstbestimmung - gekoppelt mit der wunderbaren Welt des Freihandels -, das ist aus deutscher Sicht das erstrebenswerte Normal. Wenn uns die Welt dann noch für diese Haltung liebt -»Die Welt zu Gast bei Freunden!« -, fühlen wir uns endgültig angekommen in einer neuen, besseren Weltordnung. Müsste eine Werbeagentur einen Slogan entwickeln, der die deutsche Befindlichkeit in Bezug zum Rest der Welt zusammenfasst, »Mehr Sommermärchen wagen!« wäre eine sehr ehrliche Option.
Eine gewisse Nostalgie ist aber nicht nur der Politik eigen. Auch Unternehmen hängen der guten alten Zeit des unipolaren Moments nach. Unternehmen erleben nach 1990 ihr eigenes, langes »Sommermärchen«. Insbesondere die deutsche Wirtschaft hat die Gunst der unipolaren Stunde besser genutzt als die meisten Wettbewerber. Die vielen mittelständischen »Hidden Champions« positionierten sich geschickt als Freunde zu Gast in der Welt, als sich nach dem Wegfall der geopolitischen Spaltung der Welt die Chance dazu ergab. Wenn schon nicht im Fußball Weltmeister, dann doch lange Zeit im Export.
Der Erfinder des Begriffs »Hidden Champions«, der Unternehmensberater Hermann Simon, sagt uns in einem Interview: »Im Rückblick erscheint uns vieles als selbstverständlich - aber dass es ausgerechnet die mittelständischen deutschen Unternehmen sind, die insbesondere Anfang des 21. Jahrhunderts die Weltmärkte erobern, ist schon beeindruckend. Wie kommt es, dass ein Unternehmen von der Schwäbischen Alb den China-Markt knackt, während Konkurrenten aus dem Ausland daran scheitern? Wir lächeln oft über unsere angebliche Provinzialität - die Hidden Champions erzählen eine andere Geschichte.«
Viele deutsche Unternehmen der Neunzigerjahre sind radikale Pragmatiker. Die Welt nach 1990 haben sie nicht geschaffen, aber sie haben die Chance erkannt und gehandelt. Die Blaupause für die global agierenden Unternehmen des unipolaren Moments hat der langjährige CEO von IBM, Sam Palmisano, in einem Artikel für das Magazin Foreign Affairs im Jahr 2006 entworfen: das »Globally Integrated Enterprise« (GIE). Palmisano beschreibt eine Organisation, die ihre Wertschöpfungskette global optimiert hat. Weder »Geo« (der Raum) noch »Politik« (Staatsgrenzen) spielen in diesem Modell eine Rolle. Die unterschiedlichen Teile eines Unternehmens werden durch digitale Netzwerke miteinander verbunden, die Kommunikation in Echtzeit ermöglichen. Ein deutsches Unternehmen aus Walldorf mit dem eleganten Namen »Systemanalyse Programmentwicklung« - die SAP - spielt hier eine wichtige Rolle. Mit »R/3« erfinden die Programmierer aus Walldorf die Unternehmenssoftware neu. Bislang war Enterprise-Resource-Planning-(ERP)-Software an sogenannte Mainframe-Computer gebunden - unhandliche und teure Maschinen. R/3 läuft auf Client-Server-Architekturen und ist wesentlich flexibler. Die SAP ermöglicht es Unternehmen, ihre zunehmend komplexeren Prozesse rund um den Globus - idealerweise in Echtzeit - zu managen. Das Timing ist perfekt: Der Launch findet zwei Jahre nach der Wiedervereinigung statt. Basierend auf diesen neuen Software-Tools werden Unternehmen mehr und mehr zu Globalisierungsoptimierern. Ihr wichtigstes Ziel ist die Skalierung. Am besten verkaufen Marketing und Sales ein einheitliches Produkt weltweit. Bei Palmisano liest sich das so:
»Das GIE ist ein Unternehmen, das seine Strategie, sein Management und seine Prozesse an einem neuen Ziel ausrichtet: die globale Integration der Produktions- und Wertschöpfungsketten. Staatsgrenzen definieren nicht mehr die Grenzen unternehmerischen Denkens oder Handelns.« 10
Eine besondere Rolle bei der Entwicklung des GIE kommt der Öffnung Chinas zu. Schauen wir zurück auf den März 2000. Die zweite Amtszeit des US-Präsidenten Bill Clinton neigt sich dem Ende zu. Höchste Zeit, sein »Meilenstein-Projekt« über die Ziellinie zu bringen: China soll Mitglied in der Welthandelsorganisation WTO werden. Das ist in den USA umstritten - von links kommt konstante Kritik wegen der Menschenrechtsverletzungen in China, im rechten Spektrum mag man keine »Deals« mit Kommunisten. Clinton sucht die Offensive. In einer Rede an der Johns-Hopkins-Universität in Washington wirbt er für seinen US-China Relations Act - ein Gesetz, das die Handelsbeziehungen zwischen den USA und China »normalisieren« soll. »Wirtschaftlich wird dieses Abkommen eine Einbahnstraße sein«, verspricht Clinton. »Zum ersten Mal werden unsere Unternehmen in der Lage sein, in den USA hergestellte Waren direkt in China zu verkaufen, ohne dass die Produktion nach China verlagert, an die chinesische Regierung verkauft oder wertvolles Technologiewissen übertragen werden muss.« 11 Klingt gut, aber das ist für den scheidenden Präsidenten noch nicht alles. China, so die Hoffnung, werde sich durch die wirtschaftliche Öffnung grundlegend verändern und zu einer liberalen Demokratie werden. »Wandel durch Handel« ist keine deutsche Erfindung, auch wenn sie so schön klingt, dass sie Anglophone gerne auf Deutsch zitieren. Clinton denkt dabei vor allem an die positiven Effekte von Technologien: »Im neuen Jahrhundert wird die Freiheit sich mit Mobiltelefonen und Modems [sic] ausbreiten.«12
Bill Clinton hat Erfolg mit seiner China-Kampagne. Er überzeugt sogar viele Republikaner im Kongress. Ein Jahr später tritt China der WTO bei. Aus US-Sicht ist China auf dem Weg, dem »End of History«-Club beizutreten. Wirtschaftlich geht die Strategie ebenfalls auf. Eine Studie der London School of Economics belegt, dass der Handel mit China zwischen 2000 und 2007 die Kaufkraft eines jeden US-Haushalts um 1500 Dollar erhöht.13 Chinas Exporte klettern von 266 Milliarden Dollar im Jahr 2001 auf 2,3 Billionen Dollar im Jahr 2015.14 Globale Wertschöpfungsketten verändern sich in den Folgejahren rasant, insbesondere im Technologiesektor. Die WTO gibt 2017 bekannt, dass Exporte, die unter das Information Technology Agreement (ITA) fallen, von 549 Milliarden Dollar im Jahr 1996 auf 1,65 Billionen Dollar im Jahr 2015 angestiegen sind. So ungefähr hatte man sich die Integration Chinas in die Weltwirtschaft vorgestellt. Das neue »Normal« der Geo- und Handelspolitik scheint auf den ersten Blick ein wunderbares Mehrsummenspiel. Alle gewinnen.
Und Unternehmen drehen weiter an der GIE-Schraube: Es wird immer schwerer, diese Unternehmen zu lokalisieren. Zwar gibt es irgendwo noch ein »Headquarter«, dessen Standort die »Nationalität« des Unternehmens bestimmt. Doch Wertschöpfung findet global statt. Ansgar hat sieben Jahre für HP gearbeitet - am Hauptquartier in der Page Mill Road im kalifornischen Palo Alto lässt sich der Wandel gut ablesen. Die alten Teile des Campus (gebaut auf Land, das der Stanford-Universität gehört) waren noch als Produktionshallen geplant - mit dem klassischen Sägezahndach, das eine gute Ausleuchtung garantiert. Managerbüros waren Teil der Produktionsfläche, die Produktentwickler schauten den Ingenieuren quasi über die Schulter. Heute stehen in den viel zu großen Hallen etwas verloren die mausgrauen »Cubicles«, in denen geplant und verwaltet wird. Die Produktion findet längst in China oder Vietnam statt - ausgeführt von Vertragsfirmen wie Foxconn.
Aber nicht nur die Produktion, selbst geistiges Eigentum wird vom GIE »global optimiert«. Unternehmen gehen mehr und mehr dazu über, ihr geistiges Eigentum dort zu lokalisieren, wo die wenigsten Steuern anfallen. Landesgesellschaften des Unternehmens,...
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