Schweitzer Fachinformationen
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»Olá, Stella!« Sie war so in den Anblick der Schwäne vertieft, dass sie den Ruf erst beim zweiten Mal hörte. Sie löste ihren Blick von den Kacheln an der Hausmauer. Von der anderen Straßenseite winkte ihr Madalena zu. In der Linken hielt sie eine Korbtasche. Sie hatte wohl die kurze Mittagspause genützt, um bei António ein paar Einkäufe zu erledigen, ehe sie zurück in ihre Apotheke eilte. Dort herrschte seit Tagen Hochbetrieb. Das Wetter zeigte sich anhaltend schlecht. Der eiskalte Wind von der Atlantikküste und die Nässe, die einem durch die Knochen kroch, forderten ihren Tribut. Die Umsätze für Erkältungstee, Hustensaft und Grippetabletten stiegen. Madalena und ihr Mann hielten die Apotheke offenbar auch am heutigen Sonntag geöffnet.
»Bom dia, Madalena.« Sie hob die Hand, deutete einen Gruß an.
»Was machst du zu Weihnachten?«
»Ich weiß noch nicht so recht. Teresa hat mich eingeladen. Aber vielleicht bleibe ich auch zu Hause.«
»Besuchst du uns während der Feiertage? João und ich würden uns freuen.«
»Ich melde mich.«
»Wunderbar! Bis bald.« Die kleine grauhaarige Frau hob zum Abschied die Hand. Dann stapfte sie davon. Stella sah ihr nach, bis sie hinter der Glastür der Apotheke verschwand. Madalena war die erste Teilnehmerin in ihrem Yogakurs gewesen. Als Felipe sich davongemacht und einen Berg an Schulden hinterlassen hatte, hatte Stella anfangs nicht gewusst, wie sie sich über Wasser halten sollte. Der Yogakurs war ihr erster Rettungsanker gewesen. Anfangs war der Unterricht mehr als zäh verlaufen. Stella war oft verzweifelt gewesen, knapp davor, alles hinzuschmeißen. Aber die rührige Madalena hatte ihr stets Mut zugesprochen. Und sie hatte vor allem eines gemacht: eine Freundin nach der anderen aus ihrem großen Bekanntenkreis in Stellas Kurs gelotst. Allmählich hatten sich die Yogastunden rentiert. Den zweiten Rettungsanker verdankte sie David. Er hatte ihr den Kontakt zu zwei Touristikagenturen vermittelt. Seit damals führte sie Portugalreisende durch die attraktivsten Städte der mittleren Regionen, durch Coimbra, Leiria, Linhares, Batalha, Alcobaça und vor allem Tomar, das ihr seit über 20 Jahren Heimat geworden war. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Hausfassade zu. Die Sonderangebote des Bekleidungsshops im Erdgeschoss interessierten sie weniger. Ihr Blick richtete sich auf die Verkleidungen der Erker in den Obergeschossen. Sie hatte den Mauerschmuck sicher schon Tausende Male gesehen, seit sie vor 22 Jahren in diese Stadt gekommen war. Aber die Azulejos, die für Portugal so typischen kunstvoll gestalteten Keramikfliesen, erfreuten sie jedes Mal aufs Neue. Als sie noch in Lissabon gelebt hatte, war kein Monat vergangen, an dem sie nicht den Bus bestiegen hatte, um sich in die Rua Madre de Deus bringen zu lassen. Dort lag das Museu Nacional do Azulejo. In einem ehemaligen Kloster konnte man Exponate der portugiesischen Kachelkunst aus sechs Jahrhunderten bewundern. Sie liebte die Farbenpracht und die exotischen Muster der Darstellungen. Manche erinnerten sie an ihre eigenen Zeichnungen aus der Schulzeit. Sie hatte als Kind gerne gemalt. Keine Madonnen und Heilige, sondern Segelboote, Flugzeuge, Raumschiffe. Sie hatte sich dabei immer vorgestellt, an Bord zu gehen und in die Ferne zu reisen. Weit weg. In fremde Länder, auf unbekannte Planeten. Tiere hatte sie auch gerne gemalt, Schmetterlinge, Papageien, Adler und am allerliebsten Schwäne. Von allen Erzählungen hatte es ihr als Kind das Märchen vom hässlichen Entlein, das eines Tages ein stolzer Schwan wird, am meisten angetan. Sie hatte tiefes Mitgefühl mit dem kleinen tollpatschigen grauen Vogel aus der Märchengeschichte empfunden. Sie hatte oft mit ihm geweint, wenn das Entlein sich wieder einmal als Außenseiter fühlte und nicht verstehen konnte, warum es so anders aussah als alle anderen. Mit 18 war Stella dann tatsächlich aufgebrochen, um endlich ein Schwan zu werden. Vielleicht verweilte sie deshalb so gerne vor den Kacheln mit den Schwänen an der Hausfront. Die eleganten Vögel erinnerten sie an ihre eigenen Träume. Die Fliesen waren nicht mehr im allerbesten Zustand. Sie reichten nicht an die Qualität der Museumsstücke heran, und sie waren auch nicht so gut restauriert wie die prächtigen Exemplare im Kreuzgang des Konvents von Tomar, oben auf dem Berg. Aber das machte Stella nichts aus. Die Kacheln mit den Schwänen waren nicht abgeschirmte Ausstellungsobjekte in irgendeinem Museum. Nein, sie prangten an einer Hausfassade mitten im Leben, in einer Straße mit Geschäften, Handwerksläden, einer Apotheke, einer Bank, einem Notariat und zwei Imbissbuden. Braunes Moos hatte sich in den Mauerrissen angesetzt. Doch das störte die drei Schwäne nicht. Elegant zogen sie ihre Spur über den Teich. Sie waren majestätische Erscheinungen, die in der hektischen Turbulenz der städtischen Umgebung Gelassenheit ausstrahlten. Das märchenhafte Blau der Kacheln, das in ähnlicher Manier auch die Front des Nachbarhauses mit arabesken Mustern verschönte, harmonierte gut mit den orange schimmernden Lampen der Weihnachtsdekoration, die quer über die Straße gespannt war. Eine mächtige Böe des auffrischenden Windes griff nach den blinkenden Sternen, das Dekorationsgebilde schaukelte bedrohlich. Einige der Passanten wandten die Köpfe nach oben, keiner schien beunruhigt. Die Weihnachtssterne würden halten, genauso wie der Rest der Girlanden, der sich durch die Straße bis hin zum Hauptplatz zog. Davon war auch Stella überzeugt. Abenteuerlich anmutende Elektrokabel an den Außenmauern der Häuser gehörten zum Straßenbild portugiesischer Städte wie die kleinen Läden, die großen Plätze, die pittoresken Kirchen und das freundliche Lächeln der Kellner vor den Cafés. Das hatte Stella schon bei ihrer Ankunft in Portugal vor einer halben Ewigkeit festgestellt, und das versuchte sie auch den Touristen näherzubringen, denen sie die Gegend zeigte. Die blauen Schwäne an der Fassade zu betrachten, sich in den Anblick der Vögel zu vertiefen, war das einzige Vergnügen, das sie sich bisweilen gönnte. Zu viel war passiert in den vergangenen Jahren. Ihr Herz fühlte sich manchmal an wie ein verdorrter Klumpen. An kaum etwas empfand sie Freude, außer am Betrachten der weiß gefiederten Wasservögel an der Hausmauer. Sie atmete tief durch und setzte langsam ihren Weg über die Hauptstraße fort. In der Ferne erhob sich ein steil ansteigender Berg. Die Kuppe war geprägt von den gezackten Mauern und dem wuchtigen vierkantigen Turm der ehemaligen Kreuzritterfestung. Die Geschichte des Klosters, des Convento de Cristo, war eng verbunden mit der Geschichte der Tempelritter. Den Rittergestalten mit dem großen Kreuz auf Wams und Schild entging man in Tomar nirgends. Sie prägten das Bild der Stadt, ob als Spielzeugfiguren, als Schaufensterdekoration, als Wandmalereien oder als platzbeherrschendes Monument. Das hatte Stella anfangs befremdlich gefunden. Sie hatte noch nie viel für Mittelalterrummel übergehabt. Und Typen, die in Eisenmonturen mit gezücktem Schwert drauflosstürmten, waren ihr immer schon suspekt gewesen. Aber sie musste sich eingestehen, dass die schrägen Abenteurer in ihren Rüstungen lange nicht so niederträchtig waren wie die hinterhältigen Kerle, auf die sie im Lauf ihres Lebens hereingefallen war. Und ganz oben auf der Chartliste ihrer bittersten Enttäuschungen stand Felipe.
Stella erreichte die Praça da República. Die Mitte des Platzes wurde von einer Rittergestalt auf einem hohen Sockel beherrscht. Sie begrüßte das Monument mit einem kurzen Kopfnicken.
»Olá, Gualdy.« Dass der eherne Krieger im Kettenhemd ihr keine Antwort geben konnte, war ihr ganz recht. Konversation mit Männern war sie ohnehin nicht mehr gewohnt. Die Augen der Statue blickten finster in die Ferne. Eine Taube kam angeflattert, setzte sich auf den Helm der Statue. Die Landung des kleinen Vogels entlockte Stella ein kurzes Lachen. Nicht einmal das Federvieh hat Respekt vor dem grimmig blickenden Beherrscher der Stadt, Gualdim Pais, dem ersten Ordensmeister, der Mitte des zwölften Jahrhunderts Kloster und Stadt gegründet hatte. Die Konditorei an der Ecke des Platzes war geöffnet. Stella ließ sich auf einen der Stühle im Freien nieder, dicht am wärmenden silberfarbenen Heizpilz. Sie bestellte einen Kräutertee.
»Rudolph, the red-nosed reindeer had a very shiny nose«, dudelte es aus einem verborgenen Lautsprecher. Dem englischsprachigen Weihnachtssong über das rotnasige Rentier entging man auch in Portugal nicht. Sie registrierte es eher nebenbei. Sie machte sich nicht viel aus Weihnachtsliedern, egal in welcher Sprache.
Der Kellner brachte ihr eine Decke. Sie hüllte sich damit ein, lehnte sich zurück. Das Aroma des Tees war ansprechend, das heiße Getränk tat ihr gut. Fast der gesamte Boden des Platzes war mit auffälligen Steinen überzogen. Sie bildeten helle und dunkle Rechtecke wie bei einem überdimensionalen Schachbrett. Drei Kinder spielten auf dem Pflaster, umkurvten den steinernen Tempelritter. Das größte der Kinder, ein etwa zwölfjähriges schwarzgelocktes Mädchen, trug eine Santaclausmütze auf dem Kopf. Die anderen versuchten die Schwarzhaarige zu erhaschen, um ihr die Mütze zu entreißen. Das schrille Lachen der herumtollenden Kinder flog über dem Platz, übertönte sogar das Gedudel aus dem Caféhauslautsprecher.
»Hi, Stella, brauchst du wieder einen Bacalhau?« Ein junger Mann steuerte auf ihren Tisch zu. Sie erkannte Miguel Alves. Er studierte Elektrotechnik in Lissabon. In den Ferien half er manchmal in der Sinagoga aus. Im ehemaligen Gebetshaus von Tomar ist das jüdische Museum der Stadt untergebracht, eines der...
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