Schweitzer Fachinformationen
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Joy Ambros saß in dem Wartesaal der kleinen Station, wo der Zug nur lange genug gehalten hatte, um einem verschlafenen Stationschef den Unglücksfall zu melden und drei Passagiere zurückzulassen: sie selbst, George Watts, der mit barscher Miene die Erledigung der Formalitäten übernommen hatte, und Major Ryerson, der sich aus unbekannten Gründen entschlossen zu haben schien, bei ihnen auszuhalten. Joy starrte in ihre Handflächen. Am Daumenballen ihrer Rechten hatten Mutters Zähne viele kleine, blau verfärbte Abdrücke zurückgelassen.
»Was haben Sie da an der Hand, Kindchen? Es blutet, haben Sie sich verletzt?«, hatte die ältliche Krankenschwester im Zug gefragt.
»Ach, das? Ich muss in der Aufregung an meinem Daumen genagt haben; eine schlechte Angewohnheit von mir, immer, wenn mir die Nerven durchgehen -«
Das Brennen von Jod in der Wunde, das Glitzern einer Spritze in der Hand der Schwester. »Nein, nein, kein Morphium, nichts was mich einschläfert. Ich will nicht schlafen, ich darf nicht schlafen!«, hatte Joy geschrien und die sich nähernde Spritze abgewehrt. »Ich bitte Sie, Schwester, geben Sie mir nichts zum Einschlafen. Ich muss ja wach bleiben, ich muss in der nächsten Station aussteigen. Man wird sicher eine Rettungsmannschaft ausschicken, ich muss sie zu der Stelle führen, wo es geschehen ist, ich muss dabei sein - wenn sie gefunden wird -«
»Schon recht, schon recht, Kindchen, beruhigen Sie sich, seien Sie nicht so zapplig, hier, nehmen Sie zwei von den Pillen, das wird Ihre Nerven beruhigen«, sagte die Schwester etwas verärgert. »Nervenschock -«, hörte Joy sie den beiden Männern melden, die vor dem Abteil warteten. »Sie ist noch nicht recht zu sich gekommen, na, das ist ja auch besser für sie, die Natur hat eben ihre eigenen Betäubungsmittel -« Joy spuckte die Tabletten aus, sobald die Krankenschwester ihr den Rücken gekehrt hatte. Ich darf mir den Kopf nicht mit diesem Zeug einmummeln lassen, ich muss klar denken können, ich muss mich zusammenhalten; dies schien eine ausgezeichnete Bezeichnung für das, was ihr nottat. Eine Hälfte von ihr war außerordentlich hell und klar, ein gläserner Leuchtturm, der sie mit seinem immer wachen Scheinwerfer durchleuchtete; die andere Hälfte vermummt in eine undeutliche, verdämmernde, gelähmte Dumpfheit - und es war ihr fast unmöglich, diese zwei Hälften zusammenzuhalten und ein Ganzes aus ihnen zu machen.
Sie stand auf und begann, an den Wänden des Wartesaals entlangzuwandern. »Wie heißt die Station eigentlich?«, fragte sie den Stationschef; das außergewöhnliche Ereignis hatte den kleinen kurzsichtigen Mann aus seiner Verschlafenheit in eine heftige und neugierige Erregung versetzt.
»Sie meinen die Station? Tokema - wir sind ein kleiner Ort, aber recht hübsch bei Tag; übrigens, wenn die Dame vielleicht in meinem Büro warten möchte, bis der Herr Gemahl zurückkommt - ich habe ein Radio da, ach, bitte um Entschuldigung, ich dachte, der Herr Major seien mit der Dame verheiratet-«, fügte er hastig hinzu, als er Joys verständnislosem Blick begegnete.
»Besten Dank, aber bitte bemühen Sie sich nicht um mich. Ich brauche nichts, besten Dank«, wiederholte Joy schon zum sechsten Mal auf die wohlgemeinten Versuche des Stationschefs, sie zu zerstreuen. Watts und Ryerson waren in das schlafende Städtchen gegangen, um eine kleine Rettungsmannschaft auf die Beine zu bringen; die Zeit verging, unerträglich langsam und zugleich erschreckend schnell. Der Stationschef zog sich taktvoll in seinen gläsernen Verschlag zurück und verfolgte sie von dort mit seinen wachsamen und mitfühlenden Blicken. Sie ertrug es ein paar Minuten lang, und dann verließ sie den Wartesaal mit seinen abgestandenen Gegenständen und Gerüchen - die Messingspucknäpfe, das unbenutzte Kohlenöfchen, die schlafende Kaffeemaschine, die längst überholten Bierplakate, die von Fliegen beschmutzten Fahrpläne an den Wänden. Draußen setzte sie sich im Schutz des Daches auf eine Bank, hier war es kalt, die Luft war feucht; es roch angenehm nach regengetränkter Erde. Ein zottiges gelbes kleines Hündchen kam herbei, um an ihr zu schnuppern, fasste sogleich eine heftige Zuneigung zu ihr und entschloss sich, ihr Gesellschaft zu leisten; weit gähnend redete es zu ihr in der ausdrucksvollen Sprache seines wedelnden Schweifes und seiner flehenden Augen. Joy war dankbar für seine stumme Gegenwart und die Erlaubnis, ihre Hände in seinem Fell zu wärmen. Jetzt komme ich langsam zu mir, dachte sie; es war wie nach einer schweren Operation, wenn die Wirkung der Narkose nachlässt und die Schmerzen einsetzen. Man wurde seiner Pein gewahr, nicht abrupt und auf einmal, sondern stückweise; das Bewusstsein breitete sich aus wie eine hellrote Flüssigkeit über einer weißen Fläche, bald hier, bald dort; breitete sich aus und lief ineinander und war zuletzt überall und bedeckte alles: Ich habe Mutter getötet. Ich habe sie getötet. Es war ein beißender, brennender Gedanke, eine Folterqual. Mutter hat mir einmal das Leben gerettet, und zum Dank dafür habe ich sie getötet. Sie hat mir das Leben gerettet, das ist wahr, sie trug mich aus dem brennenden Haus und durchs Feuer, ich war erst drei Jahre alt, aber ich kann mich noch daran erinnern -
Joy war nie imstande gewesen, ihre eigenen Erinnerungen an den Brand aus dem verstrickten Dickicht der oft wiederholten alten Geschichten zu lösen, die sich in ihr Gedächtnis gedrängt, es überwuchert und umgeformt hatten, es gab nur zwei Dinge, an die sie sich mit großer Deutlichkeit und völlig klar erinnern konnte: Das eine war ihr Spielzeug, Bunny, das ihr jemand inmitten eines wilden Stimmengetöses weggenommen hatte und das später auf wunderbare Weise zu ihr zurückgekehrt und mit ihr schlafen gegangen war. Sie hatte Bunny nicht vergessen, weil es bis zu ihrem achten Jahr ihr Freund und Bettgenosse geblieben war; bis zu der Zeit, da ihre Eltern ihr ein bezauberndes kleines Babybrüderchen zum Geschenk machten und sie ein für alle Mal aufhörte, sich für Spielzeug zu interessieren.
Das andere, woran sie sich erinnern konnte, war Beatrices schwarzes Wolltuch. Sie erinnerte sich auch an Beatrice, aber nicht so deutlich wie an jenes Tuch; es war nicht eigentlich schwarz gewesen, sondern zu einem ungewissen Braun verschossen, wenn sie ihre Augen schloss, sah sie es so deutlich, dass sie es hätte malen können: ein großes wollenes Viereck, zu einem Dreieck zusammengelegt, mit zottigen Fransen, und in einer Ecke war ein Flicken mit kleinen Stichen eingesetzt. Und dann der Geruch dieses Tuches - Schafwolle, Zwiebeln, Öl, eine Spur von Beatrices warmem Körper, ein Hauch von kaltem Weihrauch, Kirche, Italien. Und dann war jener andere unvergessliche Geruch dazugekommen: Wein. So hatte man ihr erzählt, daran konnte sie sich erinnern: wie dieser weingetränkte Schal um sie gewickelt wurde und wie sie davon ein wenig benebelt wurde und außerordentlich lustig, der Rest jedoch kam nicht aus ihrem eigenen Gedächtnis, sondern war eine Legende und eine Ballade und ein immer wieder zitierter Refrain: ». da trug ich dich auf meinen Armen, und die brennenden Balken krachten rechts und links herunter, ich musste direkt durch die Flammen gehen, und du gucktest sie mit deinen großen Kinderaugen an, und für mich gab es nichts anderes, als dass ich durchkommen musste und dir kein Schaden geschehen durfte. Noch heute weiß ich nicht, wieso ich das konnte, eine ängstliche Maus wie ich, aber ich musste es tun, und ich tat es deshalb. Es gibt eben unbekannte Kraftreserven noch im schwächsten Geschöpf, wenn man jemanden so lieb hat wie ich dich, meine kleine Joy .«
Es musste am Morgen nach ihrer Errettung gewesen sein, dass Joy in einem fremden Zimmer aufwachte, in dem kein Ding auf dem Platz stand, wohin es gehörte. Das erschreckte sie sehr, denn es hatte etwas mit dem schwarzen Mann zu tun, der einen holte, oder vielleicht war sie ein geraubtes Kind wie das, von dem Beatrice in der Küche erzählt hatte, oder, noch ärger, Annelina hatte sie weggeworfen, wie sie gedroht hatte, und jetzt würden die Wölfe kommen und sie auffressen. Das Bett, in dem sie lag, war riesengroß, vermutlich gehörte es einem Märchenriesen, und ein Zaun aus Stühlen war ringsherum gebaut worden, um sie vor dem Herausfallen zu bewahren. Jenseits dieser Stühle hörte sie Beatrices Schnarchen, ein wunderbar bekanntes und tröstliches Geräusch. Joy stellte sich im Bett auf und sah, dass Beatrice auf dem Fußboden schlief, sie war mit dem schwarzen Tuch zugedeckt, und ihr Mund stand weit offen, sein Inneres war gleichfalls schwarz und voll von puffenden kleinen Tönen. Joys nächste Entdeckung war ein blauer Märchenvogel, der auf einem Zweig vor dem Fenster saß und sprechen konnte. »Joy«, sagte er zu ihr, »Joy! Joy!«, rief er, und sie entschloss sich sogleich, ihn zu fangen. Sie kroch über die Stühle zu Beatrice und tupfte mit den Fingern auf die runzligen, dunklen Lider, sie versuchte, sie aufzuwecken, aber Beatrice wollte die Augen nicht aufmachen. Joy, die inzwischen recht munter und unternehmungslustig geworden war, ging auf weitere Entdeckungsreisen; es gelang ihr mit einiger Mühe, die Tür aufzumachen, da war ein Korridor und eine andere Tür gegenüber, hinter der sie ihren Vater leise lachen und reden hörte. Plötzlich wurde ein Sonntagmorgen daraus, an dem man zu Papa und Mama ins Bett kriechen und mit ihnen herrlich toben durfte. »Mama!«, rief sie. »Wo bist du, Mama?« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, erreichte die Türklinke und öffnete auch diese Tür. Das Zimmer war etwas dämmerig hinter den herabgelassenen Gardinen, aber sie konnte Papa erkennen, der sich im Bett aufsetzte, er rauchte eine...
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