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Emanuels Vater hatte noch Rosenhain geheißen und war der Besitzer der bekannten Buchhandlung Rosenhain in der Nähe der Hauptwache gewesen, die Emanuels Großvater, Sigmund Rosenhain, aus dem Handel mit Altpapier und gebrauchten Büchern entwickelt hatte. Von dem Urgroßvater wurde berichtet, dass er noch mit dem Pack auf dem Rücken hausieren gegangen sei; andererseits hatte die alte, süddeutsche Familie in jeder Generation einen oder den andern Schriftgelehrten oder sogar Rabbiner aufzuweisen gehabt, was allen Abkommen eine leichte und sichere Handhabung geistiger Dinge vererbte, zusammen mit einer Neigung zur Kurzsichtigkeit.
Auf das Drängen seiner Frau hatte Emanuels Vater um eine Änderung seines Namens angesucht und durch das Weglassen der ersten zwei Silben war der jüdische Klang ins Deutsche abgewandelt worden. Emanuels Mutter war eine schöne, elegante Frau mit hellbraunem Haar und einer weißen Haut gewesen, die gerne auf Reisen ging. »Ist es notwendig, dass man uns als Frankfurter Juden erkennt, sowie wir uns ins Hotelbuch einschreiben?«, sagte sie, und ihr Mann, indolent in solchen Fragen, tat ihr den Willen. Sein Bruder allerdings, der Arzt Paul Rosenhain, neckte ihn oft deshalb mit einer kleinen, scharfen Verbostheit im Untergrund. Er war kein besonderes Licht als Arzt, aber ein guter, zuverlässiger Familiendoktor, ein vergnügter Junggeselle, dem die Kinder besonders zugetan waren. Seine Klientel bestand meistens aus christlichen Familien, da jüdische Ärzte im Ruf standen, die besten zu sein.
Eine der stehenden Anekdoten im Repertoire von Emanuels Mutter wurde die Geschichte seines Benehmens bei seiner Taufe. Er hatte, so schien es, den alten Pastor Meiners zunächst ernst und schielend vor Anspannung angeschaut, hatte plötzlich und ganz unerwartet ein helles Krähen ausgestoßen, mit zahnlosem Gaumen gelacht und des Pastors Hand von seinem Köpfchen wegzuzerren versucht - eine erstaunliche Demonstration von Kraft und Verstand bei einem nur drei Wochen alten Kinde. Emanuel hörte späterhin diese kleine Geschichte so oft, dass es ihm mit der Zeit so vorkam, als könne er sich an seine eigene Taufe erinnern, an die Kerzen, das blank rasierte Gesicht von Pastor Meiners und an den trocken kalten Geruch des Domes.
Emanuels Großeltern hatten bis zu seiner Geburt im Hause seiner Eltern mit gewohnt, aber einen Monat nach seiner Taufe übersiedelten sie in eine Mietwohnung mit großen, hohen Zimmern und Gasbeleuchtung. Sie gaben keinen bestimmten Grund für diesen Wechsel an, denn in der Familie Rosenhain war man zu zivilisiert, um zu streiten, und zu klug, um seine Meinung geradeheraus zu sagen. Nur als der alte Sigmund Rosenhain sich zum ersten Mal in der neuen Wohnung ins Bett legte, zwei Tonflaschen, in denen vorher Kümmelschnaps gewesen war und die seine Frau mit heißem Wasser gefüllt hatte, an seinen kalten Füßen - da seufzte er, halb resigniert, halb erleichtert.
»Was soll die Frau Geheimrat Schönchen jedes Mal über zwei alte Juden stolpern, wenn sie zu Besuch kommt?«, sagte er, nach jüdischer Weise eine Frage an Stelle einer Behauptung setzend. Die Frau Geheimrat Schönchen, Emanuels Taufpatin und die beste Freundin seiner Mutter seit Pensionatszeiten, war für die sachte Schwenkung der Familie Hain ins Christliche hin verantwortlich zu machen.
Es war die Zeit des liberalen Bürgertums in Deutschland. Der Sieg von Sedan, die Gründerzeit, der Krach waren vorbei. Alles war wieder Aufschwung und gutes Leben. Die Banken florierten und bauten sich Prunkgebäude im Stil des Palazzo Pitti. Das Hainische Haus in der Paulsgasse stand in dem neuen Viertel, das an der Stelle der ehemaligen Stadtwälle von Frankfurt aufwuchs. Es war im altdeutschen Stil gebaut, der die neue Mode war, mit einem verunglückten Versuch, die Giebel der deutschen Renaissance nachzuahmen. Obwohl in der Altstadt die schönsten Muster alter Fachwerkbaukunst standen, brachten die jungen Architekten nur etwas Verworrenes und Aufgeblasenes zustande. Aber die Bürger in ihrer Sicherheit und ihrem Reichtum fühlten sich wohl zwischen imitiertem Marmor und falschen spanischen Ledertapeten und zwischen ihren schweren, geschnitzten Möbeln, deren Abstauben zu einem Ritus erhoben wurde.
Dort hinter dicken, dunklen Vorhängen, in der Obhut einer Kinderfrau aus den hessischen Bergen, wuchs Emanuel auf. An Sonntagen roch das Haus nach Gänsebraten und Gurkensalat, nach Kaffee und frischem Hefekuchen und nach den Zigarren seines Vaters. Abends kam ein zartes Parfüm in sein Zimmer geweht - Mama, angezogen für die Oper oder für eine Gesellschaft. Er liebte Mama, er streichelte über das feine, schwedische Leder ihrer langen Handschuhe, und wenn die Tür sich wieder hinter ihr schloss, hätte er gerne ein bisschen geweint. Er weinte aber nicht, denn er war ein Mann, so wenigstens sagte Onkel Paul, der auch darauf sah, dass er mit kaltem Wasser abgerieben wurde und regelmäßig spazieren ging.
Emanuels Kindheit war eingebettet in Ruhe und Sicherheit; eine Sicherheit, so tief und gleichmäßig, dass sie ihm in späteren Jahren unfassbar erschien. Als wenn die ganze Menschheit schliefe, in einer Wiege, in einer Muschel eingeschlossen, das Kind Emanuel ein winzigster Teil dieser Ruhe.
Hinter dem Haus war ein Garten, zuerst sehr groß, der immer kleiner wurde, als Emanuel heranwuchs. Im Oktober wurden Nüsse vom Walnussbaum geschlagen, in ihren grünen Schalen fielen sie dumpf ins Gras und rochen nach bitterem Herbst. Man bekam schwarze Finger vom Schälen, und dann ärgerte sich Mama. Papa lachte nur hinter seiner Zeitung, in einer Wolke von Zigarrenrauch. Zur Zeit des neuen Weines wurden vergnügte Familienausflüge nach den pfälzischen Rebenhügeln gemacht.
Was Emanuel zunächst kränkte, war der Umstand, dass er Kleidchen tragen musste wie die Mädchen. Zu seinem dritten Geburtstag jedoch bekam er die ersten Hosen und glänzende Stulpstiefel, die er so liebte, dass er sie mit ins Bett nahm. Als er zur Schule kam, trug er einen kleinen Matrosenanzug, wie alle »feinen« Kinder der Stadt, mit einem Schifferknoten, der unter dem breiten Kragen hervorkam. Unter Tränen nahm er Abschied von seiner Kinderfrau und befreundete sich widerwillig mit Mademoiselle, die ihren Platz einnahm. Eine kleine Schwester, Pauline, hatte sich eingefunden, ein hilflos sabberndes Wesen, und ordentliche Leute mussten Französisch sprechen können. Seufzend gab Emanuel sich in die beiden Unannehmlichkeiten.
Jeden Freitagabend wurde er zu den Großeltern gebracht, und es ist anzunehmen, dass Großvater mit Bedacht gerade den Freitagabend für die Besuche seines Enkels gewählt hatte. An diesem Abend nämlich begann der Sabbat. Auf dem Tisch lag ein weißes Damasttuch, darauf ein geflochtenes Brot, und es standen zwei brennende Kerzen in alten Silberleuchtern da, über die Großvater einen Segen murmelte. Dazu trug er ein schwarzes Käppchen auf dem Kopf, und ein feines weißes, gefranstes Seidentuch mit eingewebten goldenen Fäden lag auf seinen Schultern.
Wann die jüdischen Feiertage waren, das konnte man in Frankfurt daran erkennen, dass viele Herren mit blanken Zylinderhüten auf der Straße zu sehen waren, tugendhaft ein Gebetbuch unterm Arm. Sie gingen zum Tempel, um zu beten, erfuhr Emanuel. Er selbst wurde auch einmal zum Tempel mitgenommen, nur einmal. Sein Großvater führte ihn an der Hand, durch die alte Stadt mit ihren Plätzen und Giebeln und Brunnen, bis zu einem kleinen, uralten, buckligen Haus. Drinnen standen viele brennende Kerzen, es roch komisch, und es wurde näselnd gesungen. Emanuel begann sich zu fürchten und weinte. Onkel Paul neckte ihn noch oft deshalb. Mama sagte zu Vater: »Ich kann mir nicht helfen, es ist überflüssig. Warum muss Großvater das Kind aufregen?« Und obwohl das Ehepaar Hain sich inzwischen auch hatte taufen lassen, so verwendete Frau Hain doch noch immer eine Frage anstatt einer Behauptung. Von diesem Tempelbesuch an wurden Emanuels Besuche bei den Großeltern auf Mittwoch verlegt, und er vergaß bald die Sabbatstimmung der Freitagabende. Erst als er schon die fünfzig überschritten hatte, erinnerte sich Dr. Hain mit immer wachsender Deutlichkeit an seinen Großvater, an die Kerzen und das geflochtene Brot und an die warme Geborgenheit, mit der seine Hand in Großvaters Hand gelegen hatte, an jenem einmaligen Gang zum Tempel.
Als Großvater starb, da weinte er, aber er wurde nicht zum Leichenbegängnis mitgenommen, sondern musste ein paar Tage bei Frau Geheimrat Schönchen wohnen, und er zerbrach eine Kaffeetasse, die noch aus Goethes Haushalt stammte. Dann erbte er Großvaters Geige.
Großvater war ein großer Musikfreund gewesen, ein Liebhaber von Mozart und Beethoven, von Mendelssohn und Chopin, aber auch von Rossini und Meyerbeer. Hingegen hatte Großvater mit einer erbitterten und fanatischen Feindschaft seinen Enkel vor einem Schwindler und Teufel gewarnt namens Richard Wagner. Als Emanuel später zum ersten Mal zu der Vorstellung einer Wagner'schen Oper ins Theater mitgenommen wurde, horchte er zunächst mit Angst und Abscheu, unheimlich betroffen von dem erregenden Schwall von Klängen. In späteren Jahren sollte die Abneigung in eine leidenschaftliche und etwas trunkene Liebe umschlagen. Aber noch war es nicht so weit. Noch ging Emanuel zur Volksschule, stand früh und frierend auf, wurde unnachsichtlich der kalten Abreibung unterzogen, die Onkel Paul verordnet hatte, trabte an Mademoiselles Hand zur Schule, lernte lesen und schreiben und rechnen, nebst Geografie und Geschichte, aus welchen Klassen er ein höchst einseitiges Bild mitnahm: so, als ob Deutschland der...
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