Schweitzer Fachinformationen
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Der Kakao auf dem Polizeipräsidium in Tübingen schmeckte fast so gut wie der, den ihr ehemaliger Arbeitskollege Christian ihr in Stockholm immer gemacht hatte. Daniel Faber rührte ihn jedes Mal extra für Henry an, da es hier keinen Vollautomaten gab, der das für ihn übernommen hätte. Dass der Kakao nicht mit jenem in Stockholm vergleichbar war, lag vermutlich auch daran, dass ihr die Aussicht fehlte. Ein warmer Kakao und dazu der Blick über den Hafen der schwedischen Hauptstadt. Das gehörte für Henry unweigerlich zusammen. Wenn sie aus ihrem Büro bei der Tübinger Polizei aus dem Fenster sah, dann blickte sie auf eine Straße, auf der nichts los war, wenn man von den Postboten absah, die regelmäßig mit überhöhter Geschwindigkeit am Kommissariat vorbeirasten. Erst zur Mittagszeit wich die Leere der Straße den aus den Büros strömenden Menschen, die meistens auf dem Weg zur Kantine oder in eines der umliegenden Restaurants waren. Die Luft flimmerte heiß über dem Asphalt.
Die Tübinger Innenstadt war im Juni hingegen fast schon überfüllt. Zu den vielen Studenten, die sich in den Straßencafés und auf Treppen und Mauern versammelten, kamen jetzt noch die Touristen. Henry wollte gar nicht wissen, in wie vielen japanischen Fotoalben sie schon klebte. Es war deshalb nicht das Schlechteste, dass das Kommissariat ein bisschen außerhalb lag. Manchmal musste sie einfach raus und einen kleinen Spaziergang machen, um Ruhe zu finden. Das wäre in der Innenstadt kaum denkbar gewesen.
In ihrem Büro bei ,One Earth' hatte sie gelegentlich mit Christian am Fenster gesessen und das Treiben im Hafen beobachtet. Manchmal bat sie ihren ehemaligen Kollegen darum, dass er ihr ein paar Fotos schickte. Dann saß sie an ihrem Tübinger Schreibtisch und tauchte in ihre Vergangenheit ein. Es war nicht lange her, dass sie selbst noch dort gearbeitet hatte. Es kam ihr jedoch vor wie eine Ewigkeit. Zu viel war in der Zwischenzeit passiert.
Sie vermisste Schweden. Nach dem Tod ihrer Mutter war aber schnell klar gewesen, dass sie dort nicht mehr glücklich werden konnte. Immer wenn sie nach deren Tod im Haus ihrer Mutter in Sigtuna gewesen war, hatten die Erinnerungen gegen ihre Magenwand gedrückt. Alte, schmerzhafte Erinnerungen hatten sich mit schönen Momenten vermischt, und in jeder Ecke hatte sie sich selbst wie in einem Schwarz-Weiß-Film gesehen. Die letzten Erinnerungen hatten spätestens in dem kleinen Naturgarten hinter dem Haus ihre Farbe verloren. Je länger sie da gesessen hatte, desto mehr hatte sie sich gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können. Heute würde sie vieles anders machen. Und dann stellte sich ihr wieder die Was-wäre-gewesen-wenn-Frage. Der Butterfly Effect. Hätte sie ihre Mutter retten können? Wenn sie heute von der Geschichte erzählte, hoffte sie immer noch, sie würde gut ausgehen. "Das ist, wie wenn man einen Film anschaut, den man schon kennt", hatte sie einmal zu Christian am Telefon gesagt. Obwohl sie wusste, wie die Geschichte ausging, hoffte sie bei jeder Erzählung auf ein Happy End. Darauf, dass Marta eben doch nicht erschossen worden war. Aber sie konnte die Geschichte so oft wiedergeben, wie sie wollte. Ihre Mutter starb am Ende durch ein goldenes Projektil in ihrem Herzen.
Der Neuanfang in Tübingen war lebensnotwendig, und er fühlte sich richtig an.
Auf dem Kommissariat war dieser Tage kaum etwas los, dennoch stapelten sich die Akten auf dem Schreibtisch. Dazwischen stand eine Platte mit den Resten eines Marmorkuchens, den Henry am Vortag mitgebracht hatte. An den Schnittflächen war er bereits vertrocknet. Sie war keine gute Bäckerin, aber da Daniel Faber seit seiner Scheidung allein lebte und selten jemand für ihn sorgte, hatte er sich über die Geste seiner neuen Kollegin gefreut. Der Mord an ihrer Mutter hatte sie und Faber zusammengeschweißt, und obwohl sie sich erst seit kurzer Zeit kannten, benahmen sie sich jetzt schon wie ein altes Ehepaar. Das sagten zumindest die Kollegen, wenn Henry und Daniel mal wieder eine ernsthafte Diskussion darüber führten, wo sie in der Mittagspause essen gehen sollten. Spätestens, wenn einer von beiden die Frage ,Warum entscheidest eigentlich immer du?' einwarf, konnten sich die umstehenden Kollegen mit spitzen Bemerkungen nicht mehr zurückhalten.
Daniel hatte gerade eine ältere Dame verabschiedet, die wegen eines angeblichen Handydiebstahls da gewesen war. Es schien ihr egal zu sein, dass er überhaupt nicht dafür zuständig war, sie kannte ihn aus einer anderen Sache. Als er sie nach ihrem Personalausweis fragte und schon überlegte, welchem Kollegen bei der Schutzpolizei er diesen Fall aufs Auge drücken konnte, und sie in den Untiefen ihrer Handtasche suchte, hatte sie zwischen jeder Menge Kram tatsächlich nicht nur ihren Ausweis, sondern auch das soeben als gestohlen gemeldete Smartphone gefunden. Sie entschuldigte sich mehrmals, aber Faber winkte ab. Die für Juni außergewöhnliche Hitze stieg allen zu Kopf.
Am Vortag hatte es einen Starkregenschauer gegeben, statt einer Abkühlung brachte der jedoch eine unerträgliche Schwüle mit sich. Natürlich gab es im Präsidium keine Klimaanlage. Es war so heiß, dass sogar Henrys Schlaghose an den Beinen klebte. Sie dachte an eine Vorlesung während ihres Jurastudiums zum Arbeitsrecht, die sie nur besucht hatte, weil sie den Professor heiß gefunden hatte. Krampfhaft versuchte sie, sich daran zu erinnern, was das mit der gesundheitlich zuträglichen Raumtemperatur auf sich hatte. Henry googelte schnell und fand einen Wikipedia-Artikel.
"Hör mal", sagte sie zu Daniel. "Hier steht: Die Wärmeerzeugung des Menschen ist abhängig von der Arbeitsschwere."
Der Kommissar lachte laut. "Dann ist klar, dass der Steuerzahler weder in eine Klimaanlage noch in Sonnenblenden oder wenigstens einen Zimmerventilator investiert."
Henry sah ihn fragend an.
Daniel grinste. "Ich dachte, Beamte arbeiten gar nichts?"
Sie seufzte. Nicht nur die Freibäder waren voll, sondern auch der Neckar, der bereits ungewöhnlich warm war, obwohl Polizei, Feuerwehr und DLRG immer wieder davor warnten, in Flüssen schwimmen zu gehen. Daniel Faber hatte Henry einmal erklärt, dass das Wort ,Neckar' aus dem Keltischen stamme und so viel bedeute wie ,heftiger, böser, schneller Fluss'. Zumindest im Kreis Tübingen machte der Neckar seinem Namen keine Ehre, erst recht nicht im Hochsommer. Aber für Kinder konnte ein Fließgewässer immer gefährlich werden. Henry, die aufgrund ihrer Aquaphobie ohnehin großen Respekt vor Wasser im Allgemeinen hatte, konnte kaum hinsehen, wenn Menschen im Neckar badeten.
Trotz der vielen Touristen wirkte die schwäbische Universitätsstadt friedlich und durch die Hitze verlangsamt. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Henry noch nicht, dass irgendwo am Ufer des großen Flusses, der um sein letztes Wasser bangte, vergraben unter einer Schicht Erde, die Leiche von Carla Hofmann lag.
Henry umklammerte die Tasse mit beiden Händen, als wäre es tiefster Winter. Dabei schien die Sonne bereits am Vormittag hell und beißend durch das Fenster ihres Büros. Der Nagellack in Altrosa blätterte schon von Zeigefinger und Daumen. In den letzten Tagen hatte sie keine Zeit gehabt, sich um solche Belanglosigkeiten wie das Nägellackieren zu kümmern. Die Tasse mit beiden Händen festzuhalten war eine Gewohnheit, die sie aus Schweden mitgebracht hatte. Es erinnerte sie an viele Abende, die sie mit ihrer Mutter auf der Veranda des kleinen gelben Holzhäuschens in Sigtuna verbracht hatte. Wie oft hatten sie dort mit einer Tasse Glühwein oder heißer Schokolade gesessen, eingemummelt in dicke Decken, und hatten auf den glitzernden Mälarsee geschaut. Sosehr sich Henry diese Zeit zurückwünschte, so weh tat ihr die Erinnerung daran.
Nach dem Mord an ihrer Mutter hatte sie zu viel Gewicht verloren, und so hatte sie im letzten schwedischen Winter permanent gefroren. Sie war froh, dass sie wieder etwas zugelegt hatte. Auch ihre Sommersprossen waren zurückgekehrt, sodass sie nicht mehr aussah wie Mitte vierzig, sondern so, wie man mit fünfunddreißig aussehen sollte. Ihre braunen Haare hatte sie sich etwas abschneiden lassen, aber ein Zopf war zum Glück noch möglich. Den brauchte sie bei diesen tropischen Temperaturen.
"Was machst du jetzt mit deinen Banditos?", fragte Faber, der nebenher Akten sortierte. Immer wieder fuhr er sich durch das ergraute Haar und schüttelte über das Chaos auf seinem Schreibtisch den Kopf. "Wenn ich noch einen Fall bekomme, raste ich aus. Was denkt dieser Pankow, wann ich das alles erledigen soll?"
"Ich hätte gerne eine Hausdurchsuchung." Henry wischte sich mit dem Handrücken den Kakaobart von der Oberlippe. Sie spürte, wie sich vom Haaransatz ein Schweißtropfen den Weg auf ihre Stirn bahnte und auf ihrer Haut juckte.
"Äh, was?" Faber war immer noch wütend über seine eigene Unordnung. "Eine Hausdurchsuchung? Warum denn das?"
"Ja, eine Hausdurchsuchung. Letzte Nacht wurde wieder jemand in der Innenstadt mit K.o.-Tropfen handlungsunfähig gemacht und ausgeraubt. Ich schätze, das fällt dann unter ,Gefahr im Verzug'?"
Faber sah in die Luft und schien über das Gesagte nachzudenken.
"Wir gehen zu den drei Verdächtigen", spann Henry den Gedanken weiter, "treten die Tür ein, du lässt ein bisschen deine Muskeln spielen, ich schreie rum und wir durchsuchen das Haus, bis wir finden, was wir brauchen. Läuft das nicht so?"
Faber schmunzelte. "Aber jetzt mal im Ernst. Wenn ich so darüber nachdenke: Warum eigentlich nicht?"
"Der Teil mit den Muskeln gefällt dir am besten, oder?"
Ohne sie anzusehen oder zu antworten,...
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