Schweitzer Fachinformationen
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Dienstag, 21. Mai
In letzter Zeit wirkte Leopold W. Hofer, der Oberkellner des Floridsdorfer Café Heller, nachdenklicher als sonst. Er verrichtete seine Arbeit zwar so gewissenhaft und souverän wie immer, aber wer ihn genau betrachtete, bemerkte, dass der schelmische Zug um seinen Mund nun öfters fehlte, und dass er dann, wenn nichts zu tun war, schweigend und in sich gekehrt an der Theke lehnte. Sein Blick ging dabei ins Leere. »Schauen Sie nicht ins Narrenkastl, Leopold«, pflegte ihn seine Chefin, Frau Sidonie Heller, darauf anzusprechen, doch meistens hörte er das gar nicht. Die Krisen der letzten Monate und Jahre hatten bei ihm deutliche Spuren hinterlassen. Frau Heller wusste es längst von seiner Lebensgefährtin Erika Haller. Er machte sich auf einmal wegen Dingen Sorgen, über die er früher nur gelacht hätte. Seine Konversation beschränkte sich in der Arbeit und zu Hause auf das Notwendigste. Und es stand zu befürchten, dass ein Mord in seiner Umgebung das einzige Mittel sein würde, seine Stimmung zu heben.
Immer wieder ärgerte er sich plötzlich über etwas, das seiner Chefin an den Haaren herbeigezogen schien. Auch jetzt knurrte er gerade so laut, dass sie es hören konnte: »Es ist nicht zu fassen«, und gleich darauf: »Man glaubt es nicht!«
»Wo drückt Sie denn schon wieder der Schuh?«, erkundigte sich Frau Heller.
»Haben Sie denn heute noch keinen Blick in die Zeitung geworfen?«, entgegnete Leopold.
»Wir sind hier, um zu arbeiten, nicht um Zeitung zu lesen«, erinnerte Frau Heller ihn. »Aber bitte! Habe ich etwas versäumt? Steht wieder einmal der Weltuntergang bevor?«
»Es ist beinahe genauso schlimm«, befand Leopold. »Der Fluch der Geschichte holt uns gerade wieder ein. Sankt Pölten in den Schlagzeilen mit einer Tourismusoffensive. Sankt Pölten als Zentrum, das Natur, Kultur, Urbanität und Kulinarik miteinander vereint. Die niederösterreichische Landeshauptstadt erlebt einen Aufschwung. Die lebenswerte Metropole! Dass ich nicht lache!«
»Das ist doch nichts Verwerfliches«, wandte Frau Heller ein.
»Man muss bedenken, dass das einmal ein ganz kleines Städtchen war«, ließ sich Leopold nicht beirren. »Doch dann ist es Sitz der Landesregierung geworden, und nun blüht und gedeiht es. Und unser Floridsdorf dümpelt vor sich hin. Kein Tourismus, keine Aufmerksamkeit in den Medien! Dabei haben wir doch einiges zu bieten: die Alte Donau, die Donauinsel, den Bisamberg, die Heurigendörfer, den Marchfeldkanal und vieles mehr. Das interessiert aber leider niemanden.«
Frau Heller rätselte, worauf ihr Oberkellner jetzt schon wieder hinauswollte. »Ja und?«, bemerkte sie nur.
»Ursprünglich war Floridsdorf als niederösterreichische Landeshauptstadt vorgesehen«, ereiferte sich Leopold sofort. »Unsere Donaufelder Kirche am Kinzerplatz hätte Bischofssitz und Dom werden sollen. An und für sich sollten wir heute blühen und gedeihen. Aber im entscheidenden Moment sind wir das Opfer einer Intrige geworden. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich Wien unser schönes Dorf gegen unseren Willen einverleibt.«
»Es handelte sich um eine ganz normale Eingemeindung«, äußerte Frau Heller mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wien ist dadurch gewachsen wie andere Großstädte auch.«
»Es war eine Frechheit«, konnte sich Leopold nicht beruhigen. »Wir wurden regelrecht annektiert! Nur der Besonnenheit unserer Bevölkerung war es zu verdanken, dass die Situation nicht eskaliert ist. Dem damaligen Wiener Bürgermeister, Karl Lueger, wirft man zwar heute seinen Antisemitismus vor, aber über diese usurpatorische Schandtat wird leider der Mantel des Schweigens gebreitet.«
»Sie sollten nicht über historische Ereignisse debattieren, da kennen Sie sich zu wenig aus«, wies ihn Frau Heller in die Schranken.
»Und wie ich mich auskenne«, konterte Leopold. »Die Sache ging nämlich noch weiter. Nach seiner Machtergreifung 1938 hat Adolf Hitler den östlichen Teil von uns einfach abmontiert und zu einem eigenen Bezirk, damals Groß Enzersdorf, gemacht.«
»Die heutige Donaustadt«, seufzte Frau Heller. »Was war denn daran so verwerflich?«
»Es war eine gezielte Aktion, um uns zur Bedeutungslosigkeit zu degradieren«, behauptete Leopold. »Und das Allerschlimmste kommt noch! Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Wiederherstellung der ehemaligen Größe unseres Bezirksgebietes, keine Wiedergutmachung, nichts! Man hat einfach alles so belassen, wie es war. Statt einer freien Stadt mit Regierungsverantwortung sind wir nun ein geschrumpfter Spielball des Wiener Rathauses. Wenn wir protestieren und uns dagegen wehren würden, würde man vermutlich mit schweren Geschützen über die Donau zu uns herüberschießen, und kein Staat der Welt würde uns Waffen liefern oder sonst irgendwie helfen.«
Frau Heller überlegte krampfhaft, wie sie diese sinnlose Tirade unauffällig beenden konnte. Einige Gäste schauten bereits irritiert zu Leopold herüber. Da betrat ein hagerer älterer Mann mit kurz geschnittenem grauem Haar das Heller. Suchend streiften seine Blicke durchs Kaffeehaus, ehe er eine beim ersten Fenster sitzende Frau jenseits der 60 wahrnahm, die schon die ganze Zeit nervös in ihrem kleinen Braunen umgerührt hatte. Sie lächelte ihm zu und winkte kurz. Da lächelte auch er und nahm ihr gegenüber Platz.
»Bitte fragen Sie den Herrn nach seinen Wünschen! Das wird Sie hoffentlich auf andere Gedanken bringen«, trug Frau Heller ihrem Oberkellner erleichtert auf.
Leopold begab sich zu dem Tisch und kehrte gleich darauf zur Theke zurück. »Zwei Gläser Prosecco«, teilte er seiner Chefin kopfschüttelnd mit. »Da gesellt sich doch tatsächlich einer zur Frau Bruckner. Dabei ist das eine Übriggebliebene, wie sie im Buche steht.«
»Lassen Sie endlich Ihre törichten Kommentare«, ermahnte ihn seine Chefin. »Im Gegensatz zu Ihnen denkt Frau Bruckner positiv und ist neuen Entwicklungen gegenüber sehr aufgeschlossen. Wie sie mir unlängst gestanden hat, hat sie sich auf einer Plattform im Internet angemeldet und sucht dort nun den Mann ihrer Träume. Dabei ist sie offenbar auf diesen Herrn gestoßen. Ich finde, er passt gut zu ihr.«
»Der ist aus dem Internet?« Leopold verschlug es die Sprache.
»Natürlich! Das ist die heute übliche Methode, nach einem Partner fürs Leben Ausschau zu halten«, belehrte ihn Frau Heller. »Man lernt sich nicht mehr am Arbeitsplatz, beim Tanzen oder in einem Lokal kennen, wie das bei uns noch üblich war, sondern im Netz. Gerade für ältere Leute, die nicht mehr so unternehmungslustig sind und sich einsam fühlen, tun sich hier ungeahnte Möglichkeiten auf. Man meldet sich einfach online bei einer Partnervermittlung an, entrichtet einen gewissen monatlichen Betrag und kann dann in aller Ruhe aus einer Reihe von Anwärtern den Richtigen auswählen.«
Leopold blickte kritisch zu Frau Bruckner und ihrer neuen Bekanntschaft hinüber. »Da hat sie sich ausgerechnet den ausgesucht? Den hätte sie umsonst auch bekommen«, bekrittelte er.
»Sie muss ihn ja nicht nehmen«, klärte Frau Heller ihn auf. »Sie wird jetzt ein wenig mit ihm plaudern, um einen ersten Eindruck von ihm zu bekommen. Schließlich wird sie eine Entscheidung treffen, ob er für sie in die engere Auswahl kommt oder gar der Richtige ist. Aber die Sache hat noch einen viel wichtigeren Aspekt! Sie haben doch sicher bemerkt, dass in letzter Zeit immer mehr solcher Pärchen in unserem Kaffeehaus sitzen.«
Leopold musste sich eingestehen, dass er auf so etwas nicht geachtet hatte. Seine Gedanken waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Natürlich kam es vor, dass zwei nicht mehr ganz taufrische Gäste sich im Heller wie junge Verliebte betrugen. Solange die Grenzen des Anstandes nicht überschritten wurden, gab es auch nichts dagegen einzuwenden. Schließlich war man als Kaffeehaus der ideale Ort für zwischenmenschliche Annäherungen. Aber ob das zuletzt häufiger geschehen war, vermochte er nicht zu sagen. »Ach so?«, äußerte er deshalb vorsichtig und zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe.
»Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Mir scheint, Ihnen kommt Ihr detektivisches Gespür abhanden«, stellte Frau Heller amüsiert fest. »Wir sind offenbar ein beliebter Treffpunkt für jung gebliebene Menschen geworden, die hier ihr erstes Date haben, nachdem sie sich im Internet kennengelernt haben. Sie fühlen sich bei uns wohl und genießen die heimelige Atmosphäre. Bringen Sie unseren Turteltäubchen die Getränke, aber stören Sie sie nicht bei ihrem romantischen Gedankenaustausch.«
»Der Mann erzählt der Frau Bruckner gerade, wie hoch seine Beamtenpension ist und wie oft im Jahr er auf Kur fährt. Wirklich äußerst romantisch«, berichtete Leopold, als er nachher wieder zur Theke zurückkehrte.
»Manchmal kommt es mir so vor, als wollten Sie gewisse Dinge gar nicht verstehen«, ärgerte sich Frau Heller.
»Können Sie sich noch an den Fink Toni erinnern? Der hat romantische Gespräche über Liebe, Treue und Aufrichtigkeit geführt, dass kein Auge trocken geblieben ist«, redete Leopold daraufhin munter drauflos. »Leider immer mit einer anderen Flamme. Er hat aber noch seine Frau zu Hause gehabt, die davon nichts erfahren durfte. Sie sehen, die Romantik hat auch ihre Tücken!«
»Wenn Sie glauben, Sie können mir mit Ihren G'schichtln die Laune verderben, haben Sie sich geschnitten. Ich habe nämlich allen Grund zur Freude«, teilte ihm Frau Heller mit. »Der Bezirkszeitung ist zu Ohren gekommen, dass sich viele liebeshungrige Floridsdorfer und...
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