Schweitzer Fachinformationen
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Im Sturm, der um die starke Kathedrale
wie ein Verneiner stürzt der denkt und denkt,
fühlt man sich zärtlicher mit einem Male
von deinem Lächeln zu dir hingelenkt:
lächelnder Engel, fühlende Figur.
(Aus: Rilke, L'Ange du Méridien)
Als René Kreil, von der Alten Donau kommend, den Kinzerplatz überquerte, waren der Platz selbst und die mächtige Pfarrkirche St. Leopold in ein magisches Licht getaucht. Soeben war ein heftiger Regenguss, begleitet von ein paar Blitzen und Donnerschlägen, niedergegangen. Die dunklen Wolken zogen weiter, es fielen ein paar letzte Tropfen. Schon bemühte sich die Sonne wieder hervor, und am Himmel zeigten sich die Umrisse eines Regenbogens.
Kreil schüttelte den Kopf. Und das alles an einem Sonntagvormittag Anfang September um 10 Uhr, dachte er. Was das Wetter doch bisweilen für Kapriolen schlug. Er bedauerte, dass er nichts bei sich hatte, um die merkwürdige Stimmung festzuhalten: keinen Fotoapparat, keinen Notizblock, keinen Kugelschreiber. Nur in seinen Gedanken konnte er alles abspeichern und hoffen, dass er es später wieder nahezu genauso abzurufen vermochte. Die Szene erschien ihm eine Würdigung in Form eines Gedichtes wert. Denn er war ja Poet.
Kreil faszinierte das imposante neugotische Kirchengebäude mit seinem über 90 Meter hohen Turm. St. Leopold, die drittgrößte Kirche Wiens, war am Beginn des 20. Jahrhunderts noch zur Regierungszeit Kaiser Franz Josefs errichtet worden. Floridsdorf hatte man gerade der Stadt Wien eingemeindet und das Donaufeld* nach der Donauregulierung trockengelegt. Schon als Kind hatte diese Kirche auf den heute 56-jährigen Kreil einen gewaltigen Eindruck gemacht. Wie oft war er mit seiner Mutter und seinem Bruder hierher gekommen, und während die Mutter auf einer Bank ein Buch gelesen hatte, waren er und sein Bruder August im Wettstreit um die Kirche gelaufen. Ganz egal, wer dabei den Kürzeren zog - es endete, ganz unpassend zu der heiligen Umgebung, immer im Streit und manchmal, wenn die Mutter nicht rechtzeitig herbeieilte, auch mit einer Rauferei. Die Mutter musste sich dann von gaffenden Passanten anhören, welch ungezogene Fratzen sie zur Welt gebracht hatte, und reagierte ihren Ärger auf ihre Weise ab: mit ein paar Watschen.
Wir haben uns schon damals nicht gut vertragen, August und ich, ging es Kreil durch den Kopf. Der gegenseitige Vorwurf hatte stets gelautet: Du kannst nicht verlieren.
Er wollte weitergehen, aber irgendwie kam er nicht von der Kirche los, die er nach langer Zeit wieder ganz aus der Nähe sah. Sie übte eine unerklärliche Anziehungskraft auf ihn aus. Ein Gefühl der inneren Unruhe bemächtigte sich seiner. Es war ihm, als blickte der steinerne Turm mit der grünen Kirchturmspitze und der Uhr mit dem römischen Ziffernblatt direkt in sein Herz, als gäbe es keine Geheimnisse zwischen ihm und diesem Gebäude, das noch immer in einem ganz unnatürlichen Licht vor ihm dastand. Er erinnerte sich. Als Kind war er natürlich nicht nur um die Kirche gelaufen, er hatte auch regelmäßig den Gottesdienst besucht, weil seine Eltern es so wollten. Nach der Firmung wurden diese Besuche rasch seltener, bis sie schließlich ganz aufhörten. Seither hatte er die Kirche St. Leopold nicht mehr betreten.
Was ist schon dabei, auf einen Sprung hineinzugehen, überlegte Kreil. Teils lenkte ihn dabei die Neugier, teils spürte er weiterhin diesen seltsamen Drang in sich. Der Gesang, der schwach herausklang, zeigte ihm an, dass gerade eine heilige Messe stattfand. Das gab seinem Herzen einen weiteren Stoß. Er stieg die Stufen zum kleinen Seiteneingang empor und betrat das Innere des Gotteshauses.
Kreil nahm seinen Hut ab und strich über das lange, gewellte, nach hinten frisierte Haar. Sofort stieg der Geruch von Weihrauch angenehm in seine Nase. Eine überschaubare Anzahl von Gläubigen verteilte sich ungleichmäßig auf die engen, hölzernen Bankreihen: vorne einige, hinten nur sehr wenige. Im Gegensatz zu Kreils früheren Kirchenbesuchen, wo die Frauen noch links, die Männer rechts vom Mittelgang Platz genommen hatten, saßen Frauen und Männer jetzt gemeinsam. Gerade ging die Kommunion zu Ende, und die letzten Teilnehmer kamen vom Altar zurück. Erneut wurde Kreil unruhig. Es war ihm, als müsse er auch noch schnell nach vorne eilen und die Hostie zu sich nehmen. Aber es war wohl zu spät. Außerdem wusste er noch von früher, dass die Seele vor Einnahme der Kommunion reingewaschen sein musste, und das war bei ihm überhaupt nicht der Fall. Er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal gebeichtet hatte.
Ich lebe im Zustand der Sünde, schoss es Kreil durch den Kopf. Noch vor wenigen Minuten wäre ihm das vollkommen egal gewesen. Jetzt aber meldeten sich die Vergangenheit und sein schlechtes Gewissen. Bilder tauchten in ihm auf, die ihm den inneren Frieden raubten. Er spürte, wie sein Herz klopfte, sein Atem schneller wurde. Er hätte hier nicht hineingehen sollen, eigentlich gehörte er gar nicht hierher. Der Priester sprach die Worte des Segens. War damit auch er gemeint? Während Kreil mit halbem Ohr hinhörte, wuchs in ihm das Begehren, mit einem Mal alles loszuwerden, was jetzt wieder aus den Tiefen seiner Seele hervorkam und ihn bedrückte.
Er fasste einen Entschluss. Die Gelegenheit war günstig. Er ging rasch im rechten Gang an den Kirchenbänken vorbei nach vorne zu dem Priester, der auf seinem Weg in die Sakristei hier mit seinen Ministranten vorbeikam. Der Priester schaute ihn prüfend an. Sein fragender Gesichtsausdruck zeigte, dass er den Mann noch nie zuvor gesehen hatte.
»Ich . ich möchte beichten«, stammelte Kreil, der nicht so recht wusste, was er sagen sollte.
»Gut«, nickte der Priester. »Wenn es denn so wichtig ist, gehen wir gleich nach hinten.« Er deutete auf den großen Beichtstuhl auf der anderen Seite, dann entließ er seine Ministranten und begab sich mit Kreil dorthin.
Kreil kniete nieder, der Priester setzte sich hinein und öffnete die Sprechklappe. Ein wenig hastig leierte er die gewohnten Worte herunter: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
Verwirrt wiederholte Kreil die Formel. Dann machte er unbeholfen ein Kreuzzeichen.
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir die wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit. Du bist hierher gekommen, um Gott um Verzeihung für deine Sünden zu bitten. Nun sage mir, was du auf dem Herzen hast, und gegen welche Gebote du verstoßen hast«, fuhr der Priester fort.
»Gegen ziemlich viele, Hochwürden.« Kreil entfuhr ein flüchtiges Lächeln. »Ich war eitel, unmäßig und anmaßend. Ich habe Streit gesucht. Meines Nächsten Frau habe ich nicht nur begehrt, sondern sie mir hin und wieder auch genommen. Gestohlen und gelogen habe ich ebenfalls. Aber darüber habe ich mir noch nicht allzu oft den Kopf zerbrochen. Was mich wirklich beschäftigt und bedrückt, ist schon eine Weile her.« Er rückte seinen Kopf ganz nahe an die Sprechklappe heran. »Ich habe einen Menschen getötet.«
Der Priester schreckte aus seiner entspannten Haltung auf. »Wie hat sich das zugetragen?«, wollte er wissen.
»Darüber möchte ich nicht sprechen«, erklärte Kreil sofort.
»Wie du meinst, mein Sohn«, erwiderte der Priester nach einigen Augenblicken des Nachdenkens. »Du erbittest Vergebung, und in seiner unendlichen Güte ist Gott der Herr auch bereit, dir zu verzeihen. Doch dazu ist es nötig, dass du deine Tat bereust und Buße tust. Solltest du es bis jetzt nicht getan haben, ersuche ich dich dringend, dich der irdischen Gerichtsbarkeit zu stellen und dein Vergehen zu sühnen. Was du mir hier beichtest, ist von großer Schwere und nicht ohne Weiteres abgetan.«
»Sie verstehen mich vielleicht falsch«, hielt Kreil entgegen. »Ich habe niemanden umgebracht. Aber ich fühle mich schuld am Tod eines Menschen und zwar so sehr, dass es mir vorkommt, als hätte ich ihn getötet.«
»Ein großer Druck lastet auf deiner Seele, trotzdem lehnst du es ab, mit mir über die Zusammenhänge zu sprechen«, redete der Priester auf Kreil ein. »Das macht mir die Sache nicht leicht. Ich spreche dich los von deinen Sünden, doch musst du in dich gehen, damit sie nicht Teil von dir bleiben. Denke nach, auf welche Art du Buße tun kannst, denn ein paar Gebete werden nicht reichen. Gehe auf die Menschen zu, denen du geschadet hast, und zeige ihnen deine aufrichtige Reue. Danke dem Herrn, denn er ist gütig. Geh hin in Frieden.«
»Danke . Amen«, stotterte Kreil und machte noch einmal das Kreuzzeichen. Dann verließ er rasch Beichtstuhl und Kirche.
*
Die Sonne hatte ihren Kampf gegen die dunklen Wolken nun endgültig gewonnen. Kreil setzte seinen auf so merkwürdige Art unterbrochenen Spaziergang fort. Nach etwa zehn Minuten war er bei einem Haus am Beginn des Satzingerwegs angelangt. Er schaute kurz auf die Namen >Vogler/Novota< am Türschild, dann läutete er. Als sich nichts rührte, läutete er noch einmal.
Jetzt öffnete sich die Tür. Eine mollige Frau mit grau durchzogenem Haar in einem blauen Hausanzug schaute neugierig durch ihre Brille nach draußen. Sie erkannte den Gast nicht gleich. »Mein Gott, du bist es, René«, grüßte sie ihn dann ohne großen Enthusiasmus. »Was willst du?«
»Darf ich auf einen Sprung hineinkommen, Rosi?«
»Das ist jetzt überhaupt kein guter Zeitpunkt. Robert schläft noch, und es ist nicht...
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