Schweitzer Fachinformationen
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Es wurde jetzt früh dunkel. Die Dämmerung kroch ab dem Mittag heran, unbarmherzig wie die Kälte. In den Wohnungen musste man oft schon zeitig am Nachmittag das Licht aufdrehen, um noch etwas zu sehen. So entstand an den Häusern rasch ein heller Tupfen neben dem anderen, die zusammen mit der Straßenbeleuchtung bald eine unübersehbare Lichterkette bildeten, obwohl offiziell noch Tag war.
An den meisten dieser Lichttupfen deuteten geschlossene Vorhänge und heruntergelassene Jalousien an, dass man jetzt unter sich sein und niemandem Einblick in sein Privatleben gewähren wollte. Bei einer kleinen Wohnung in der Pilzgasse war das jedoch anders. Dort konnte an diesem Donnerstagnachmittag jeder hineinschauen, der Lust und Gelegenheit dazu hatte. Und das Dargebotene war nicht von schlechten Eltern: Ein nackter Frauenrücken vollführte allerlei laszive Bewegungen, vor allem dessen delikater unterer Teil wippte so schamlos hin und her, dass nicht viel Vorstellungskraft dazu gehörte, die Art des Vorganges und den männlichen Gegenstand, der darin verwickelt war, zu erraten.
Veronika Plank liebte es, sich öffentlich so zur Schau zu stellen. Es vervollkommnete ihre Befriedigung, wenn sie sich ausmalte, dass sie ein geiler alter Bock oder dessen angewiderte Ehefrau vom gegenüberliegenden Haus beobachteten. Im Sommer hatte sie ihre Fenster weit geöffnet, um die ganze Nachbarschaft auch akustisch an ihrem Liebesleben teilhaben zu lassen. Jetzt war es leider zu kalt dazu.
Aufgrund dieser exhibitionistischen Neigung und einer gewissen Unregelmäßigkeit in der Wahl ihrer Partner wurde sie in ihrer Umgebung nur >die kleine Hure< genannt. Sicher ein zu hart gewählter Ausdruck, ein vorschnelles Urteil. Gerechter wurde man Veronika Plank, wenn man ihr eine allgemeine Unangepasstheit und eine Tendenz zum Flatterhaften attestierte. Für ihre Lebensauffassung war sie wahrscheinlich zu spät geboren. Sie hätte gut in die Zeit Ende der 60er-Jahre gepasst: Make love, not war! Sex, drugs - ein paar nicht nennenswerte Versuche - and rock and roll! Nieder mit der Bourgeoisie! Mit diesen Mottos von damals kam man der Wirklichkeit schon näher.
Sie hatte sich in einigen Studienrichtungen versucht, ehe sie schließlich beim Fach Biologie gelandet war. Dort hatte sie jenen Mann kennengelernt, der gerade unter ihr langsam dem höchsten Lustgewinn entgegenstrebte: Jochen Angerer, Anfang 30 und damit etwas älter als sie, ewiger Student. Er hatte sie zur Tierschützergruppe PTA gebracht, die mit manchen ihrer Aktionen bereits in der Tagespresse und vor Gericht gelandet war. Dort konnte Veronika ihrem Hang zu Protesten, Demonstrationen und jeder anderen Art des antibürgerlichen Sich-zur-Schau-Stellens freien Lauf lassen. Es verursachte bei ihr ein ähnliches Prickeln wie beim jetzigen halböffentlichen Geschlechtsakt, wenn sie dabei war, die Grenzen der Legalität auszuloten.
Als alles vorüber war, lehnte Veronika, angenehm entspannt, am offenen Fenster und blies den Rauch ihrer Zigarette durch beide Nasenflügel ins Freie. Dabei ließ sie, obwohl sie sich in eine Decke eingehüllt hatte, genug von ihren Brüsten sehen, um Voyeuren wie Moralaposteln gleichermaßen einzuheizen. Sie dachte nach. Sie war sich seit geraumer Zeit ziemlich sicher, dass sie dieses Leben trotz allem nicht so weiterführen wollte.
Angerers hagere Gestalt lag auf dem Rücken im Bett. Er paffte ebenfalls und beobachtete mit seinen kurzsichtigen Augen durch die dicke Hornbrille, wie der Rauch Richtung Decke zog. »Du gehst heute Abend zu diesem . Treffen?«, fragte er nach einer Weile.
»Zum Philosophenstammtisch? Ja, das weißt du doch«, kam die Antwort. Veronika blieb dabei von ihm abgewendet. Sie hatte erwartet, dass er sie darauf ansprechen würde.
»Ich möchte nicht, dass du hingehst.«
»Sag einmal, was soll das schon wieder? Das geht dich überhaupt nichts an.«
Angerer richtete sich im Bett auf. »Schau, Veronika«, versuchte er sie zu überzeugen. »Wir hatten heute einen tollen Nachmittag. Und da möchte ich nicht, dass du .«
»Du weißt, dass wir keinerlei Bindung zueinander haben - außer in unserer Gruppe natürlich«, fiel sie ihm ins Wort. Dabei schloss sie das Fenster und drehte sich ihm wieder zu. »Auch wenn der Nachmittag toll war, kann jeder von uns tun und lassen, was er will. Das ist so abgemacht. Das weißt du. Also rede mir bitte in meine Angelegenheiten nicht drein.«
»Vielleicht sind es doch auch meine Angelegenheiten.«
»Ach so. Und warum?«
»Diese Treffen verändern dich. Sie machen einen anderen Menschen aus dir. Ich spüre das.«
»Eifersüchtig? Du hast kein Recht auf mich. Was wir gerade gemacht haben, ist aus Sympathie geschehen. Mehr ist es nicht. Auch das weißt du.«
»Ach komm! So etwas wie Eifersucht hat es doch bei uns nie gegeben. Wir waren immer gleichberechtigte Menschen, du und ich. Gleichberechtigte Verfechter einer Idee. Und darum, nur darum geht es mir. Ich frage mich, ob du dich nicht immer weiter von unseren Idealen entfernst.«
»Und wenn dem so wäre?« Plötzlich, wie eine Bestätigung von Jochen Angerers vorsichtig geäußertem Verdacht, stand die Frage im Raum.
»Es wäre nicht gut.« Angerer lächelte nervös. »Du setzt dich mit diesen bürgerlichen Typen zusammen und plauderst gediegen über Allerweltsthemen. Philosophieren nennt ihr das. Dabei lässt du dich in Dinge hineinziehen, fernab jeder Realität. Es weicht deinen Standpunkt auf. Du engagierst dich kaum mehr bei uns. Bei der Kampagne >Keine Tiere als Geschenk< hast du so gut wie keinen Finger gerührt.«
»Weil man die Kinder und ihre Eltern nur verschreckt hat, anstatt sie darüber aufzuklären, welche Verantwortung sie übernehmen, wenn sie sich zu Weihnachten ein Tier wünschen. Dass Fotos von misshandelten Tieren mit Tannenzweig und Geschenkschleife und der Sprechblase >Mich hat das Christkind gebracht< verteilt wurden, fand ich reichlich geschmacklos.«
»Genau das meine ich. Diese plötzliche Rücksichtnahme. Früher warst du nicht so zimperlich. Da kam dir jede Aktion gelegen, je provokanter, desto besser.«
»Ja, das war eben früher. Du hast recht, ich sehe die Dinge jetzt mit anderen Augen. Ich habe Menschen kennengelernt, die mir beigebracht haben, eine Sache von mehreren Seiten zu betrachten. Ich habe in den letzten Jahren bei vielen Dingen mitgemacht. Ich habe euch oft geholfen, auf mein Risiko, erst unlängst wieder. Es hat Spaß gemacht. Aber im Augenblick kommt mir alles einseitig und so kleinlich vor wie das Spießertum, das du bekämpfen möchtest.«
Jochen Angerer hob dozierend den Zeigefinger: »Du verwechselst einseitig mit eindeutig. Wer keine klare Sprache spricht, der wird seine Anliegen auch nicht durchbringen.« Beide hatten sich in der Zwischenzeit beinahe vollständig angezogen. Das Gespräch hatte dabei den Charakter einer handfesten Auseinandersetzung bekommen.
»Ich höre auf«, verkündete Veronika mit einem Mal entschlossen.
»Du tust . was?«
»Ich höre auf. Ich mache nicht mehr mit. Ich möchte mein Leben ändern, endlich etwas Sinnvolles tun.«
»Nun komm, das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Doch, es ist mein Ernst«, blieb Veronika fest. »Ich wollte es dir schon die ganze Zeit sagen, habe es aber immer wieder hinausgeschoben. Ich muss an mich denken. Wie ich die letzten Jahre gelebt habe, war das reinste Chaos. Ich muss endlich etwas Sinnvolles tun, das Studium abschließen oder am besten gleich arbeiten. So kann das nicht weitergehen.«
Jochen Angerer hatte sich gefasst. »Du kannst mich nicht im Stich lassen«, sagte er. »Nicht jetzt. Bleib wenigstens noch bis zum Sommer.«
»Und was ist dann? Dann jammerst du mich wieder an«, konstatierte Veronika mitleidlos. Sie hatte ihre Entscheidung schneller getroffen, als sie ursprünglich gewollt hatte. Sie durfte sich jetzt nicht mehr davon abbringen lassen.
»Das sind deine neuen Freunde. Besonders der eine, von dem du immer so schwärmst. Hat er es also fertiggebracht, dich umzudrehen. Na, dann lauf doch zu ihm! Nur zu«, machte Angerer seinem Ärger Luft.
»Vielleicht bin ich nicht die linke Aktivistin, die du in mir siehst«, seufzte Veronika. »Vielleicht habe ich eine Zeit lang bloß ein Ventil gebraucht, um Dampf ablassen zu können.«
Jochen Angerer rang nach Worten. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, Veronika zu halten, aber er spürte, dass er die Situation nicht unter Kontrolle hatte. Eine ohnmächtige Wut stieg in ihm auf und lähmte sein Tun. Er wusste, dass er sie, wenn kein Wunder geschah, hier und jetzt, in diesen Augenblicken, verlieren würde.
Dabei hatte er ein Recht auf sie, er, und nicht irgendein dahergelaufener Schnösel, der ihr mit schöngeistigen Reden eine neue Lebenseinstellung einzuimpfen versuchte. Er war ihr Lehrmeister. Er hatte ihre politische Haltung geformt, ihren Hang zum Aktionismus in die richtigen Bahnen gelenkt. Er und sie waren ein Team, das sich über alle Konventionen hinweggesetzt hatte. Es war nicht wichtig, mit wie vielen Männern sie es trieb, solange sie den Weg mit ihm gemeinsam ging, bei seinen Plänen mitmachte und ihm die Anerkennung und Zuneigung schenkte, die er sich verdiente. Sie durfte nicht einfach so mir nichts, dir nichts aufhören und ihm erklären, dass alles, was er für sie getan hatte, umsonst gewesen war.
»Na schön, ist das dein letztes Wort?«, stieß er hervor. »Ist es damit aus mit dem Kampf um Tierschutz und Gerechtigkeit und gegen die bürgerliche Vereinnahmung der Welt?«
»Ja, es ist aus«, ließ sich Veronika nicht erweichen....
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