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Der 6. März 2021 ist ein kalter, klarer Spätwintertag. Die Sonne scheint bereits in der Früh, aber die Temperatur erreicht in Wien bis Mittag gerade sechs Grad. Doch ist die Stimmung in der Stadt an jenem Samstag fiebrig und politisch aufgeheizt. Der Ursprung des eskalierenden Konflikts ist die Covid-19-Pandemie. Über Monate hat sich eine Bewegung gebildet, die alle Maßnahmen kategorisch ablehnt, die von der Bundesregierung zur Eindämmung der Infektionszahlen getroffen werden. Esoteriker, Impfskeptiker, Verfechter der Alternativmedizin, Anhänger von Verschwörungsmythen, anarchistische Hippies und vor allem viele Regierungsgegner aus dem rechten Lager - bis hin zu Rechtsextremen - haben sich zu einer seltsamen, explosiven Menge zusammengefunden.
Ein Mann spürt von Anfang an, dass ihm diese Bewegung nützen wird, und er schürt ihre Aufgebrachtheit, wo immer er kann: Herbert Kickl, zu diesem Zeitpunkt Klubobmann der FPÖ. An diesem Samstag wird er dabei sein, ja mehr als das. Der 6. März 2021 wird für Kickl zu einem Triumph, der ihm bewusst macht: Ich bin mehr als der Antreiber, der Schlagwortlieferant - ich bin selbst die Nummer eins. Es ist ein folgenschwerer Moment in Kickls politischer Karriere, es ist ein schicksalhafter Moment für Österreich, womöglich für Europa.
Nicht weniger als 34 Demonstrationen sind in Wien angemeldet worden. Darunter solche, deren Forderungen geringes Echo finden würden, wie etwa »Österreich braucht Jesus« und »Für die Entschleunigung für Mutter Erde und für Menschenwürde als Grundrecht«. Die meisten jedoch vereint dasselbe Thema: die Maßnahmen der Regierung gegen die Covid-19-Pandemie. »Corona-Wahnsinn«, »Gegen Corona Diktatur«, »Corona und seine Folgen!«, »Wirtschaftliche Folgen durch Corona«, »Spaziergang für die Freiheit«, »Für die Freiheit« und »Schluss mit experimentellen GenImpfungen und unverhältnismäßigen Maßnahmen!« lauten ihre Slogans. Sie alle wurden behördlich untersagt, da die Behörden davon ausgehen, dass während dieser Kundgebungen die Schutzmaßnahmen gegen Covid-19-Infektionen missachtet würden. Zur Erinnerung: Zu diesem Zeitpunkt muss auch im Freien eine FFP-2-Maske getragen und zu anderen Personen ein Mindestabstand von zwei Metern eingehalten werden.
Dass Demonstrationen wegen des Verbots abgesagt werden, glaubt niemand, am wenigsten die Exekutive selbst. Insgesamt 1521 Polizistinnen und Polizisten, darunter Beamte der Sondereinheit WEGA, werden einberufen, um, in den Worten des damaligen Innenministers Karl Nehammer, »eine Eskalation im Sinne einer Gefahr für Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit« zu verhindern.
Tausende Teilnehmer strömen bereits am Vormittag an die Orte der untersagten Kundgebungen, darunter Mitglieder der Identitären Bewegung, Anhänger der »Reichsbürger« und amtsbekannte Rechtsextreme wie Gottfried Küssel. Die Polizei versucht, die schließlich 20.000 Menschen durch die Stadt zu lotsen und Ausschreitungen zu verhindern - aufhalten können sie die Märsche nicht.
Am späten Nachmittag ziehen die Demonstranten auf einer nicht angemeldeten Route vom Maria-Theresien-Platz an der Wiener Ringstraße bis in den Prater. Auf der Jesuitenwiese ist eine Bühne mit Lautsprecheranlage aufgebaut. »Für unser Österreich - Freiheit, Demokratie, Grundrechte« ist auf dem rot-weiß-roten Transparent im Hintergrund zu lesen. Österreich-Fahnen werden geschwenkt, auch eine deutsche und eine israelische Flagge, Transparente fordern »Kurz muss weg«. Die Sonne steht tief, die Demonstranten warten auf den Höhepunkt des Tages: Herbert Kickl tritt vor das Mikrofon. Er trägt eine blaue Sportjacke mit türkiser Kapuze, legt sein Manuskript auf das Rednerpult und lässt den Blick über die Menge gleiten. Es ist nicht seine erste Rede an diesem Tag, schon am Heldenplatz hat er gesprochen, aber jetzt ist er beeindruckt. »Liebe Freunde der Freiheit!«, beginnt er. »Es gehört schon einiges dazu, dass es mir die Sprache verschlägt, aber heute bin ich knapp davor angesichts der Menschenmassen, die hier zusammenstehen, um für unsere Freiheit und Demokratie einzutreten!« Freudenbekundungen gehören nicht zum rhetorischen Standard-Repertoire des freiheitlichen Klubobmanns. Er gibt fast immer den Scharfmacher, attackiert, haut hin, provoziert. Kickl ist der Meister zorniger Formulierungen. Jetzt aber ist er vom Zuspruch überwältigt und zeigt es auch. Am Weg in den Prater habe er viele tolle Slogans gesehen, sagt er und ruft einen davon in die Menge: »Kurz wegkickln«, und im Kärntner Dialekt fügt Kickl hinzu: »Des gfollt ma guat!« Die Leute jubeln.
Kickl ist der Star. Vierzig Minuten lang wird er die Menge einschwören auf den »Sieg« und die »Rückgewinnung unserer Freiheit«. Er zieht Parallelen zu »denjenigen, die vor uns für die Freiheit gekämpft haben und dafür Verfolgung in Kauf genommen haben«. Es ist nicht klar, wen er damit meint. Kickl liebt es, seine ideologischen Positionen mit Geschichte aufzuladen. Und mit Bedeutungsschwere: »Wir lösen ihnen gegenüber eine Schuld ein!«
Rasch ist die positive Ouvertüre verklungen, und die Menge der Wütenden bekommt, was sie nährt: Schmähungen des »Systems, das gegen uns ankämpft«, und Verachtung für »die da oben, die uns beherrschen wollen, egal ob in Berlin, ob in Paris oder sonst wo auf dieser Welt«.
Applaus, Jubel, Parolen. Kickl skandiert mit: »Kurz - muss - weg! Kurz - muss - weg!« Bundeskanzler Sebastian Kurz steht hier für das System, für Die-da-oben und für alle Anti-Covid-19-Maßnahmen sowieso.
Kickls Rede besteht nicht bloß aus aneinandergereihten Phrasen. Gewissenhaft hat er sich auf diesen Auftritt vorbereitet. Mit einem kurzen Ausflug in die Philosophie leitet er den Begriff der Freiheit her und zitiert aus Jean-Jacques Rousseaus »Gesellschaftsvertrag«: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.« Dieser Satz habe sich während seiner Studienzeit »bis ins Mark eingebrannt«, sagt Kickl, der sein abgebrochenes Philosophie-Studium noch einmal strapaziert und sich und der Menge (annäherungsweise) in Kants Worten bescheinigt: »Wir haben Mut, unseren eigenen Verstand zu benutzen.« Gemeint ist im konkreten Fall allerdings recht profan: anstatt auf die Ratschläge der Epidemiologen zu hören.
Vierzig Minuten Aufmerksamkeit, vierzig Minuten Applaus. Dem drahtigen Mann am Mikrofon tost die Verehrung der Masse entgegen. Am Ende liest er ein selbst verfasstes, fünfstrophiges Gedicht vor, in dem er »nicht alle beugen ihr Haupt« auf »statt leise sind wir laut« reimt; sogar dafür gibt es Beifall.
Die Position im Mittelpunkt ist eigentlich nicht diejenige, die Herbert Kickl für sich beansprucht. Er gibt wenig von sich und seiner Herkunft preis, lediglich, dass er aus »kleinen Verhältnissen« stammt. Von da schaffte er es dank seiner intellektuellen Begabung, besonders seines sprachlichen Talents, in die Politik. Doch Kickls Aufstieg endete stets auf Platz zwei. Er war der Mann hinter FPÖ-Chef Jörg Haider, dessen Reden er schrieb; dann hinter dessen Nachfolger Heinz-Christian Strache, jetzt wieder hinter dessen Nachfolger Norbert Hofer. Mehr als ein Vierteljahrhundert im Schatten des jeweiligen Anführers zu stehen, kann zermürben. »Herbert, Herbert, Herbert«, skandiert die Menge in der Abendsonne im Prater. Parteichef Norbert Hofer ist nirgendwo, weder ist er hier präsent noch in der erbittert geführten Debatte. Hofer verweigert die Scharfmacherei gegen die Covid-19-Maßnahmen und lässt sich sogar impfen.
Die gedankliche Radikalität, seine scharfe Argumentationsweise und auch sein politisches Handeln standen Kickl lange im Weg. Jetzt aber entspricht diese Radikalität dem Zeitgeist, vor allem wenn sie politisch rechts beheimatet ist. Nicht nur in Österreich. Europa hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine enorme politische Umwälzung erfahren. Als die FPÖ unter Kickls Ziehvater Haider im Jahr 2000 als Koalitionspartner der christlich-sozialen ÖVP in die Regierung eintrat, empfand die politische Klasse in Europa dies als Tabubruch. Heute tragen rechtspopulistische Parteien in mehreren Staaten der Europäischen Union Regierungsverantwortung, und es gibt kaum ein Land, in dem sie bei Wahlen nicht auf den vorderen Plätzen liegen.
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