Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Seit einigen Tagen fiel ihr häufiger auf, dass Bertie seinen Vater imitierte. Es hatte mit Kleinigkeiten begonnen. Als Gerhard am Samstag mit seiner Zeitung im Sessel Platz genommen hatte, hatte Bertie sein Lieblingsbilderbuch Freund Purzel geholt und darin zu Füßen seines Vaters ebenso geschäftig geblättert wie dieser in den Wirtschaftsnachrichten. Als sein Vater am Montag dann wie immer morgens um kurz nach sechs das Haus verlassen hatte, war Bertie in den Flur gestapft, hatte sich selbst sein Mäntelchen angezogen, zwei Bauklötze in ihre Handtasche getan, sich diese wie einen Aktenkoffer unter das Ärmchen geklemmt und gerufen: «Abeit, ich auch Abeit!» Immer schon hatte Bertie seinen Vater bei allem, was er tat, sehr genau gemustert. Aber erst in diesen Tagen wurde ihr bewusst, wie sehr sich Bertie an seinem Vater orientierte. Er schüttelte seinen Kopf, wenn Gerhard den kahlen Kopf schüttelte, er blickte ebenso misstrauisch aus dem Wohnzimmerfenster, wenn Spaziergänger vorbeiliefen, er tippte sich wie Gerhard mit dem Zeigefinger an die Stirn, wenn ihm eine Idee kam. Sie sah nun Gerhard in Bertie.
Am Freitagabend deckte sie den Tisch für das Abendbrot. Marga, das Dienstmädchen, war früher gegangen. Sie selbst hatte es ihr vorgeschlagen. Wenigstens den Tisch wollte sie alleine decken, alleine das Abendbrot vorbereiten, sie konnte das auch ohne Marga. Prompt ließ sie eine Tasse Tee fallen. Hagebuttentee. Gerhards abendlichen Hagebuttentee, der erst auf den Tisch getragen werden durfte, wenn er bereits lauwarm war, und den er stets aus seiner Tasse trank. Seine Tasse war ein für einen so großen Mann lächerlich kleiner Porzellanbecher, der sicherlich mal ein Geschenk irgendeines Kunden oder Lieferanten zur Weihnachtszeit gewesen war. Porzellanmalerei Ophir Bethel stand auf dem Boden des Bechers, sie hatte den Schriftzug oft gelesen. Morgens, wenn sie mal wieder trotz Margas leisem Protest ihre Kaffeetasse selbst abspülte und in den Geschirrschrank stellte. Oder mittags, wenn sie ziellos durch das Haus lief und am Ende bei Marga in der Küche landete. «Erzähl mir was, Marga», sagte sie oft, aber die arme Marga konnte nun wirklich nicht gut erzählen und redete ganz verlegen von irgendwelchen Belanglosigkeiten, dem Schwindelgefühl ihrer Mutter oder dem neuen Fahrrad ihres Bruders, nie aber von ihrem eigenen Leben. Und während Marga stockend sprach, öffnete sie selbst die Schranktür, nahm die Tasse in die Hand, stellte sie wieder hin, schloss den Schrank, inspizierte alles. Ophir Bethel. Wie oft sah und griff sie nach dieser Tasse in den lang werdenden Stunden. In diesen Stunden, in denen sie überlegte, ob sie rausgehen sollte in die Stadt, die sie nicht kannte. Sie dachte darüber nach, bis es wieder zu spät war und Gerhard nach Hause kam. Es waren Stunden, in denen sie alles las und alles zählte, was ihre Augen sahen. Es war ja nicht nur die Tasse. Zwei, vier, sechs, acht, zehn Kacheln hoch, zwei, vier, sechs, acht Kacheln quer über dem Spülbecken. Schaffen und Streben fürs häusliche Leben stand auf dem Löffelblech neben dem Herd, sie wollte diesen Spruch gar nicht lesen, aber sie konnte nicht anders, manchmal hörte sie sich diesen stupiden Satz sogar laut aufsagen. Sie hätte in diesen Stunden seine Zeitung lesen können, ein Buch mal wieder, eines seiner Bücher. Aber sie war wie gelähmt, sie hatte keine Kontrolle darüber, was sie las und was sie sah. Sie wollte allein sein, aber das Haus mit seinen Möbeln und seinen Mänteln und Krawatten und Dokumenten und seinen gerahmten Gemälden irgendwelcher Seeschlachten ließ sie nicht in Frieden. Überall stand etwas, überall lag etwas, das sie immer und immer wieder betrachtete, ohne es sehen zu wollen. Sie konnte sich ihrer Umgebung nicht erwehren, sie wurde mehr vom Haus betrachtet, als dass sie es betrachtete.
Marga entging ihre Entrücktheit sicher nicht. Sie war nur drei Jahre jünger, zweiundzwanzig. Sie hätten Dinge besprechen können, die junge Frauen so miteinander besprechen. Aber welche Dinge? Sie schämte sich vor Marga. Sie schämte sich ihres Mannes. Ihrer Lage. Ihrer Haare, die weniger gepflegt aussahen als die des Dienstmädchens. Sie schämte sich ihrer Sprachlosigkeit. «Darf ich Ihnen etwas bringen?», fragte Marga oft hilflos. Und wie gerne hätte sie gesagt: «Komm, setz dich zu mir!» Es war doch bloß Zufall, dass sie die Frau und Marga das Dienstmädchen dieses Mannes war. Sie hätte das Gespräch gerne damit begonnen, dass sie selbst nie ein Dienstmädchen gehabt hatten daheim. Wie gerne hätte sie Marga alles erzählt. Wie gerne hätte sie von Marga alles erfahren. Aber sie wusste nicht einmal, was das sein sollte; alles. Bertie saß in diesen Stunden so geduldig auf dem Boden und lächelte sie mild und neugierig an, als wollte er sagen: Ich warte, bis es dir bessergeht, bis du weißt, was du eigentlich willst. Er war so artig. Er aß seinen Brei. Er schlief seinen Schlaf. Er war für sie da. War sie für ihn da? Er war ein Kind von fast drei Jahren. Und sie war auch noch ein Kind, jedenfalls behandelte Gerhard sie so. Sie dachte an früher und warum alles so gekommen war, und sie dachte an ein Morgen, von dem sie ahnte, dass es nie kommen würde. Sie war nie wirklich da, immer woanders. Bertie war so ein wunderbares Kind, und sie sah ihn an und spürte nichts.
Ophir Bethel, welch ein Name! Sie stellte sich vor, eine Tochter zu gebären, die den Namen Ophir Bethel Sagers tragen und später langes, glattes blondes Haar haben würde, kein struppiges wie ihre Mutter und Großmutter und Urgroßmutter. Ophir Bethel Sagers wäre anders. Sie wäre ein einnehmendes, geliebtes Geschöpf, ihre geliebte Tochter, vom ersten Tag an geliebte Tochter. Sagers war Gerhards Name. Wäre er Bethelchens Vater? Wer sonst? Wollte sie einen anderen Mann? In solchen, sie selbst quälenden, nicht zu unterbrechenden Gedanken war sie wohl auch am Freitagabend gewesen, bevor die Tasse zu Boden gefallen war. Seine Tasse. Oben, fast am Rand, schauten zwei Engelsgesichter aus einem Adventskranz. Und darunter stand in großen goldenen Lettern: Zur Erinnerung an Weihnachten. Aus dieser Tasse trank er jeden Abend Hagebuttentee, die einzige Flüssigkeit, die er außer Wasser tagein, tagaus zu sich nahm. Aus einer viel zu kleinen, kindlichen Weihnachtstasse, die für ihn keinen sentimentalen Wert haben konnte, da seine Familie viel zu arm gewesen war, um Weihnachten zu begehen. Vor ihr war er Junggeselle gewesen und hatte niemanden gehabt, mit dem er Weihnachten hätte feiern können. Und die drei Heiligabende, die sie mit ihm verbracht hatte, waren es auch nicht wert, erinnert zu werden. Im ersten Jahr, sie hatte Bertie noch gestillt, hatte sie von der wunden Brust Fieber bekommen. Das Kind hatte immer weiter saugen wollen. Man konnte es nicht weglegen, keine Sekunde. Sie hatte es nicht geschafft, den Baum zu schmücken. Gerhard war wie jeden Tag spät nach Hause gekommen. Jedes Weihnachten hatte er Kartoffelsalat und Schinkenknacker verlangt. Nach dem kurzen Essen hatte er ihr stets Schmuck in einer Schachtel überreicht, auf der sein Name stand. Gerhard H. Sagers, Juwelier. Einmal waren es Ohrringe, einmal eine dünne bronzene Kette, einmal eine Brosche. Bertie hatte letztes Jahr einen Kreisel bekommen, mit Clownsgesichtern darauf. Und die Bauklötze. «Ich besorge alles für Bertie», hatte er vorher gesagt, als könne nur er ihrem Sohn etwas schenken, als sei sie nicht einmal dafür zu gebrauchen. Und er hatte ja recht, sie hätte nicht gewusst, wo man hier Spielzeug kauft.
Ihm hatte sie noch nie etwas geschenkt. Nicht zu Weihnachten. Allein zu seinem Geburtstag schenkte sie ihm jedes Jahr Socken. Er wollte nichts. Mach dir keine Mühe, sagte er. Und ihr würde im Leben nicht einfallen, was sie diesem Mann schenken sollte. An Heiligabend ging er so rasch ins Bett, dass sie ihm gar nichts schenken konnte, selbst wenn sie gewollt hätte. Ihm war der Heiligabend egal. Und trotzdem trank er jeden Abend Hagebuttentee aus einer Weihnachtstasse, als würde er sich an etwas erinnern wollen, das er nicht kannte. Zu dem er nicht fähig war. Oder er wollte sie mit dieser Tasse daran erinnern, was sie ihm nicht geben konnte, was sie gemeinsam nicht hatten: Wärme, Liebe, schöne Weihnachten. Er wollte doch kein Weihnachtsfest feiern, ließ sie aber dennoch mit Bertie nicht zu ihrer Familie fahren zwischen den Jahren. Er hielt sie hier fest, nur um sie anzuschweigen. Und anschließend versuchte er noch wortlos, ihr die Schuld für die Trostlosigkeit zu geben. Mach dir keine Mühe, sagte er, und dann bestrafte er sie dafür, dass sie sich keine Mühe gab. Tu dir doch mal etwas Gutes, sagte er, und dann schimpfte er,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.