Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein warmer Junitag. In den frühen Vormittagsstunden waren mein Truppführer und ich, beides Wehrpflichtige, gerade mit einem der letzten Fahrzeuge auf den Truppenübungsplatz eingebogen und parkten unseren Unimog hinter all den anderen Militärfahrzeugen, die in einer langen Schlange am Wegesrand standen.
Nach einer insgesamt dreitägigen Militärübung sollte auf dem Standortübungsplatz der Kaserne im Raum Oberschwaben die Manöverkritik stattfinden, bevor wir dann endlich Dienstschluss hatten. Wir waren völlig übermüdet und froh, dass es bald vorbei sein würde und wir uns ausschlafen konnten. In den Nächten hatten wir immer wieder wechselnden Wachdienst gehabt: zwei Stunden Ruhe, dann wieder Wache. Mit scharfer Munition. Ich hatte immer die Hosen voll gehabt: Wenn du allein dort im Wald stehst, mitten in der Nacht, da fangen die Bäume an zu laufen und du erschrickst dich bei jedem kleinsten Geräusch. Jedes Mal war ich froh gewesen, wenn der Dienst zu Ende war und ich ausruhen konnte. An Schlaf war nicht zu denken gewesen, man war viel zu aufgewühlt, als das man hätte schlafen können. Und so hatten wir bis zum Ende der Übung nicht mehr als insgesamt vier Stunden richtig geschlafen.
Ich machte meinem Kameraden also den Vorschlag, dass er doch allein gehen könne, es würde sicher nicht auffallen, wenn ich in der Unimog-Kabine eine Mütze Schlaf nehmen würde. Es war nicht wirklich ernst gemeint, da ich ja auch wusste, dass auf dem Übungsplatz durchgezählt würde und mein Kamerad als Truppführer die Verantwortung hatte. Er drängte seinerseits zur Eile, da wir doch recht spät dran waren. Er beschloss, schon vorauszugehen und unsere Einheit zu melden, und ich versicherte ihm, dass ich noch den Unimog abtarnen würde, da wir uns ja immer noch in der Übung befanden.
Schnell warf ich das Tarnnetz über die Fahrerkabine und folgte dann zügig meinem Kameraden. Unser Weg ging entlang der parkenden Fahrzeugkolonne. Beim Vorübergehen an einem Unimog mit Anhänger bemerkte ich, dass an der Deichsel ein G3-Schnellfeuergewehr angelehnt war. Ich wunderte mich, dass doch tatsächlich einer der Kameraden seine Waffe vergessen hatte. Ich nahm das Gewehr auf und mir war klar, dass jedes Gewehr als geladen anzusehen war. In dem Moment wusste ich noch nicht, dass sich in den nächsten Sekunden mein Leben und das Leben anderer Menschen dramatisch und für immer verändern würde.
Ich machte einen Fehler, den man wohl mit menschlichem Versagen begründen würde. Ich tat das, was beim Reinigen einer Waffe Hunderte Male durchgespielt wird: Man reinigt die Waffe, setzt sie zusammen und muss eine Funktionsüberprüfung machen. Das heißt durchladen, entsichern und abdrücken, um die korrekte Funktion zu überprüfen. Natürlich weiß man in dem Moment, dass keine Munition in der Waffe ist. Dies wird zum Automatismus ähnlich dem, dass man beim Gangschalten im Auto auch nicht mehr auf die Zeichen auf dem Schalthebel schaut.
Ich war während der Übung so unterwiesen worden, dass Magazine mit scharfer Munition einen gelben Klebestreifen haben müssen. Dieses Magazin, das ich jetzt in der Hand hielt, hatte das nicht, wohl aber die Waffe selbst. Zusätzlich dazu wurde bei uns immer morgens nach dem Wachdienst auf der Übung die scharfe Munition eingesammelt bzw. die Magazine mit scharfer Munition gegen leere Magazine getauscht.
Ich stand also mit dem Gewehr in der Hand zwischen Lkw und Anhänger. Um die Waffe besser bedienen zu können, setzte ich den Gewehrkolben auf meinem Oberschenkel auf. Doch anstatt den Ladehebel des Gewehres so weit aufzuziehen, um im Lauf des Gewehres nachsehen zu können, ob sich dort eine Patrone befand, zog ich den Hebel durch, entsicherte und drückte ab. Ein laut gellender Schuss löste sich und ich war völlig perplex, dass tatsächlich Munition in der Waffe war.
Das gibt mächtig Ärger, schoss es mir sofort durch den Kopf. Ich hatte die Waffe nicht richtig überprüft in dem Glauben, dass es keine scharfe Waffe sei. Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte Stille. Ich wollte mich schon innerlich vorbereiten auf das Donnerwetter, das gleich über mich hereinbrechen würde, doch da sah ich, wie ein Kamerad von oben herab direkt vor mir auf den Boden fiel.
Ich verstand zuerst überhaupt nicht, was los war. Doch im nächsten Augenblick durchfuhr es mich siedend heiß: Der Schuss, verdammt, wo kommt er plötzlich her, wo war er?! Erst jetzt sah ich nach oben und sah die offene Funker-Kabine, durch die er im Moment des Schusses gekommen sein musste. Das ist eine Art viereckiger, geschlossener Container mit Ausgangsluke auf der Ladebordwand des Lkw. Durch diese Luke musste er im Moment des Schusses gekommen sein. Er hatte mich wohl ebenfalls nicht bemerkt, sonst hätte er sich doch sicher bemerkbar gemacht!
Später erfuhr ich, dass mein Kamerad sich bereits auf dem Übungsplatz befunden hatte, aber zurückgeschickt worden war, um eine Warnweste zu holen. Er sollte damit eventuellen Verkehr auf dem Übungsplatz regeln, der nichts mit der Übung zu tun hatte.
Als mir bewusst wurde, was hier gerade passiert war, begann ich zu schreien. Ich schrie um Hilfe. Mein Kamerad stöhnte und ich schrie, so laut ich konnte, um Hilfe.
Trotz meiner Hilfeschreie konnte ich das Ganze irgendwie noch nicht fassen. Ich war in totaler Schockstarre und auch nicht in der Lage, meinem Kameraden selbst zu helfen. Mein Truppführer, mit dem ich angekommen war, kam zurückgeeilt und kurz darauf trafen auch schon die sogenannten Dienstgrade, also meine Vorgesetzten, ein. Sie versorgten meinen Kameraden und veranlassten den schnellen Abtransport.
Ich konnte noch einen Blick auf ihn werfen und sah, dass er nicht mehr in der Lage war, zu reagieren. Ich schrie immer noch. Ich schrie so laut und hoffte, das Schreien könnte irgendetwas bewirken.
Einer der Dienstgrade nahm mich zur Seite, drückte mich und versuchte mich zu trösten. Aber da gab es nichts zu trösten.
Ich wollte das nicht, Scheiße, was ist hier passiert! Warum, das kann doch nicht sein! Ich wechselte vom Schreien ins bitterliche Heulen und wieder ins Schreien. Nein, nein, nein.
Ich wurde in die Kaserne gebracht. Dort kam ich in einen Raum, gemeinsam eingeschlossen mit einem anderen Kameraden, der mich mit scharfer Waffe bewachen musste. Dieser Kamerad tut mir noch heute leid. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mit ihm allein war, aber ich schrie ihn die ganze Zeit über an. Nicht ihn direkt, ich schrie einfach.
Nein, nein, das darf nicht sein! Dazwischen versuchte ich, Gebete zum Himmel zu schicken. Bitte lass ihn nicht sterben, bitte, bitte nicht. Im nächsten Moment schrie ich Gott an: Warum!!!
Ich denke heute, dieser Kamerad wird diese Zeit in dem Raum mit mir sein Leben lang nicht vergessen. Wenn er gefragt werden würde, was Schuld sei, könnte er antworten, er könne vielleicht nicht genau erklären, was Schuld im Einzelnen sei, aber er wisse seit damals, wie sich Schuld anhöre.
Ich war schuldig. Noch wusste ich nicht genau, wie schwer meine Schuld wiegen würde. Vielleicht hatten wir beide Glück gehabt und der Kamerad war nicht schwerer verletzt. Aber genauso konnte es sein, dass er schwerstverletzt war oder sogar sterben könnte.
Ich hatte das alles nicht gewollt! Warum hatte das blöde Gewehr bloß da rumgestanden? Warum war verdammt noch mal scharfe Munition drin gewesen? Aber es brachte alles nichts. Ich hatte den Auslöser gedrückt. Ohne diese Aktion hätte ich jetzt nicht hier gesessen. Vor allem wäre der Kamerad jetzt nicht verletzt, schwer verletzt oder gar tot.
Es war qualvoll: Ich wusste nichts, keiner sagte mir etwas. Und wieder kamen diese Schreianfälle in Abwechslung mit Weinkrämpfen. So etwas hatte ich nie erleben wollen, nie, niemals! Ich wollte doch nur meinen Wehrdienst tun, so wie Tausende andere vor mir auch.
So viele Fragen schossen mir durch den Kopf, so viel Verzweiflung, und alles mündete in diesen einen verdammten Gedanken: Warum?
Dieser Gedanke brachte mich fast um den Verstand und er ließ mich ohne Antwort allein - nicht nur für den Moment, sondern über viele Jahre. Auch heute noch beschleicht sie mich immer wieder, die Frage nach dem Warum. Dass sie mich gefangen hält, habe ich erst sehr viel später verstanden und auch, welchen Ausweg es daraus gibt.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in dem Raum allein war, mit meinem bemitleidenswerten Kameraden, mit meiner Verzweiflung, meiner Ohnmacht und Angst. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde die Tür aufgeschlossen, es kamen verschiedene Dienstgrade in den Raum und mit ihnen der katholische Standortpfarrer. Er war als Militärseelsorger zuständig für unsere Kaserne.
Schon an seinem Gesichtsausdruck sah ich, dass meine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren. Sven hatte nicht überlebt. Er war kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus an seinen schweren inneren Verletzungen gestorben. Die Verletzungen kamen von der speziellen Munition, die bei unserer Übung verwendet worden war. Sie hatte die verheerende Wirkung, dass sie sich beim Auftreffen auf einen harten Gegenstand verformte und somit alles zerriss, war ihr in den Weg kam. Diese Munition, eine Weichkernmunition, war darauf ausgelegt, sicher zu töten. Sven hatte keine Chance gehabt. Der Schuss hatte sich in dem Moment gelöst, als er die Kabine seines Lastwagens in gebückter Haltung verlassen hatte. Die Munition war beim Auftreffen auf das Schlüsselbein verformt und ins Innere des Körpers abgelenkt worden, dort hatte sie ihre schreckliche und tödliche Wirkung entfaltet.
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