Schweitzer Fachinformationen
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KAPITEL 2
Ein Fräulein erlebt Unvorhergesehenes und ein Kaffee mit Folgen
1939, St. Gallen
In einem Nichtraucherabteil saß ein junges Fräulein. Sie saß am Fenster, hielt ein Buch, das mit einem ledrigen Einband versehen war, in beiden Händen, hob immer wieder ihren Kopf, ließ gelangweilt ihre Augen in die Ferne schweifen, las weiter, rutschte etwas genervt hin und her, um eine bequemere Sitzhaltung einzunehmen, schaute wieder zum Fenster hinaus und ließ Bäume, Häuser, Bahnhöfe, Straßen und Autos von hinten an sich vorübergleiten, da sie gegen die Fahrtrichtung auf einer abgewetzten Bank saß. Das Buch ödete sie an. Entschlossen klappte sie es zu und versenkte es in ihrem Rucksack, den sie wie immer bei sich trug, wenn sie zu Hause in Thun war und wieder nach St. Gallen zurückfuhr.
Das Fräulein schaute auf die Uhr. Noch mehr als eine Stunde hatte sie zu fahren, bis sie endlich wieder ihr Mansardenzimmer betreten und sich so richtig zu Hause fühlen konnte. Sie fühlte sich hin und her gerissen. Sie dachte daran, wie ihr alter Herr zu Hause sie mit drohenden Gebärden überredet hatte, an der Hochschule zu studieren und dann, etwa in zehn Jahren, in seine Fußstapfen zu treten. Sie würde in der Teppichetage der Hoffmann AG, einer Firma für Karton- und Blechverpackungen, ihren Alltag verbringen und hätte den Auftrag, eine Karriere an den Tag zu legen, die alle offenen Münder ihrer männlichen Umgebung in Schockstarre versetzen ließ. Als fast einzige Frau war sie in St. Gallen angetreten, obwohl sie für sich ganz andere Pläne hatte. Von Herzen gern wäre sie Krankenschwester oder vielleicht sogar Hebamme geworden. Aber ihr alter Herr hatte sich ihre Karriere in den Kopf gesetzt und ihm konnte sie nicht, oder vielleicht noch nicht, widersprechen.
Mitten auf der Strecke blieb der Zug ruckartig stehen. Im Bahnwagen kam Bewegung auf. Die Leute rissen die Fenster auf und wollten wissen, was geschehen war. Soldaten einer Grenzeinheit hielten den Zug an. Mit ihren Karabinern am Anschlag verteilten sie sich auf die ganze Länge des Zuges und stürmten die Wagen. Alles ging sehr schnell und schon konnte sie beobachten, wie zwei Männer mit hoch erhobenen Armen aus dem Zug geleitet wurden. Die Soldaten schoben sie über die Gleise, bugsierten sie in ein parallel der Bahnlinie geparktes Auto, das darauf sofort abfuhr. Dem Fräulein blieb der Schrecken fast im Hals stecken und kurze Zeit später erzählten sich die Leute im Zug: «Das waren bestimmt Juden, die sich illegal in der Schweiz aufhielten, von der Fremdenpolizei aufgegriffen und verhaftet wurden.» Jemand wollte sogar wissen: «Die Armee stellt in solchen Fällen oft Grenzsoldaten zur Verfügung, weil die Polizei sonst hoffnungslos überfordert ist.» Ein Schaudern lief dem Fräulein über den Rücken. Ja, ihr alter Herr hatte das auch schon gesagt, dass die Schweiz keine Juden oder anderen Flüchtlinge mehr aufnehmen würde. Das Fräulein zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Schweiz ihre humanitäre Tradition plötzlich aufgeben und Flüchtlinge ins krisengeschüttelte Ausland abschieben würde. Wer weiß, was mit diesen Menschen passieren würde? Würde der sichere Tod außerhalb der Schweizer Grenze auf sie warten? Ein schrecklicher Gedanke, so etwas konnte sie sich kaum vorstellen.
Die Bremsen quietschten, der Zug rollte langsam in die Bahnhofshalle und stand dann still. Das Fräulein öffnete ihre Augen. Diese hatte sie geschlossen gehalten und ihren Gedanken freien Lauf gelassen. Jetzt war sie in St. Gallen angekommen und ganz plötzlich hatte sie den Eindruck, in einer Weltstadt zu Hause zu sein. Außergewöhnlich viele Leute drängten sich auf dem Bahnsteig dem Ausgang zu. Dampfende Walrosse, mächtige Kaliber von Lokomotiven, qualmten vor sich hin. Diese Maschinen sahen aus wie Museumsstücke neben den neuen, elektrisch betriebenen Loks, die vor den Schnellzügen angespannt waren und ungeduldig auf ihre Abfahrt warteten.
Das Fräulein machte sich auf, aus dem Zug zu steigen, auf dem Bahnhofplatz einen Bus zu erreichen, um sich dann früh genug schlafen zu legen. Irgendwie hatte sie genug von diesem Tag und seinen aufregenden Momenten. Ihr Weg führte am Bahnhofbuffet vorbei. Da blieb sie unvermittelt stehen, warf einen Blick auf die übergroße Bahnhofsuhr beim Bahnhofsausgang, zögerte einen Augenblick, drehte sich um, stieß fest entschlossen die schwere Holztür zum Bahnhofbuffet auf und stand in einer Halle, die ihr voll von Menschen und dichtem Rauchqualm erschien. Sie wollte gerade wieder gehen, da entdeckte sie einen freien Platz in der Nähe des Eingangs. Allerdings saß da schon einer, aber durch den musste sie sich ja nicht die Freude nehmen lassen, jetzt noch einen Schlummertrunk zu nehmen.
Ihr junges Gegenüber begann, sie zu beäugen. Er tat alles, jede Bewegung des Fräuleins genau zu beobachten und in sich aufzunehmen. Er bemerkte, wie sie sich etwas unsicher verhielt, wie sie um sich schaute, immer wieder mal das Zweierchen2 zu ihrem Mund führte, um ein Schlückchen zu trinken. «Warten Sie auf jemanden?», fragte er sie. Erschrocken starrte sie ihn an. «Oh, habe ich Sie erschreckt? Das tut mir aber leid. Bitte entschuldigen Sie.» Der junge Mann schmunzelte, trank seinen Kaffee aus und tat so, als wollte er bezahlen und das Restaurant verlassen. Doch dann sprach er weiter: «Entschuldigen Sie, mein Name ist Arthur Gantenbein. Ich wohne hier in St. Gallen, und Sie?» Erst jetzt merkte das Fräulein, dass der Mann mit ihr sprach. «Ach, ich wohne auch hier, das heißt, vorübergehend, für die nächsten drei Jahre.» «Ach so», antwortete der junge Mann und nickte unauffällig. «Was macht denn eine so junge, schöne Frau in dieser Stadt, und so allein?» «Hören Sie doch auf, so mit mir zu reden!» Das Fräulein rief diesen Satz so laut über den Tisch, dass es die in der Nähe Sitzenden hören konnten. Etwas leiser sagte sie: «Oh, entschuldigen Sie, das ist mir nur so herausgerutscht. Was wollten Sie wissen?» «Ja, ich wollte wissen, was Sie so machen, wenn Sie gerade kein Zweierli2 nippen.» Das Fräulein merkte, dass sie sich etwas stolz aufrichtete, als sie antwortete: «Ich studiere an der Hochschule.» Darauf vernahm sie nur ein leises: «Ach so.»
Die Bahnhofsuhr am Ausgang des Bahnhofs zeigte 22.40 Uhr, als das Fräulein, zusammen mit Arthur Gantenbein, das Bahnhofbuffet verließ. Ihr letzter Bus war vor einer Viertelstunde abgefahren. Aber, als sie sich von Arthur Gantenbein an der Bushaltestelle verabschiedet hatte und wusste, dass sie noch einen langen Weg nach Hause vor sich hatte, war sie sich sicher, dass sie diesen netten, jungen Mann wiedersehen wollte. Dann erschrak sie. Blitzschnell kehrte sie um. Mit ihren Stöckelschuhen lief sie, so schnell sie konnte, den Weg zurück und sah Arthur Gantenbein gerade noch, wie er in eine Seitenstraße einbog und in der Dunkelheit verschwand. «Hallo!», rief sie. «Hallo, hallo!»
Arthur Gantenbein blieb stehen. Außer Atem blieb sie dicht bei ihm stehen. «Äh, entschuldigen Sie, aber ich war so in unser Gespräch vertieft.» Das Fräulein nahm ein paar tiefe Luftzüge und versuchte, sich zu beruhigen. «Also, ich meine, wir haben noch etwas vergessen.» Etwas wirr schaute sie vor sich hinab auf den Boden. Dann nahm sie einen neuen Anlauf: «Ich meine, können wir noch die Adressen austauschen? Ich meine, ich muss Ihnen ja noch meinen Namen sagen. Haben Sie einen Zettel und ein Schreibzeug?» Arthur Gantenbein lächelte, zog einen Schreiber aus der Tasche, riss von einer Papierserviette ein Stück ab und schrieb darauf: Arthur Gantenbein, Männerheim Rosenberg, St. Gallen, Hauptnummer Telephon 071 7 24 48. Dann überreichte er dem Fräulein das Fetzchen und bekam dafür einen Zettel aus einem Schreibblock: Fräulein Brigitta Oppliger, Mühletalstraße 14, St. Gallen, Telefon der Schlummermutter Theresa Marty: 071 7 88 56. Wie ein Blitz durchzuckte sie ein Gedanke: «Was eine Liebschaft so alles ausmacht. Aber auch das muss sein, oder?»
Fräulein Brigitta Oppliger konnte ihre Augen kaum offen halten. Die Stimme des Professors, der neben dem Tresen stand und referierte, wurde immer leiser, seine Gestalt wirkte verschwommen und mit der Zeit vernahm sie nur noch ein zischendes Lallen, bevor sie die Augen ganz schloss und ihr Kopf auf die Pultplatte vor ihr sank. Immer, wenn ihr Kopf langsam nach unten rutschte, stieß ihr Nachbar sie in die Seite, dass sie zusammenzuckte. Danach fragte sie sich, wo sie wäre, und dann versuchte sie mit aller Kraft, sich aufrecht zu halten.
Das Studium an der Hochschule war für sie schon seit längerer Zeit ein Gräuel. Sie dachte daran, wie sie als Krankenschwester hätte glücklich sein oder als Hebamme den Menschen ihre Hilfe hätte...
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