2. Die Studienjahre.
Inhaltsverzeichnis Zur Rechtsgelehrsamkeit kann ich mich nicht bequemen.
Goethe. "Leipzig ist ein infames Nest, wo man seines Lebens nicht froh werden kann. Du sitzest vielleicht jetzt auf den Ruinen des alten Bergschlosses und lächelst vergnügt und heiter die Blüten des Juni an, während ich auf den Ruinen meiner eingesunkenen Luftschlösser und meiner Träume stehe, und weinend in den düsteren Himmel meiner Gegenwart und Zukunft blicke; überhaupt fliehe ich die erbärmlichen Menschen und bin manchmal so recht zerknirscht über die Winzigkeit und Erbärmlichkeit dieser egoistischen Welt. Ach, eine Welt ohne Menschen, was wäre sie? Ein unendlicher Friedhof, ein Totenschlaf ohne Träume, eine Natur ohne Blumen und Frühling, ein toter Guckkasten ohne Figuren - und doch! Diese Welt mit Menschen, was ist sie? Ein ungeheurer Gottesacker eingesunkener Träume, ein Garten mit Cypressen und Thränenweiden, ein stummer Guckkasten mit weinenden Figuren." Solche Ergüsse, an Freund Rosen gerichtet, kennzeichnen die Gemütsstimmung, in welcher der nunmehrige stud. jur. Schumann die ersten Tage in Leipzig verlebte, deutlich genug. "Die Natur - wo finde ich sie hier?" klagt er bald darauf der Mutter, "kein Thal, kein Berg, kein Wald, wo ich so recht meinen Gedanken nachhängen könnte, kein Ort, wo ich allein sein kann, als in der verriegelten Stube, wo es unten ewig lärmt und spektakelt." Die Leipziger Burschenschaft, in welcher damals eine recht neblige Deutschtümelei herrschte, entsprach seinen idealen Vorstellungen ganz und gar nicht und er trat bald mit anderen Gleichgesinnten zur Verbindung "Markomannia" über, ohne darum im studentischen Leben vollständig aufzugehen. Musik und Poesie trugen über Kneipe und Fechtboden fast immer den Sieg davon.
Allmählich begannen die Wogen seines Schmerzes gelinder zu schlagen. Im benachbarten Zweinaundorf fand er einen Ort, der seinen Natursinn einigermaßen zufrieden stellte; auch fügte sich's günstig, daß jene Verwandte der Carusschen Familie, von der oben als trefflicher Sängerin die Rede war, mit ihrem Gatten nach Leipzig übersiedelte. Schumanns musikalische Natur empfing in dem musikfreundlichen Hause mannigfaltige Anregung und Pflege, zumal da die hervorragendsten Künstler der Stadt daselbst zu verkehren pflegten. Von hoher Bedeutung wurde für ihn namentlich die Bekanntschaft mit Friedrich Wieck, dem berühmten Klavierlehrer und dessen neunjähriger Tochter Klara. An dem Spiele der kleinen Virtuosin konnte er recht deutlich absehen, welche Erfolge durch einen planvollen, methodischen Unterricht zu erzielen sind und war eifrig bemüht, die Mängel der eigenen Technik, wie sie sich bei einem Autodidakten mit Notwendigkeit herausstellen müssen, unter Wiecks kundiger Leitung wieder auszugleichen. Seinem Lehrer erwuchs hier die heikle Aufgabe, die halberblühte Knospe noch einmal zusammenzufalten, was bis zu einem gewissen Grade in der That auch gelang; nur von der Unentbehrlichkeit theoretischer Musikkenntnisse war Schumann einstweilen nicht zu überzeugen. Statt Harmonielehre zu treiben, versenkte er sich in Gemeinschaft mit einigen musikalischen Kommilitonen in die Schätze deutscher Kammermusik, studierte Bachs "Wohltemperiertes Klavier" und entzückte sich an den Tonwerken des jüngst verstorbenen Meisters Schubert, welchen er gern mit Jean Paul zu vergleichen pflegte. "Wenn ich Schubert spiele, so ist mir's, als läs' ich einen komponierten Roman Jean Pauls." Unter Schubertschem Einflusse entstanden auch mehrere eigene Kompositionen, Polonaisen, Variationen und ein Dutzend Lieder, welch letztere er an G. Wiedebein, einen damals geschätzten Liederkomponisten, zur Beurteilung einschickte. Die Antwort fiel günstig aus: "Sie haben viel, sehr viel von der Natur empfangen; nützen Sie es und die Achtung der Welt wird Ihnen nicht entgehen."
An dem öffentlichen Musiktreiben Leipzigs, welches seit dem Ende der zwanziger Jahre immer reicher und reicher erblühte, nahm Schumann lebhaften Anteil. Der Thomanerchor, die Gewandhauskonzerte, erfreuten sich schon damals eines ausgezeichneten Rufes, ja selbst die untergeordneteren Institute, z.B. der Orchesterverein "Euterpe" oder die Matthäischen Quartettakademien boten achtbare Leistungen. Minder Gutes läßt sich von dem etwas verwahrlosten Theater sagen; doch besaß es wenigstens an seinem Kapellmeister Marschner eine bedeutende Kraft, so daß man im allgemeinen der Behauptung Schumanns beipflichten kann, es gebe in Deutschland keinen besseren Ort für einen jungen Musiker als Leipzig.
Jawohl, für einen Musiker! Aber war er denn ein solcher? Gehörte er nicht ins Kollegium, vor das Corpus juris, statt in den Konzertsaal und vors Klavier? Das ist die bedenkliche Seite seines Leipziger Universitätslebens. Zwar wird in den nach Zwickau gerichteten Briefen von fleißigem Kollegienbesuche gesprochen und über die Eiskälte der Rechtswissenschaften gejammert; allein aus den Briefen an vertraute Freunde geht mit Sicherheit hervor, daß Schumann fast nie ein juristisches Kollegium besucht, geschweige denn ein juristisches Buch zur Hand genommen hat. Wohl aber hörte er die Vorlesungen des Philosophen Krug und las Fichtes, Kants und Schellings Schriften.
Im folgenden Jahre vertauschte Robert die Leipziger Hochschule mit der in Heidelberg. Wenn er indessen der Mutter, um ihre Einwilligung zu erhalten, als Grund dieses Wechsels angiebt, daß dort die berühmtesten Professoren lehrten, so ist das bei einem Studenten, der die Überzeugung hegt, "daß alle Kollegien überhaupt nur Eseln nützen können," bloß eitel Vorwand. In Wahrheit wollte er aus dem von der Natur recht stiefmütterlich bedachten Leipzig heraus - zumal da Wieck den Klavierunterricht kurz zuvor wegen Zeitmangels eingestellt hatte - wollte andere Menschen kennen lernen und vor allem wieder einmal Freund Rosen in die Arme schließen. Die gute Mutter war bald überredet und Schumann wandte seelenvergnügt dem "erbärmlichen Leipzig" den Rücken.
Das war eine Fahrt, unter blauem Himmel über lachende Frühlingsau'n! Dazu hatte ihm der Zufall in Willibald Alexis einen geistvollen Gefährten beigesellt, dem er sogar noch eine Strecke rheinabwärts bis Koblenz das Geleite gab. In einem reizenden Briefe an die Mutter schildert er ausführlich all seine Reiseerlebnisse, beschreibt die lieblichen Mainlande, das interessante Frankfurt, die herrlichen Abende am Rhein und vergißt auch nicht einige Bemerkungen über die Kost und - die Mädchen einzuflechten. Nur eine Stelle aus dem merkwürdigen Berichte sei herausgehoben: "Um neun Uhr fuhren wir von Wiesbaden ab. Ich drückte die Augen zu, um den ersten Anblick des alten, majestätischen Vater Rhein mit ganzer Seele genießen zu können; und wie ich sie aufschlug, lag er vor mir, ruhig, still, ernst und stolz wie ein alter, deutscher Gott und mit ihm der ganze blühende, grüne Gau mit seinen Bergen, Thälern und Rebenparadiesen." Es liegt ein Stück Kulturgeschichte in diesen Worten; noch wenige Jahrzehnte zuvor konnte der Deutsche mit dem Namen "Rhein" nur die Vorstellung seiner Reben verbinden; jetzt haftet an ihm eine Reihe mythischer Anschauungen, jetzt ist er eine Art Heiligtum unseres Volkes geworden, und das Weinlaub, das sein ehrwürdiges Haupt umkränzt, wird vom Epheu der Sage beinahe überwuchert. Die Poesie dieses Stromes musikalisch zu erfassen, wie es später Liszt in der "Lorelei" oder Wagner in den "Nibelungen" gethan hat, mußte Schumann allerdings versagt bleiben: sie war damals beinahe noch ein ausschließliches Eigentum der Dichtkunst.
In Heidelberg, "der Vaterlandsstädte schönster", führte Schumann mit Rosen ein wahres Götterleben. Freilich, wenn er nach Hause schreibt, daß ihm bei Thibaut selbst das Jus besser schmecke, daß er jetzt die Würde der Jurisprudenz begreifen lerne, so ist das gar nicht buchstäblich zu nehmen. Der große Gelehrte betrieb, wie er offen zur Schau trug, seine Wissenschaft nur mit Unlust und es war ein Ausspruch von ihm bekannt, er würde, wenn er nochmals zu leben hätte, lieber Musiker werden, als Pandektist. Solche Denkungsweise eroberte ihm Schumanns Herz im Sturme, so wenig sich der Verehrer Schuberts sonst mit dem musikalischen Glaubensbekenntnisse des greisen Professors auch befreunden konnte. Thibaut hatte nämlich in seinem 1825 erschienenen Buche "Über die Reinheit in der Tonkunst" eine archaische Richtung eingeschlagen und pflegte die Werke der alten Meister in seinem Hause aufführen zu lassen. Auch Schumann wurde diesen Abendunterhaltungen beigezogen. "Sie glauben kaum," schreibt er an Wieck, "was ich bei ihm für herrliche, reine, edle Stunden verlebt habe und wie sehr seine Einseitigkeit und pedantische Ansicht über Musik bei dieser unendlichen Vielseitigkeit und bei diesem belebenden, entzündenden und zermalmenden Geiste schmerzt."
Der trefflichen Lehrer ungeachtet wurden die Kollegien aber nach wie vor arg vernachlässigt. In dieser Hinsicht war Schumann einmal unverbesserlich. Viel lieber durchstreifte er die reizende Umgebung Heidelbergs oder stürzte sich, als der Winter seinen Ausflügen ein Ziel setzte, in den Strudel des lustigen Studentenlebens. "Fast alle Abende," heißt es in einem Briefe an die Mutter, "bin ich in Gesellschaften oder auf Bällen." Bald treffen wir ihn bei den Schlittenfahrten, welche die Studentenvereine - er gehörte der Saxoborussia an - in großem Stile veranstalteten, bald und zwar am häufigsten huldigt er dem Tanzvergnügen. Zugleich bereitet er sich zu einer "italienischen Reise" vor, welche in den zwischen Winter- und Sommersemester eingeschalteten...