Schweitzer Fachinformationen
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Werther, Oktober 1909
Anne Dunst stieß ein tiefes Seufzen aus, als sie an der Seite ihres Bruders Fritz die Gemeindegrenze des kleinen Städtchens Werther in Westfalen passierte. Wie altvertraut die Wege doch noch waren, obwohl sie jetzt mit der Bahn anreisten - 1901 war der Bahnhof eröffnet worden -, während sie früher mit der Postkutsche gekommen waren.
Ein merkwürdiges Gefühl stieg in ihr auf. Eine Mischung aus . Anne spürte nach . ja, aus tiefer Trauer und großer Freude. Keine unbändige, jubelnde Freude war das, wie sie sie zum letzten Mal empfunden hatte, als ihr Vater ihr das ersehnte Veloziped zum Geburtstag geschenkt hatte, von dem sie so lange geträumt hatte. Eher die warme, satte Freude, die aus der Geborgenheit geboren wurde, die ihr die Großeltern immer geschenkt hatten. Die Großeltern, die nun tot waren, ebenso wie der Vater und die Mutter. Mit einem Mal spürte sie wieder den altbekannten Kloß im Hals und musterte verstohlen den Mann, der ihr im Abteil gegenübersaß und angespannt zum Fenster hinaussah.
Fritz. Ihr Bruder. An seiner Miene konnte sie erkennen, dass er von der Rückkehr in die kleine Stadt ihrer Großeltern mindestens ebenso angerührt war wie sie. Ihre Stimmung schlug schon wieder um. Der Kloß im Hals wich unbändiger Liebe für diesen Mann mit seinem eckigen Backenbart, seinem hellen rotbraunen Haar und den gütigen grauen Augen. Er war der Einzige, den sie noch hatte. Und sie war die Einzige, die er noch hatte. Nun würden sie ein gemeinsames Leben beginnen, in dem Haus, das ihre Großeltern ihnen vermacht und in dem sie so viele glückliche Kindertage verbracht hatten.
Als habe er ihren Blick gespürt, wandte er den Kopf, um ihr zuzulächeln, und deutete dann hinaus. »Siehst du die Rauchschwaden?«, fragte er.
Sie folgte seinem Blick und war von der prachtvollen Herbstlandschaft, die sich ihr eröffnete, wie verzaubert. Die Blätter an den Bäumen leuchteten gelb und rot, und wieder verschränkte sich das äußere Bild mit einem inneren, das tief aus der Kammer des Vergessens aufstieg. Eine kleine Kinderhand - ihre Hand -, die sich um den größten Schatz des Herbstes schloss: eine Kastanie! Die Sonne auf ihrem Gesicht, eine andere Hand, eine zärtliche, liebevolle, runzlige Hand auf ihrem Haar. Die Stimme der Großmutter. »Meine kleine Herbstprinzessin« hatte sie sie damals genannt.
Mit fahrigen Händen tastete Anne in ihrer Jackentasche nach der Kastanie. Sie wusste, dass das, was sie ertasten würde, nicht mehr so glatt und glänzend war wie der Schatz, den ihre Großmutter damals aufgelesen hatte. Und deswegen schimmerte die Kastanie auch nicht mehr im Licht. Ganz schrumpelig war sie inzwischen, so, wie es auch die Haut ihrer Großmutter mit den Jahren geworden war. Viel schrumpeliger noch als zu jener Zeit, als sie gemeinsam die Kastanie gefunden hatten. Aber genau deshalb liebte Anne sie so. Sie hatte das Gefühl, dass sich die Königin der Herbstfrüchte ihrer Großmutter angepasst hatte, um die Erinnerung in Anne noch lebendiger zu halten.
»Anne?«, fragte Fritz in ihre Gedanken hinein. »Siehst du den Rauch?«
»Was?«, fragte sie und sah ihn wie erwachend an.
»Den Rauch«, wiederholte er geduldig.
Wieder sah sie hinaus. »Stimmt«, sagte sie. »Ist mir gar nicht aufgefallen. Ich habe nur die leuchtenden Blätter gesehen und an Großmutter gedacht. Weißt du noch, wie wir immer mit ihr durch den Herbstwald gegangen sind?«
»Natürlich«, erwiderte er, und ein zärtliches Lächeln überzog sein Gesicht. »Der Rauch kommt übrigens von der Zuckerwarenfabrik von Anton Leyen.«
»Ach so«, murmelte Anne abwesend. Was interessierte sie die Zuckerwarenfabrik? Als diese vor sechs Jahren gegründet worden war, hatte ihre Großmutter das zwar am Rande erwähnt, sich aber nicht weiter darüber ausgelassen. Und sie, Anne, hatte es auch nicht interessiert. Im Gegensatz zu Fritz. Schließlich war er Zuckerbäcker.
»Anton Leyen versteht offenbar etwas von seinem Geschäft«, begeisterte sich ihr Bruder weiter. »Angefangen hat er seinerzeit mit drei Arbeitern und einem Dragee-Kessel, jetzt hat er schon ein Dutzend Arbeiter, einen Dampfkessel und eine Dampfmaschine und liefert seine Bonbons nach ganz Westfalen. Auf der Rückseite seines Wohnhauses sind riesige Werkshallen entstanden.«
Anne zwang sich, ihrem Bruder etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Seit dem Tod ihrer Eltern hatten seine Augen nicht mehr so geleuchtet wie jetzt, wo er von den Erfolgen dieses Mannes sprach. Kein Wunder: Schließlich hatte er von jeher davon geträumt, einmal eine eigene Fabrikation oder eine Konditorei zu besitzen. Seine Ausbildung hatte er bei Stollwerck im heimischen Köln gemacht, dann hatte ihn sein Weg zu Oetker nach Bielefeld geführt - das ganz in der Nähe ihrer Großeltern gelegen war -, und schließlich war er durch die ganze Welt gereist, um von den Besten der Besten zu lernen. In Paris hatte er die Kunst der Herstellung von feinen Fondants erlernt und in England seine Kenntnisse verfeinert.
Aufmunternd lächelte sie ihm zu. »Dann lass uns diesem Anton Leyen doch mal einen Besuch abstatten. Vielleicht kann er ja Unterstützung gebrauchen.«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Fritz zweifelnd.
»Warum nicht?«, fragte Anne ermutigend.
In diesem Moment kam der Zug mit einem lauten Quietschen am Bahnhof von Werther zum Stehen, einem zweistöckigen Gebäude mit Erker und kleinem, niederem Anbau. WERTHER stand in großen schwarzen Lettern zwischen dem ersten und dem zweiten Stockwerk auf die Mauer geschrieben. Der etwas brummige Schaffner riss die Tür auf, um sie, seine einzigen Fahrgäste, aussteigen zu lassen. Fritz trat zuerst hinaus, dann reichte er Anne den Arm und griff nach den beiden großen Koffern. Einer von ihm, einer von ihr. Darin befand sich ihr ganzes Leben, oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war seit jenem schrecklichen Tag, und das nun im Haus ihrer Großeltern fortgesetzt werden würde.
Anne seufzte. Seit dem Tod des Großvaters vor fünf Jahren war nichts mehr gewesen wie zuvor. Ihre Großmutter hatte sehr um ihren Mann getrauert und dabei auch körperlich stark abgebaut. Als dann im Januar dieses Jahres Kaiser Wilhelm der Zweite seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte, hatte die sehr um ihre Großmutter besorgte Anne endlich einen Lichtblick gesehen. Gemeinsam mit ihren Eltern und der Oma waren sie nach Berlin gefahren, wo die Straßen um das Hohenzollern-Schloss sich in ein wahres Fahnenmeer verwandelt hatten. Als Maria Dunst sogar einen kurzen Blick auf den Kaiser hatte erhaschen können, war sie vollkommen im Glück gewesen. Für einen kurzen Moment hatte Anne gehofft, es gehe wieder aufwärts.
»Wenn mein Karl das noch erlebt hätte«, hatte Oma Maria ein ums andere Mal selig gerufen, und zu Annes Freude hatte dabei keinerlei Trauer oder Bitterkeit in ihrer Stimme gelegen. In diesen Tagen hatte Anne ihre Oma zum ersten Mal seit dem Tod ihres Opas wieder lächeln sehen.
Annes Mutter, die niemals zuvor in Berlin gewesen war, hatte sich bei dieser Reise derart in die Stadt an der Spree verliebt, dass sie ihren Gatten dazu überredet hatte, den Sommerurlaub dort zu verbringen. Obwohl der lieber ans Meer gereist wäre, hatte er etwas widerwillig zugestimmt, und so waren sie im Juli nach Berlin gefahren. Sie hatten in einer schmucken Pension Unterkunft gefunden und die Stadt jetzt, ohne den Aufruhr um den Kaiser, noch einmal ganz neu kennengelernt. Als sie das zwei Jahre zuvor eröffnete KaDeWe besucht hatten, waren Anne beinahe die Augen übergegangen. Ihr Vater allerdings hatte diesem Einkaufsbummel nur sehr wenig abgewinnen können, und um seine Laune etwas zu bessern, hatte sich seine Frau bereit erklärt, ihn am achtzehnten Juli zum Steherrennen im Botanischen Garten zu begleiten, das anlässlich der feierlichen Eröffnung der neuen Rennbahn stattfand, und darauf bestanden, dass Anne mitkam.
Und dann war das Unfassbare geschehen: Der schweizerische Berufsfahrer Fritz Ryser war bei rasender Geschwindigkeit ins Schlingern gekommen, sein Motorrad fuhr mitten auf die Haupttribüne, wo mit einem lauten Knall der Tank explodierte und für eine gewaltige Stichflamme sorgte. Genau da, wo Anne und ihre Eltern gesessen hatten.
Als Anne drei Tage später erwachte, fand sie sich in der Charité wieder. An ihrem Bett saß ein völlig verzweifelter Fritz, der soeben aus Paris zurückgekehrt war und ihr erklärte, die Eltern seien unter den Todesopfern des Unglücks. Die Großmutter habe aufgrund der Nachricht einen Herzanfall erlitten und liege ebenfalls im Krankenhaus. Sie gebe sich die Schuld am Tod ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter. »Wäre mir der Kaisergeburtstag nicht so wichtig gewesen, wäre die Margarethe doch nie auf die Idee gekommen, in Berlin Urlaub zu machen«, sollte sie noch gejammert haben, bevor sie zusammengebrochen war.
Anne hatte die Nachricht kaum glauben können, doch während sie sich schnell von ihren Verletzungen erholte, gab es für ihre Großmutter keine Genesung mehr. Mit jeder Woche war es ihr...
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