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Der Junge steht im Garten und blickt zum Himmel. Oben ist der blasse Mond. Sie haben ihm gesagt, dass dort ein Mann sei. Der Junge sieht nichts. Er würde sich gern die Fernsehübertragung anschauen, aber im Haus sind zu viele Leute. Der Vater hat ihn und den Bruder hinausgeschickt. Da oben habt ihr den Mond, also schaut, so viel ihr wollt. Selbst wenn sie die Erlaubnis hätten, würden sie es vor lauter Schuhen kaum schaffen, das Haus zu betreten. Das ganze Dorf hat sich an ihrer Haustür die Schuhe ausgezogen. Bis an sein Lebensende wird der Junge den Mond mit dem Gestank menschlicher Füße verbinden.
Der Vater ist stolz gewesen, weil er als Einziger einen Fernseher hat. Er hat die Gäste umarmt, während sie hereinkamen und sich die Schuhe auszogen, als wäre Apollo 11 bei ihm im Haus gelandet. Der Junge hat die Augen geschlossen und sich vorgestellt, dass ihm die Lippe nicht weh tut. Nachdem er sie wieder geöffnet hat, ist er zum alten Zwetschgenbaum gegangen und hat ihn geschüttelt. Ein großer stinkender Schuh ist ins Gras gefallen. Der Junge hat ihn genommen, ist widerwillig zur Haustür geschlurft und hat ihn auf den Schuhhaufen geworfen.
Ist er schon auf dem Mond angekommen?, hatte ihn der kleine Bruder vier Abende hintereinander gefragt.
Noch nicht. Schlaf, Kleiner.
Aber warum braucht er so lange?
Weil es weit ist.
Ich finde, das sieht nicht so weit aus.
Weil du doof bist. Schlaf jetzt.
Sag mir noch mal, wie sie heißen.
Du nervst wie Durchfall, hab's dir schon hundert Mal gesagt.
Ich hab's vergessen.
Der Junge blickte auf den nassen Fleck an der Decke, hörte den Grillen und dem sanften Wogen der Äste in der Nacht zu und ließ seine Zunge über die Wunde an der Lippe gleiten. Im Dunkel des Fensters blitzte von Zeit zu Zeit ein Licht auf. Sein kleiner Bruder wirkte immer schon unnatürlich klein in dem Bett, obwohl zwischen ihnen nur drei Jahre Unterschied waren. Vielleicht wegen der Länge des Betts oder dem Weiß der Laken, im Finstern, das Gesicht zur Wand gedreht, dass er so aussah, als passte er in eine Schublade. Das ließ ihn immer weich werden, dieser Anblick des Bruder-Hündchens, dessen Wuschelkopf gerade noch so unter der Decke hervorschaute. Vier Nächte hintereinander flüsterte er feierlich in die Dunkelheit, als würde er zu jemandem beten: Neil Armstrong, Michael Collins, Edwin Aldrin.
Der Zweite heißt genauso wie ich auf Amerikanisch, sagte der jüngere Bruder jeden Abend, ohne Ausnahme.
Stimmt. Komm, schlaf jetzt.
Und wer von ihnen ist der Wichtigste?
Neil Armstrong.
Dann ist Papa Neil Armstrong, ich bin Michael, und du bist dieser Dritte.
Gut, und jetzt schlaf.
Der Kleine drehte sich zum älteren Jungen um und flüsterte aufgeregt: Mach noch mal dieses Ding da, bitte!
Ich hab keine Lust. Ich will schlafen.
Komm schon, bitte, ich sag's auch niemandem!
Ach, du nervst .
Biiiitteee!
Wirst du dann schlafen?
Ja.
Schwörst du?
Ich schwöre auf alles.
Der Junge schloss sanft die Hand zur Faust, ließ darin etwas Platz und sagte zum Bruder, er solle darauf pusten. Der kleine Junge war so aufgeregt, dass er dabei auch gleich draufspuckte.
War's das? Ist es da?
Wart's ab, antwortete der ältere Bruder und schloss die Augen. Er atmete tief ein. Immer noch taten ihm die Rippen weh, aber er wusste, wie er den Schmerz mit dem Atem einfrieren konnte, so dass er zu pulsieren aufhörte.
Durch seine Finger drang ein schwaches Licht. Der Kleine gab sich Mühe, nicht zu blinzeln, er war sich sicher, den Trick diesmal zu durchschauen, wenn er nur aufmerksam genug hinschaute. Der Junge öffnete die Augen, dann die Faust. In ihr saß ein kleiner Leuchtkäfer. Ein Pünktchen Licht in der Finsternis des Zimmers.
Aber wie geeeht daaas?, rief der kleine Bruder, und der große wies ihn mit dem Finger an, nicht so laut zu sein. Er ging zum Fenster, öffnete es und ließ das Insekt hinaus. Der Mond war groß, erleuchtet wie ein Fernseher über dem ganzen Dorf, und die Leuchtkäfer schienen direkt aus ihm heraus in ihren Garten gefallen zu sein.
Früher hatte ihn der Mond nicht interessiert. Den Bildern im Schulbuch nach sah er aus wie ein verbeulter Stein. Viel interessanter fand er den Saturn mit seinen regelmäßigen Ringen, die ihn an die runde Klinge der Schneidemaschine beim Fleischer erinnerten. Doch am liebsten war ihm der Jupiter. Es verblüffte ihn, wie etwas so Riesiges mitten im Weltall stehen konnte und nicht herunterfiel. Die Lehrerin hatte erzählt, dass auf dem Jupiter seit über dreihundert Jahren ein roter Wirbelsturm wütet. Der Junge deckte ihn mit dem Daumen auf der Illustration im Schulbuch ab, für ihn sah er aus wie ein großer Bluterguss auf dem Gesicht des Planeten. Er wünschte, Armstrong würde statt auf dem Mond auf dem Jupiter landen, genau ins Gewitter hinein. Das wäre doch mal etwas.
Doch als sich der Tag der Landung näherte, war es ihm nicht gleichgültig. Alle in der Schule redeten nur noch darüber. Die Lehrerin wies jeden Tag darauf hin, dass der erste Mensch im Weltall ein sowjetischer Pilot war, der Genosse Gagarin. Sie sagte es stolz, so als wäre Juri ihr Schüler gewesen. Aber der Junge verstand nicht, wie jemand ins Weltall fliegen und später in irgendeinem russischen Dorf in einem ganz gewöhnlichen Flugzeug sterben konnte. Astronauten mussten unsterblich sein wie Götter, und Gagarin war tot und in einer Mauer bestattet. Das war für den Jungen eine Niederlage, fast eine Schande.
Er hoffte, dass Armstrong überleben würde. Wenn alles glattlief, würde der Mann heute auf dem Mond spazieren. Er würde ihn direkt anschauen und sicher sein, dass auch Neil zurückschauen würde, zu ihm auf die Erde. Doch in dem Schauen ist auch eine Angst, die Erwartung einer Tragödie. Was, wenn er eine Explosion sehen würde, eine große Rauchwolke und ein Satellitenstück, das auf die Erde fiel, hinunter, mitten hinein in seinen Garten? Das alles machte ihm Angst, weil er wusste, wie wichtig diese Sache seinem Vater war. Er hatte das ganze Dorf eingeladen, um die Übertragung anzuschauen. Wenn Armstrong, Collins und Aldrin zum Mond kamen und heil und lebendig wieder zurückkehrten, würde der Vater gut gelaunt sein. Er würde tagelang darüber reden. Er würde alles nacherzählen, was er im Fernsehen gesehen hatte, und Wörter verwenden, die er von Wissenschaftlern gehört hatte, Wörter, die nicht seine waren. Er würde Witze reißen, lachen und glücklich sein, weil irgendein menschliches Wesen, ein Mann wie er, auf der Oberfläche des Mondes spaziert war. Doch wenn etwas passierte, wenn die Mission scheiterte, würde der Vater das als persönliche Niederlage empfinden. Völlig umsonst hätte er die Leute ins Haus geladen, ihnen Essen und Getränke serviert und wäre allen wie ein Narr um den Hals gefallen. Er würde den ganzen Tag verärgert sein und dann, wenn die Leute gegangen wären, würde der Junge etwas Falsches sagen. Der Vater würde den Gürtel herausziehen, die Mutter würde den Kleinen ins Zimmer bringen, und die Nacht würde lange dauern.
Der Kleine sitzt auf der Decke, die Mama im Garten ausgebreitet hat. Er öffnet einen Stoffbeutel und schüttelt Murmeln heraus.
Wenn du welche verlierst, mach ich dich fertig, sagt der ältere Bruder zu ihm, während er in den Himmel schaut.
Sind sie da oben?
Aus dem Haus dringen Stimmengewirr, schallender Applaus und Gelächter, und so weiß der Junge, dass Apollo 11 gelandet ist. Zumindest im Fernsehen. Er sieht durch das Fenster, wie die Gäste einander umarmen.
Und Michael?
Michael bleibt im Raumschiff.
Nein!
Doch, jemand muss drinbleiben. Es können nicht alle drei rausgehen.
Dann soll doch deiner drinbleiben!, rief der Kleine den Tränen nahe.
Sei nicht blöd, das muss so sein. Michael hat eine sehr wichtige Aufgabe. Und bleib auf der Decke beim Spielen, ich brech dir die Knochen, wenn du die Murmeln verlierst.
Michael ist der Beste und Stärkste gleich nach dem von Papa!
Der ältere Bruder hört ihm nicht mehr zu. Er würde gern etwas sehen, irgendetwas. Der Mond sieht für ihn genauso doof aus wie immer. In der Schule hatten sie die Aufgabe bekommen, einen Mann auf dem Mond zu zeichnen. Er zeichnete einen großen Kreis mit ein paar Kratern und darin ein Pünktchen, das einen Mann darstellte. Die Sitznachbarin zeichnete die dümmste Zeichnung, die er im Leben gesehen hatte: Der Mond hatte eine Mütze auf, lachte und hielt einen Mann an der Hand, der größer war als er selbst.
Das hast du nicht gut gezeichnet, sagte er zu ihr. Das Mädchen presste die Lippen aufeinander, schloss fest die Augen und zischte: Deine Zeichnung ist hässlich, du hast nicht mal einen Mann gezeichnet.
Doch, hab ich, der Mann ist das Pünktchen, man sieht ihn nur nicht, weil er zu klein ist im Verhältnis zum Mond. Deine Zeichnung ist voll fürn Arsch.
Das Mädchen weitete die Augen und öffnete den Mund. Sie starrte auf seine Lippen, als versuchte sie herauszufinden, wo dieses fürchterliche Wort herausgefallen war. Dann schaute sie ihre Zeichnung an und fing an zu weinen. Dicke Tränen fielen auf den lachenden Mond und verunstalteten sein Gesicht. Mit dem Pinsel versuchte sie, ihre gelben Tränen einzusammeln, sie innerhalb der Linie zu halten, aber alles war umsonst.
Warum weinst du?, fragte er sie, doch die Lehrerin hatte sie schon bemerkt und kam auf sie zu. Das Mädchen flüsterte ihr etwas ins Ohr, und nach dem Gesichtsausdruck der Frau erriet der Junge schon, was es war.
An diesem Tag ohrfeigte...
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