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von vorne anfangen. Du hast jemanden, und dann hast du ihn nicht mehr. Und das ist ungefähr die ganze Geschichte. Nur dass du gesagt hättest, dass man eine andere Person nicht haben kann. Oder sollte ich sie sagen? Vielleicht ist es so besser, das würde dir gefallen. Eine sie zu sein in einem Buch. Gut.
Sie hätte gesagt, dass man jemanden nicht haben kann. Aber sie hätte unrecht. Man kann Menschen für erbärmlich wenig besitzen. Nur dass sie sich selbst gern als unabdingbare Norm für das Funktionieren des gesamten Kosmos betrachtete. Und die Wahrheit ist, dass man jemanden haben kann, nur nicht sie. Man kann Lejla nicht haben. Außer man schneidet sie aus, rahmt sie schön ein und hängt sie an die Wand. Obwohl, sind das überhaupt immer noch wir, wenn wir für ein Foto zum Stillstand kommen? Eines weiß ich sicher: Stillhalten und Lejla haben nie zueinander gepasst. Deshalb ist sie auf jedem einzelnen Foto verschwommen. Sie konnte nie stillhalten.
Selbst jetzt, innerhalb dieses Textes, spüre ich, wie sie herumzappelt. Wenn sie könnte, würde sie sich mir zwischen zwei Sätzen entziehen wie eine Motte zwischen den Lamellen einer Jalousie und meine Geschichte von innen zu Ende erzählen. Sie würde sich selbst glitzernde Fetzen anziehen, wie sie ihr schon immer gefallen haben, sich die Beine verlängern, die Brüste vergrößern, sich noch ein paar Wellen ins Haar machen. Und mich würde sie entstellen, mir nur eine Haarsträhne über meinen viereckigen Kopf hängen lassen, mir einen Sprachfehler geben, ein hinkendes linkes Bein, sich eine angeborene Missbildung ausdenken, so dass mir der Stift für immer aus der Hand fiele. Vielleicht würde sie noch einen Schritt weitergehen, auch zu so einer Gemeinheit wäre sie fähig - vielleicht würde sie mich überhaupt gar nicht erwähnen. Sie würde aus mir eine unvollständige Skizze machen. Das würdest du machen, oder nicht? Verzeihung, sie. Das würde sie machen, wenn sie hier wäre. Aber ich bin die, die diese Geschichte erzählt. Ich kann aus ihr machen, was immer ich will. Sie kann mir nichts tun. Sie sind drei Anschläge auf der Tastatur. Ich könnte meinen Laptop noch heute Abend in die stumme Donau werfen, dann würde auch sie verschwinden, die brüchigen Pixel würden aus ihr herausrinnen ins eisige Wasser, und alles, was sie jemals war, würde sich ins ferne Schwarze Meer entleeren. Zuvor würde sie an Bosnien vorbeirauschen wie eine Gräfin an einem Bettler auf dem Weg in die Oper. Ich könnte sie fertigmachen mit diesem Satz, so dass es sie nicht mehr gibt, so dass sie verschwindet, sich in ein blasses Gesicht auf dem Maturafoto verwandelt, vergessen in der legendären Geschichte der Mittelschulzeit, so dass man sie nur noch in dem kleinen Haufen Erde vermutet, den wir dort hinter ihrem Haus neben dem Kirschbaum hinterlassen haben. Ich könnte sie mit einem Punkt töten.
Ich entscheide mich dafür weiterzumachen, einfach weil ich es kann. Hier bin ich zumindest sicher, fern von ihrer subtilen Gewalt. Nach einem ganzen Jahrzehnt kehre ich zu meiner Sprache zurück, ihrer Sprache und allen anderen Sprachen, die ich freiwillig zurückgelassen habe, so wie man einen gewalttätigen Mann zurücklassen würde, eines Nachmittags in Dublin. Nach so vielen Jahren bin ich nicht sicher, welche Sprache das genau ist. Und das alles, weswegen? Wegen einer ziemlich gewöhnlichen Lejla Begic, in abgetragenen Turnschuhen mit Klettverschluss und Jeans mit, auch das noch, Steinchen am Hintern. Was ist überhaupt zwischen uns passiert? Ist das denn wichtig? Gute Geschichten erzählen ohnehin nicht davon, was passiert. Sie hinterlassen nur Bilder, wie Zeichnungen auf dem Gehsteig, auf die die Jahre fallen wie der Regen. Vielleicht sollte ich ein Bilderbuch aus uns machen. Etwas, das niemand außer uns beiden begreift. Aber auch Bilderbücher müssen irgendwo beginnen. Und unser Anfang ist nicht einfach ein stiller Diener der Chronologie. Unser Anfang ging ein paarmal an mir vorüber, er zog mich am Arm wie ein hungriges Hündchen. Komm schon. Komm, fangen wir noch mal an. Wir haben unaufhörlich begonnen und geendet, wie ein Virus schlich sie sich in die Membran meines Alltags hinein. Lejla tritt auf, Lejla geht ab. Ich kann irgendwo beginnen. Zum Beispiel im St. Stephen's Green Park in Dublin. Das Handy vibriert in meiner Manteltasche. Unbekannte Nummer. Dann drücke ich diese verfluchte Taste und sage Ja? in einer Sprache, die nicht meine ist.
»Hallo, du.«
Nach zwölf Jahren absoluter Stille höre ich wieder ihre Stimme. Sie spricht schnell, als wären wir erst gestern auseinandergegangen, ohne irgendeine Notwendigkeit, die Lücken zu überbrücken, im Wissen, in der Freundschaft, in der Chronologie. Ich kann nur ein einziges Wort sagen: »Lejla.« Wie immer kann sie nicht aufhören zu reden. Sie erwähnt ein Restaurant, eine Arbeit in dem Restaurant, einen Typen, dessen Namen ich zum ersten Mal höre. Sie erwähnt Wien. Und ich, weiterhin, nur: »Lejla.« Ihr Name war dem Aussehen nach harmlos - ein winziger Stängel inmitten von totem Land. Ich riss ihn aus meinen Lungen heraus, als wäre es nichts. Lej-la. Aber mit diesem kurzen Zweig tauchte aus dem Sumpf die längste und dickste Wurzel auf, ein ganzer Wald an Buchstaben, Wörtern und Sätzen. Eine ganze Sprache, tief in mir begraben, die geduldig auf dieses kleine Wort gewartet hatte, um ihre verknöcherten Extremitäten auszustrecken und aufzustehen, so als hätte sie nie geschlafen. Lejla.
»Woher hast du diese Nummer?«, frage ich sie. Ich stehe inmitten des Parks, bin genau vor einer Eiche stehen geblieben und rühre mich nicht, als würde ich vom Baum erwarten, zur Seite zu treten und mich vorbeizulassen.
»Was spielt das für eine Rolle?«, antwortet sie und setzt ihren Monolog fort: »Hör zu, du musst mich abholen kommen . Hörst du mich? Die Verbindung ist schlecht.«
»Dich abholen? Ich verstehe nicht. Was .«
»Ja, mich abholen. Ich bin immer noch in Mostar.«
Immer noch. In all den Jahren unserer Freundschaft hatte sie nicht ein einziges Mal Mostar erwähnt, noch waren wir jemals dorthin gereist, und jetzt auf einmal sollte es eine unbestrittene, allgemein bekannte Tatsache sein.
»In Mostar? Was machst du in Mostar?«, frage ich sie. Ich starre weiter auf den Baum und zähle im Kopf die Jahre. Achtundvierzig Jahreszeiten ohne ihre Stimme. Ich weiß, dass ich irgendwohin gehen wollte, mein Weg hatte mit Michael zu tun und Vorhängen und der Apotheke . Aber Lejla hat Schnitt gesagt, und alles ist stehen geblieben. Die Bäume, die Straßenbahn, die Leute. Wie müde Schauspieler.
»Hör zu, das ist eine lange Geschichte, Mostar . Du fährst doch noch Auto, oder?«
»Das tue ich, aber ich verstehe nicht, was . Weißt du, dass ich in Dublin bin?«
Die Worte fallen mir aus dem Mund und bleiben an meinem Mantel kleben wie ein Haufen Kletten. Wann habe ich zum letzten Mal diese Sprache gesprochen?
»Ja, du bist sehr wichtig«, sagt Lejla, schon bereit, alles zu entwerten, was ich während ihrer Abwesenheit erlebt haben konnte. »Du lebst auf einer Insel«, sagt sie, »und wahrscheinlich liest du den ganzen Tag dieses langweilige dicke Buch und gehst mit deinen klugen Freunden zum Brunch, oder? Toll. Und jetzt hör zu . Du musst mich so bald wie möglich abholen. Ich muss nach Wien, und diese Affen hier haben mir den Führerschein abgenommen, und keiner versteht, dass ich .«
»Lejla«, versuche ich, sie zu unterbrechen. Auch nach all diesen Jahren ist mir völlig klar, was passiert. Das ist genau ihre Logik, nach der die Schwerkraft schuld ist, wenn dich jemand die Treppe runterwirft, nach der Bäume gepflanzt werden, damit sie hinter sie hinpinkeln kann, und alle Wege, so gewunden und fern sie auch seien, einen einzigen gemeinsamen Punkt haben, den gleichen Knoten - sie. Rom ist ein Witz dagegen.
»Hör mir zu, ich hab nicht viel Zeit. Ich hab wirklich niemand anderen, den ich fragen könnte, alle reden was von wegen, sie sind beschäftigt, die Wahrheit ist, ich hab nicht wirklich viele Freunde hier, und Dino kann nicht fahren wegen seinem Knie .«
»Wer ist Dino?«
». also hab ich gedacht, wenn du noch dieses Wochenende nach Zagreb fliegst und dich in den Bus setzt . wobei Dubrovnik noch besser wäre.«
»Lejla, ich bin in Dublin. Ich kann nicht einfach nach Mostar kommen und dich nach Wien fahren. Geht's dir noch gut?«
Sie schweigt eine Weile, die Luft fährt durch ihre Nasenlöcher und ins Telefon. Sie klingt wie eine geduldige Mutter, die mit aller Gewalt dagegen ankämpft, ihrem Kind eine Ohrfeige zu geben. Nachdem sie einige Augenblicke lang nur schwer geatmet hat, während ich auf die trotzige Eiche starre, sagt sie zwei Wörter: »Du musst.«
Es liegt darin nichts Drohendes. Es klingt eher, wie wenn einem der Arzt sagt, dass man mit dem Rauchen aufhören muss. Und es ärgert mich weder dieses »Du musst« noch die Art, wie sie mich nach zwölf Jahren ohne jegliches »Wie geht's dir?« angerufen hat, noch dass sie sich über mein ganzes Leben lustig macht, das ich mir für diese Zeit ausgedacht hatte. Das ist, übrigens, klassisch Lejla. Aber die Tatsache, dass sich irgendwo in ihrer rauen Stimme die absolute Überzeugung versteckt, dass ich zusagen werde, dass ich keine andere Wahl habe, dass mein Schicksal schon entschieden war, noch bevor ich mich an diesem verfluchten Telefon gemeldet habe - das erniedrigt mich.
Ich lege auf und stecke das Handy in die Tasche. Sogar Götter, so primitiv...
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