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Würzburg, 16. März 1945
Hoffnung! Ich legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel hinauf. Er war von einem beinahe unverschämten Blau. Hungrig streckten sich die Zweige der Magnolie, unter der ich stand, der Sonne entgegen, als wollten sie jeden noch so kleinen Strahl auffangen und ihn in den Stamm, die Wurzeln des Baumes leiten, um ihn zu stärken, ihm Kraft und Vitalität zu verleihen. Am Ende der Zweige konnte ich schon die zartrosa Knospen erkennen, Knospen, die im Sonnenlicht immer dicker werden würden. Bald würden sie sich öffnen und uns ihre wunderbare entfaltete Schönheit offenbaren. Sie würden uns trösten, diese Blüten, so, wie sie uns schon all die vergangenen Jahre getröstet hatten, wenn wir hungerten, trauerten oder einfach nur verzweifelt waren.
Wieder blinzelte ich hinauf.
Eine der Knospen über meinem Kopf war praller als die anderen. Sie war im Begriff, sich zu öffnen. Lange würde sie nicht mehr brauchen, und lange, da war ich sicher, würde auch der Krieg nicht mehr dauern. Es war der 16. März 1945, und ich war schon lang nicht mehr so voller Hoffnung und Zuversicht gewesen wie heute, als ich im Kaisergärtchen zwischen all den wundervollen Magnolienbäumen stand, vor mir das Buchner'sche Palais. Zwar schrieb die Mainfränkische Zeitung - und auch die ausländischen Sender berichteten davon -, dass unsere Stadt zerstört werden würde, und die Angst davor hatte mich in den letzten Tagen immer wieder bang gen Himmel blicken lassen, aber bisher hatte es nur wenige mittelschwere Angriffe gegeben, und Schlimmeres, dessen war ich mir mit einem Mal sehr sicher, würde nicht passieren. Warum sollte man Würzburg auch zerstören? Wir hatten viele Krankenhäuser, keine bedeutende Rüstungsindustrie, hier gab es wertvolle Kulturgüter, uns würde nichts geschehen. Und hatte es nicht seit einigen Tagen keinen Alarm mehr gegeben?
Der Himmel war auf unserer Seite, der Himmel, der uns heute diesen wunderbaren Frühlingstag schenkte. Der Himmel wollte mir Mut machen.
Die Sonne streichelte mein Gesicht, zärtlich.
Ich atmete tief ein.
Breitete die Arme aus und ließ es zu, dass mich dieses wunderbare Gefühl der Zuversicht und der Freiheit durchflutete bis in die Fingerspitzen.
Ich war 20 Jahre alt, der Krieg fast vorbei, und die Magnolie würde bald ihre Knospen öffnen. Was wollte ich mehr.
Mit einem Lächeln auf den Lippen trat ich den Heimweg an. Am Marktplatz blickte ich zur Marienkapelle hinauf. Von dort oben strahlte die goldene Madonna über die Stadt. Sie hatte uns beschützt, all die schwierigen Jahre über. Gemeinsam mit den vielen Madonnen, die überall an den Häusern angebracht waren, um Unheil von ihren Bewohnern abzuwenden. Nicht umsonst war Würzburg als »Stadt der 1.000 Madonnen« bekannt.
In den Ringparkanlagen traf ich auf lauter Menschen, die ebenso leicht und unbeschwert wirkten wie ich. Der kalte Winter, der wie eine eisige Hand über der Stadt gelegen und niemanden aus seinen Klauen gelassen hatte, hatte der Macht des Frühlings weichen müssen! Der Frühling war stärker als der Winter. So wie die Hoffnung stärker war als die Angst.
Der Weg hinauf ins Frauenland war lang, aber ich genoss ihn aus vollen Zügen. Die Mauern der Residenz leuchteten in der Sonne und kündeten vom Stolz unserer Stadt - vor allem aber gaben sie mir ein Gefühl von Heimat und verstärkten meine Zuversicht. Wie oft hatte ich schon vor diesem prachtvollen, von Balthasar Neumann errichteten Gebäude gestanden, voller Dankbarkeit und Demut. Die Residenz, die Festung und das Käppele - die kleine Wallfahrtskirche hoch oben auf dem Nikolausberg - waren drei Konstante in meinem Leben, die mir Halt gaben. Bauwerke, an denen sich mein Blick oft festsaugte, verliebt in diese Stadt und stolz, zu ihr zu gehören.
Zu Hause angekommen, fand ich Mutti genauso zuversichtlich vor, wie ich mich fühlte. »Lass uns heute essen gehen!«, rief sie mir schon in der Tür entgegen.
»Essen gehen?« Sprachlos sah ich sie an. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann wir das letzte Mal essen gegangen waren. Und wann war Mutti jemals so fröhlich gewesen? Ich kannte sie nur noch als etwas schwächliche, ständig von den Sorgen gedrückte Frau. Doch heute war sie anders. Ganz anders.
»Es ist so ein schöner Tag, da können wir ruhig mal ein paar Abschnitte unserer Lebensmittelkarten opfern«, fand Mutti. »Ich schlage vor, wir gehen in die kleine Postsportgaststätte auf der Höhe Richtung Flugplatz und genießen das Leben.« Sie schenkte mir ein Lächeln, das ihre Augen zum Strahlen brachte. Lauter kleine Hoffnungsdiamanten, die in der Sonne funkelten. Fasziniert erwiderte ich ihren Blick. Derartiges hatte ich noch nie in ihren Augen gesehen.
Tatendurstig und voller Vorfreude auf einen schönen Abend machten wir uns auf den Weg. Die Vögel jubilierten, die warme Sonne schien auf unsere Haut. Die Bedienung in der Sportgaststätte begrüßte uns mit einem strahlenden Lächeln. Ihr schien es heute ebenso zu gehen wie uns. Wir gaben die Bestellung auf und nickten uns erwartungsvoll zu. Das Leben war schön. Und das mitten im Krieg.
»Du wirst sehen, Luise«, sagte Mutti, als die Bedienung uns die Getränke gebracht hatte, »wir haben das Schlimmste hinter uns. Alles wird gut werd.«
Sie hatte ihren Satz noch nicht beendet, als ein Geräusch alle Leichtigkeit zerschnitt und alle Hoffnung, die uns heute im Laufe des Tages beflügelt hatte, als tödliche Illusion entlarvte. Voralarm.
Ich sah Mutti an und fand in ihren Augen keine funkelnden Hoffnungskristalle mehr, sondern nur noch die nackte, kalte Angst, die meine eigenen Empfindungen widerspiegelte.
»Lass uns gehen«, sagte sie nur.
Enttäuscht blickte ich auf das Abendessen, das die sehr junge und inzwischen ebenfalls ausgesprochen ängstlich wirkende Bedienung gerade im Begriff gewesen war zu servieren.
»Sie haben nicht mehr viel Zeit«, hauchte sie, und auf die vorhin so rosigen Wangen hatte sich Totenblässe gelegt.
Ich schluckte. Ich kannte das Gefühl schon, das sich nun wieder seinen Weg durch meine Eingeweide bahnte und von dem ich doch gehofft hatte, es nie wieder fühlen zu müssen.
Es war das Gefühl entsetzlicher Angst.
Am liebsten wäre ich sofort in den Keller gerannt und hätte mich schutzsuchend im letzten Winkel verkrochen. Doch in fünfeinhalb Jahren Krieg hatte ich auch gelernt, was Hunger war und wie schrecklich er sein konnte. Unsere Lebensmittelkarten hatten wir für dieses Essen schon hergegeben. Wir konnten jetzt nicht einfach gehen.
»Mutti«, bat ich, »lass uns noch ganz schnell essen. Wir können es uns nicht leisten, Lebensmittelkarten umsonst zu opfern.«
Doch Mutti schüttelte den Kopf. »Wir müssen hier weg«, beschied sie mich, »sofort.«
Ich warf noch einen bedauernden Blick auf mein Abendessen und folgte Mutti dann nach draußen. Als wir die kleine Anhöhe an der Rottendorfer Straße hinunterhasteten, breitete sich vor mir der Himmel aus, in den ich heute Morgen noch so voller Hoffnung und Zuversicht geblickt hatte. Und da entdeckte ich etwas, das ich nie zuvor im Leben gesehen hatte! Rote Leuchtkugeln hingen wie kleine Lampions über dem Stadtgebiet!
Es sah wunderschön und seltsam surreal aus. Und in all seiner Schönheit bedeutete es allerhöchste, tödliche Gefahr.
Mutti und ich wechselten einen entsetzten Blick. »Christbäume! Das ist die Markierung zum Angriff auf Würzburg«, flüsterte ich.
Sie nickte nur, brachte kein Wort heraus.
Im nächsten Moment erfüllte ein ohrenbetäubender Lärm die Luft, die Sirene heulte auf Vollalarm.
»Geh du schon mal in den Keller«, rief ich Mutti zu. »Ich renne rasch nach Hause, um unsere zwei Koffer zu holen.«
»Nein«, erwiderte sie, mich panisch umklammernd. »Komm gleich mit. Die Koffer sind doch jetzt egal.«
»Sind sie nicht«, widersprach ich. »Ich habe noch Zeit, ich beeile mich.«
Mutti zögerte.
»Je länger wir diskutieren, desto gefährlicher wird es«, insistierte ich.
Panisch sah sie mich an, nickte schließlich, und ich eilte mit glühenden Sohlen davon.
Kurz darauf war ich auch schon zurück im Felsenkeller des Letzen Hieb.
Kaum hatte ich den Keller betreten, hing Mutti schon an meinem Hals, fassungslos vor Angst, zitternd.
»Sie haben gesagt, mit Angriff auf unsere Stadt ist zu rechnen«, teilte sie mir mit.
Das wunderte mich nicht. Umsonst würden sie den Himmel über unserer Stadt wohl nicht mit Christbäumen schmücken.
Der Keller war voller Menschen, vielleicht 200 an der Zahl. Die Angst lag wie eine dunkle, feuchte, kalte Wolke über uns. Die leichte Hoffnung des Vorfrühlingstages war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Über uns summten und dröhnten deutlich hörbar die Bomberverbände, dann ging es Schlag auf Schlag, dumpfe schwere Einschläge - wumm, wumm, wumm, wumm, wumm.
Der Keller erzitterte unter den Detonationen, die Erde bebte, die Fenster zerbarsten. Mutti saß mit großen Augen wie versteinert da, sie wirkte vollkommen abwesend, als hätte sie sich kraft ihrer Gedanken in eine friedlichere, freiere und schönere Welt davongeschlichen.
Ich schloss die Augen, ebenfalls in dem Versuch, der grausamen Realität zu entfliehen. Blauer Himmel. Ein Magnolienzweig. Eine Blüte, die sich öffnet. Doch dann: eine schwarze Kugel, die aus dem Himmel fiel und die Blüte traf. Sie zerstob in tausend kleine Teilchen.
Erschrocken riss ich...
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