Schweitzer Fachinformationen
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New York, USA, September 1887
Die Rastlosigkeit dieser Stadt passte zu ihr. Dieses ewige Getrommel der Pferdehufe, die auf das Pflaster klackten, das Geratter der Räder von Kutschen, Omnibussen und Karren, das Gequietsche der Hochbahn - all das entsprach ihrem Wesen, ihrem Drang, niemals zu ruhen, immer Neues zu entdecken. Es war ihre Rastlosigkeit, die sie von Pittsburgh nach New York getrieben hatte. Ihre Rastlosigkeit - und der Wunsch, hier einen ihrer vier Träume zu erfüllen: für eine New Yorker Zeitung zu schreiben. Für die anderen drei Träume - sich zu verlieben, einen Millionär zu heiraten und die Welt zu verbessern - war noch Zeit. Schließlich war sie, Elizabeth Cochrane, genannt Nellie Bly, erst 23 Jahre alt. Und sie platzte fast vor Energie, manchmal schien es ihr, als habe sie mehr davon, als in ihren relativ kleinen und zierlichen Körper hineinpasste und als stünde sie, wie auch diese Stadt, über der ein riesiges Netz von Stromleitungen verlief, im wahrsten Sinne des Wortes ständig unter Spannung. Heute rührte ihre Spannung aber noch von einem anderen Grund her, und der war nicht, wie sonst, erfreulich, sondern im Gegenteil äußerst unangenehm: Ihre Geldbörse mitsamt all ihrem Ersparten war ihr gestohlen worden. Sie hatte nichts mehr, gar nichts, und deshalb blieben ihr nur zwei Möglichkeiten: Entweder nach Pittsburgh zurückkehren und sich und allen anderen eingestehen, dass sie in New York gescheitert war, oder sich eine Stelle besorgen, und zwar sofort. Zwar hatte sie das schon seit ihrer Ankunft im Frühjahr vergeblich versucht, aber andererseits war Aufgeben noch nie eine Option gewesen. Und Nellie wusste trotz ihrer jungen Jahre: Richtig und zielstrebig eingesetzte Energie machte alles möglich! Kurz entschlossen hatte sie sich von ihrer Vermieterin ein paar Cent geliehen und war in die Dampfbahn gestiegen, um die halbstündige Fahrt in Richtung Zeitungsviertel im Süden Manhattans anzutreten.
Ihr kleines, möbliertes Zimmer lag in der West 96th Street und damit so weit außerhalb von Downtown, dass der Weg, der zu ihrem Haus führte, nicht einmal mehr gepflastert war, sondern nur aus festgetretenem Schlamm bestand. Mehr konnte sie sich nicht leisten, und in dem Viertel gab es sogar noch frei laufende Ziegen. Doch nun war sie in der Park Row mit ihren Türmen und ihren hohen, imposanten Gebäuden aus Sandstein, Marmor und Granit angekommen. Sie hatte das Gefühl, dass ein Herausgeber den anderen mit der Größe und Pracht seines Gebäudes übertrumpfen wollte. Und dann stand sie vor dem Zeitungshaus der New York World, das mit seinen 17 Stockwerken einfach nur unglaublich beeindruckend war. Es war brandneu, erst vor einigen Jahren hatte Joseph Pulitzers kleiner Sohn den Grundstein legen dürfen. Bevor sie hineinging, blieb Nellie für einen Moment stehen und bestaunte das imposante Bauwerk. Es war aus Ziegel und Sandstein errichtet, was der Fassade einen interessanten Kontrast verlieh. Die Kuppel aus vergoldetem Kupfer hatte sie schon aus einiger Entfernung ausmachen können, und ihr Herz hatte bei diesem Anblick ein wenig schneller geschlagen. Wie es wohl sein musste, für eine Zeitung zu schreiben, deren goldene Kuppel alles überstrahlte und selbst an grauen Tagen schimmerte?
Sie war schon einmal hier gewesen, vor einigen Wochen, kurz nachdem sie in New York eingetroffen war und enttäuscht hatte feststellen müssen, dass es gar nicht so einfach war, bei einer New Yorker Zeitung auch nur vorgelassen zu werden! Doch Nellie hatte nicht aufgegeben: Da sie noch dann und wann für den Pittsburgh Dispatch schrieb, bat sie New Yorks Chefredakteure als Korrespondentin um ein Interview zum Thema »Weiblichkeit im New Yorker Journalismus«. Und auf einmal standen ihr alle Türen offen. Sie sprach mit Charles Dana von der Sun, dem Herausgeber des Herald, Reverend Dr. Hepworth und Charles Ransom Miller von der New York Times. Die Männer waren entweder der Ansicht, Frauen seien zwar sicher durchaus gute Journalistinnen, hätten aber keine Ausbildung. Oder aber sie meinten, man könne den Damen nicht zumuten, sie im Notfall nachts aus dem Bett zu klingeln, geschweige denn ihnen Berichterstattungen über Skandale anzuvertrauen. Schließlich gelte es ja immer noch, die Regeln der Höflichkeit zu beachten. Auch mit dem Chef der World, John Cockerill, hatte sie gesprochen, der ihr erklärt hatte, dass Frauen, wenn überhaupt, im Bereich Mode und Gesellschaft arbeiten sollten, diese Sparten waren jedoch nicht so gefragt. Allerdings seien bei der World durchaus zwei Frauen tätig, woran Nellie erkennen könne, dass man nichts gegen Journalistinnen habe. Nellie hatte zumindest das Gespräch mit Cockerill einigermaßen ermutigend gefunden - Aufträge hatte er jedoch nicht für sie gehabt. Und schon gar nicht hatte er sie einstellen wollen. Doch nun hatte sie keine Wahl mehr. Sie musste ihn einfach überzeugen. Und das würde ihr auch gelingen.
Mit dem Aufzug - fast alle Gebäude im hoch technisierten New York besaßen einen - fuhr sie nach oben und fand sich in dem riesigen Raum wieder, in dem sie schon einmal gewesen war und der mit seiner hektischen Betriebsamkeit auch heute wieder eine unbeschreibliche Faszination auf sie ausübte. Es war unfassbar laut, die Redakteure riefen sich Nachrichten zu und eilten mit gerunzelter Stirn und wichtig aussehenden Papieren durch die Gänge zwischen den unzähligen Schreibtischen, an denen weitere Männer saßen. Sie alle waren im Begriff, kluge Artikel zu verfassen, die am nächsten Tag ganz New York lesen sollte. Über alldem lag ein blauer Schleier aus Rauch, da fast jeder der Redakteure nicht nur einen Stift in der Hand hielt, sondern auch eine Zigarette oder eine Zigarre im Mundwinkel hängen hatte. Weil es an diesem Septembertag so heiß war, hatten viele ihre Jacketts ausgezogen und achtlos über die Stuhllehnen geworfen. Von den Frauen, die Cockerill erwähnt hatte, war nichts zu sehen, was Nellie ärgerte.
Niemand schenkte ihr Beachtung, doch von ihrem letzten Besuch wusste sie noch, wo sich das Büro des Chefredakteurs befand, und so steuerte sie entschlossenen Schrittes darauf zu. Bevor sie klopfte, berührte sie noch einmal den kleinen goldenen Ring, den sie am Daumen trug. Er war ihr Glücksbringer, seit ihr Vater ihn sich kurz vor seinem Tod vom Finger gezogen - bei ihm war es der kleine gewesen - und ihr gesagt hatte: »Trag ihn, Nellie. So bin ich immer bei dir. Und werde dich immer beschützen, wohin du auch gehst.«
Die Tür, die vom Vorzimmer Cockerills zu seinem Büro führte, wurde von einem hochnäsigen jungen Mann verteidigt, der ihr mit eisiger Miene mitteilte: »Der Chefredakteur darf nicht gestört werden!«
»Bitte«, flehte Nellie, »es ist wichtig.«
Der Hochnäsige musterte sie über den Rand seiner goldgeränderten Brille hinweg, und sein gepflegter Schnauzer - Nellie hatte beobachtet, dass die jüngeren Herren in New York Schnauzer und die älteren Bart trugen - zuckte empört, als er sagte: »Wenn Sie wüssten, wie oft ich am Tag diese Worte zu hören bekomme.«
Nellie dachte, dass der Mann doch eigentlich froh sein musste, wenn die Menschen mit wichtigen Dingen zu ihm kamen, schließlich lebte die Zeitung von Nachrichten. Verzweifelt sah sie auf die Tür, hinter der ihre Zukunft lag, liegen musste.
»Ich warte. Irgendwann muss er ja rauskommen«, teilte sie dem Sekretär mit, der sich inzwischen demonstrativ und mit wichtiger Miene dem Stapel Papiere, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, zugewandt hatte. Als Nellie tatsächlich auf der schmalen Besucherbank Platz nahm, die, wie sie dachte, wohl mit voller Absicht unbequem gehalten war, erbebten die Schnurrbartspitzen des jungen Mannes vor Empörung erneut ob dieser Frechheit. Doch Nellie sah ihn mit ihren eisgrauen Augen - man sagte, sie habe einen stechenden Blick, wenn sie wollte - nur ruhig an.
Der Schnurrbärtige wurde rot, und während er zurückstarrte, bemerkte Nellie, dass die Brillengläser seine Augen unnatürlich vergrößerten. »Wie Sie meinen«, schnappte er dann und strafte sie fortan mit eisiger Verachtung.
Während Nellie immer wieder ungeduldig den kleinen goldenen Ring an ihrem linken Daumen drehte, wurden im Stockwerk unter ihr Manuskriptseiten der New York World von Hunderten Schriftsetzern in Spalten aus Blei übertragen. Seite um Seite wurde gedruckt, verpackt und zur Abholung auf einer Laderampe bereitgestellt.
Die Minuten verflogen, und Nellie beobachtete durch das Fenster, wie immer wieder Boten mit wichtig aussehenden Schriftstücken an ihr vorbeieilten, darin vermutlich Depeschen von den Korrespondenten aus aller Welt für die Zeitung. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen, doch heute musste sie beweisen, dass sie auch dazu fähig war. Als aus den Minuten Stunden wurden, hielt Nellie es jedoch nicht länger aus.
»Verzeihen Sie bitte«, wandte sie sich erneut an den Sekretär, »entweder Sie lassen mich nun zu Mr. Cockerill durch, oder ich bin gezwungen, meine Story einer anderen Zeitung anzubieten.«
»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«, empörte sich der junge Mann und bekam rote Flecken auf dem Gesicht.
»Ich bin Nellie Bly«, erwiderte sie ruhig, während sie sich erhob. »Und ich werde nun zur Times gehen, um mit Mr. Miller zu sprechen.« Ohne den jungen Mann noch mal eines Blickes zu würdigen, wandte sie ihm den Rücken zu und marschierte in Richtung der Aufzugstüren.
»Warten Sie!«, rief der Sekretär ihr nach und erhob sich rasch hinter seinem Schreibtisch. Sein Widerstand war offenbar gebrochen. »Bitte...
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