Schweitzer Fachinformationen
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»Natürlich gibt es wichtige Anrufe, Adam. Wenn Sie in jeder Sitzung angerufen werden und es nicht für nötig halten, Ihr Smartphone auf lautlos zu stellen, nein, Adam, so etwas kann man ein Mal vergessen, vielleicht ein zweites Mal, aber niemals . Wie dem auch sei, wenn Sie mit solch einer Gleichgültigkeit, ich muss sagen, Respektlosigkeit auftreten, Adam, also wenn Sie hier so auftreten, dann komme ich in Versuchung, Ihre Haltung zu spiegeln, und ich kann Ihnen garantieren, dass wir so keinesfalls in eine wertschätzende Interaktion treten können, um noch einmal die Frage aufzuwerfen, ob nicht ein Ortswechsel für Sie .«
»Vergessen.«
»Wie bitte?«
»Ich habe vergessen, mein Handy lautlos zu stellen. Tatsächlich schon wieder. Zum vierten Mal in Folge, ich weiß. Es muss absurd für Sie klingen und es tut mir leid, Angela .«
Angela Bertermann, die mit übereinandergeschlagenen Beinen dasitzt, umgreift mit den Händen ein Knie und kippt etwas nach vorn auf Götzki zu. Sie kündigt damit an, dass sie ihm jetzt etwas besonders eindringlich mitteilen möchte, dass das, was sie gesagt hat und in wenigen Sekunden wiederholen wird, wirklich wichtig ist und sie durchaus verstehen kann, wenn er etwas nicht sofort begreift, so wie eben, als sie es normal sitzend erklärt hat. Sie sieht ihn mit aufdringlicher Milde an und nickt dazu in Zeitlupe.
»Zum fünften Mal, Adam, ich glaube Ihnen nicht. Ich sage Ihnen das ganz offen. Sie wissen, dass ich Sie vorgezogen habe. Auf Ihrem Stuhl könnte in diesem Augenblick eine verzweifelte Studentin sitzen, die diese Therapiesitzung nötig hat. Sie können an jedem anderen Ort erreichbar sein, Adam, und an den wenigsten Orten wird man sich nicht von Ihnen ernst genommen fühlen, wenn Ihr Smartphone klingelt.«
»Angela«, beginnt Götzki und wird von seinem Telefon unterbrochen. Zerrt es aus der Hosentasche. Wie in einem Albtraum hilft alles Wischen und Tippen nichts, es klingelt einfach weiter. Wieder Ludwig Höhner. Warum?
»Ich werde das jetzt aushalten, Adam.« Angela spießt ihn unbeirrt mit ihrem sanftmütigen Todesblick auf.
Götzki bricht der Schweiß aus. Seine Finger verwandeln sich in knochenlose, zitternde Würmer. Er hört den Aufprall des Smartphones auf dem Fußboden als fernes Echo, eine Fülle von Klängen, ein buntes Klirren. Jemand rollt einen großen Stein vor den Eingang seiner Luftröhre. Ein Rollladen wird heruntergelassen, ein Trommelwirbel direkt am Trommelfell. Sein ganzer Körper, als würden zwei riesige Hände ihn zerknüllen wie ein Blatt Papier.
»Bitte bleiben Sie sitzen, Adam, ich hebe das für Sie auf.«
Kurz bevor es zu spät ist, wird der Stein gesprengt und der Rollladen nach oben gerissen. Götzki nimmt dankbar die staubsatte Zimmerluft auf.
Und atmet aus. Durch den Mund. Macht sich ganz leer. Und wieder ein. Durch die Nase. Öffnet Herz und Brustraum.
»Letzte Woche, irgendwo in der rheinhessischen Provinz. Dem Gutachter zufolge war er mit knapp zweihundert Sachen unterwegs. Ein Traktor bog aus dem Feldweg. Er war zu schnell, konnte weder ausweichen noch bremsen. War sofort tot.«
Götzki fehlen das Ende der Therapiesitzung und der Weg zu Höhner ins BKA. Er würde gerne wissen, ob er mit den Öffentlichen oder dem Auto gekommen ist. Kann aber niemanden fragen. Das Auto könnte irgendwo in der Umgebung stehen. Oder vor der Praxis in Kleinmachnow, fünfundzwanzig Kilometer weit weg. Ist ihm schon mal passiert, Pkw während einer Erinnerungslücke abgestellt und dann stundenlang gesucht.
»Ein Bein von ihm lag über hundert Meter von der Unfallstelle entfernt. Das war so 'n kleiner Traktor, mit denen die dort zwischen den Weinreben rumfahren. Die Dinger sind mickrig, nicht zu vergleichen mit richtigen Traktoren. Was meinst du?«
»Zu dem Traktor?« Tief einatmen, durch die Nase.
»Nein, zu der frei gewordenen Stelle beim Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz. Der Mann war Operativer Fallanalyst. Wie du.«
Ausatmen. Nabel einsaugen. Götzki geht einmal die Woche zum Yoga, Empfehlung von Angela. Er liebt die Atemtechnik. Hätte es gerne ohne besonderen Anlass entdeckt, in etwa so, wie er während seines Psychologiestudiums übers Schachspielen gestolpert ist oder wie er vor zehn Jahren so beiläufig wie versehentlich zum Squash kam. Beides geht im Augenblick nicht. Seine Konzentration ist wie ein Zug, auf dessen Strecke plötzlich Schienen fehlen. Nimmt Fahrt auf, fährt stabil, auf einmal Entgleisung und aus.
»In dieser psychischen Ausnahmesituation und dann deine Verfolgungsgedanken. Mal für eine Weile raus aus Berlin. Das ist eine Chance.«
»Ich bin in keiner Ausnahmesituation. Und das, was du Verfolgungsgedanken nennst, sind ganz nüchterne Beobachtungen - nett übrigens, dass du nicht von Wahn sprichst. Habe ich dir schon von der Ratte an meinem Rückspiegel berichtet? Der toten Ratte? Am Schwanz aufgehängt, mit einem Haargummi befestigt? Glaubst du, ich hänge mir selbst so eine Deko ins Auto, Ludwig?«
Höhner, ein Knie umklammernd, kippt auf Götzki zu. Bei ihm eine Geste der Beschwichtigung. »Natürlich nicht, Adam, das war mehr so . falsch ausgedrückt. Man könnte eher sagen, dass es Wahnsinn ist, dass du in Berlin unter diesen Bedingungen leben musst.«
»Als würde ich bei meiner Therapeutin sitzen.«
»Du sagst selbst, dass deine Therapeutin einen Ortswechsel vorschlägt. Warum bist du nicht einfach froh über eine solche Gelegenheit?«
»Hatte ich meinen Autoschlüssel in der Hand?«
»Wie bitte?« Ludwig Höhner nimmt seine Brille ab, als könnte er den Sinn dieser Frage ohne Brille begreifen.
»Schon gut. Jedenfalls möchte ich nicht nach Mainz gehen. Ich habe gar keine Vorstellung von dieser Stadt. Was soll ich dort?«
»Du warst oft genug in Wiesbaden. Mainz liegt direkt daneben.«
»Ist mir nie aufgefallen.«
Ludwig Höhner steht auf, dreht sich um, läuft zum Fenster. Götzki verfolgt die Bewegung des athletischen Methusalemkörpers. Sehnige Muskulosität, die das weiße Hemd verbeult, aber nicht aufbläht. Leuchtend weiße Haarwellen, die sich Richtung Nacken stürzen. Körperhaltung wie ein Fahnenmast. Ein Vorbild. So möchte Götzki auch aussehen mit . Wie alt ist Ludwig? Zweiundsechzig? Achtzig? Einundfünfzig? Pfeifenraucher - bis wann haben sich Männer dieses spezielle Laster noch zugelegt? Ludwig darf hier drin nicht rauchen, auch nicht Pfeife, auch nicht am offenen Fenster, auch nicht nur hin und wieder. Götzki erinnert sich an Ludwigs emotionale Rede im kleinen Kreis zum fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum des Brandschutzbeauftragten. Sein Langzeitgedächtnis funktioniert wie ein robuster alter PC mit pedantisch aufgeräumtem Diskettenarchiv. »Du trägst eine enorme Verantwortung, Peter, und beschützt uns still und unbemerkt wie ein sorgender Vater seine schlafenden Kinder. Für mich bist du ein leiser Held, lieber Peter.«
Konzentriert saugt Ludwig die Flamme in den Pfeifenkopf, gibt Paff- und Schmauchgeräusche von sich, dazu ein »Hm«. Er nimmt den Rauch auf, natürlich nicht auf Lunge. Er quillt wie eine weiße Tintenfischwolke aus seinem Mund. Aus diesem Nebel spricht er zu Götzki.
»Der Chef des rheinland-pfälzischen LKA ist ein alter Freund von mir noch aus Bundeswehrzeiten. Ein feiner Kerl. Manchmal etwas steif im Auftreten. Dafür unkompliziert in der Zusammenarbeit, das kannst du mir glauben. Ich habe ihm von dir erzählt, auch, was du geleistet hast und welch ein begnadeter Analytiker du bist, und er sagte: >Alles klar, schick mir den Mann.<«
»Schön, Ludwig. Und woran arbeite ich in Rheinland-Pfalz? Obstdiebstahl? Ist nicht Rheinland-Pfalz das Bundesland ohne Großstädte?«
»Bitte, Adam, diesen Zynismus hast du nicht nötig. Selbstverständlich Operative Fallanalyse. Im Augenblick sind sie dort hinter der Autoteilemafia her, da kann er dich gut gebrauchen. Das ist die perfekte Wiedereingliederung. Freundliche Provinz. Verbrechen ohne Entführung, Folter und Vergewaltigung. Und wenn wir feststellen, dass du vierzig Stunden konzentriert arbeiten kannst, steigst du wieder bei uns ein.«
»Autoteilemafia.«
»Die bauen Lenkräder und Navigationssysteme aus hochwertigen Autos aus und .«
»Das ist mir klar.«
»Sie können jemanden mit deinem Verstand und deiner Fachkompetenz passgenau einsetzen. Übrigens alles topkompetente Leute, Vollprofis.«
»Was ist mit meiner Tochter?«
Höhner dreht sich zurück, legt Götzki eine Hand auf die Schulter. »Ich habe persönlich dafür gesorgt, dass sie beschützt wird. Diskret und effektiv, rund um die Uhr. Bis wir wissen, wer dir nachstellt.«
Götzki kaut auf der Unterlippe herum. Eine noch recht junge schlechte Angewohnheit.
»Mainz .«, murmelt er. »Absurder Gedanke.«
»Adam, du bist einer der Besten, und zwar aufgrund deiner Offenheit. Du hast dir alles angesehen, alles in Betracht gezogen, jeder noch so absurden Option eine Chance gegeben. Das war deine Art, die Arbeit des BKA immer dann voranzubringen, wenn es nicht weiterzugehen schien. Alle sind sie an dem Weg vorbeigelaufen, ohne ihn zu sehen, oder haben ihn für eine Sackgasse gehalten. Und du? Du bist abgebogen und hast die Tür gefunden, mit der niemand gerechnet hat. Du hast auf das Unglaubliche spekuliert und recht gehabt. Warum sollte das nicht in deinem Privatleben funktionieren?«
»Ich behaupte nicht, dass das kein Weg ist, den du mir eröffnen möchtest. Allerdings führt dieser Weg in einen Abgrund. Und ich befinde mich schon in einem, aus dem ich gerade versuche rauszuklettern.«
»Bei allem Respekt vor deiner Situation, Adam, aber findest du deine...
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