Schweitzer Fachinformationen
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»Pass auf, du bist gleich dran!«
»Ja doch, Schätzelein. Ich muss dir was erzählen, Gustl!«, flüstere ich, so leise ich kann, zurück. Leider ist das nicht besonders leise.
»Schschsch!«, kommt es von irgendwoher zurück. Ich kann es kaum aushalten. Mein Herz möchte in tausend Stücken nach allen Seiten springen und die ganze Welt umarmen - wenigstens den Teil, den ich gut leiden kann.
»Die sind schon beim Schneider!« Gustl kann sehr leise flüstern.
»Sag du mir nicht, wann ich dran bin - ich hab noch Zeit! Und weißt du, was ich noch habe?«
Gustl hört mir gar nicht zu, sondern macht »Schschsch!« und lauscht auf die Schauspieler draußen vor dem Vorhang.
Wir kauern beide hoch oben in der nächtlichen Kulisse der Bühne, die von unten so viel größer aussieht, als sie in Wirklichkeit ist. Ich frage mich jedes Mal, wo sie den Schuhlöffel hingetan haben, mit dessen Hilfe ich auf meinen vorgegebenen Platz flutschen könnte.
Um uns herum sind lauter angedeutete Spitzgiebelhäuschen schwach von innen beleuchtet, damit man aus dem Zuschauerraum hübsch angeordnete Silhouetten eines nächtlichen Köln erkennen kann, das es so gar nicht mehr gibt. Der Mond wurde prächtig leuchtend in den Bühnenhimmel heraufgezogen. Ich habe ein fein gesäumtes Zipfelmützchen auf dem Haupt und sitze auf einer klitzekleinen Stufe ganz oben auf der Bühnentreppe, die Laterne fest in der Hand. Die Treppe führt quasi im Inneren eines der Häuser in den Keller, der sich unten auf der Bühne zum Zuschauerraum hin als Schneiderwerkstatt öffnet. Jedenfalls jetzt in der Nachmittagsvorstellung. Abends gehört die Treppe zum Bühnenbild vom »Stadtschreiber von Köln« und kennzeichnet einen hochherrschaftlichen Eingang.
Im Dunkel der Kindervorstellung hocken die Treppenstufen hinunter links und rechts lauter Heinzelmännchen. Ganz unten wartet meine kleine Nichte Gigi, während hier oben bei uns der Schneider auf der Pritsche liegt und schnarcht.
»Du glaubst es nicht - ich habe unser Theater gesehen!«
»Unser Theater? Du spinnst ja.«
»Das hat der Papa auch gesagt, als ich mit sechs Jahren in der Schule erklärte, Schauspielerin werden zu wollen - und was soll ich sagen . tataa!« Ich mache eine ausladende Geste und vergesse, dass an dieser Hand ja die Laterne baumelt, die durch den plötzlichen Ruck ordentlich scheppert.
»Schsch!«, macht der Schneider.
Gustl hält die Streichhölzer parat wie immer, um beim ». Bürgermeisters Rock bereits gemacht« die Kerze in der Laterne zu entzünden. Wir haben es schon hundertmal gemacht. Es ist ein furchtbar langweiliges Stück für ein furchtbar langweiliges Publikum, das vor lauter Vorfreude, weil es natürlich weiß, wie gleich die Heinzelmännchen die Treppe hinunterpurzeln werden, das Lachen kaum noch zurückhalten kann. Sogar Gisela giggelt unten schon wieder mit.
»Schsch!«, mache ich. Meine Nichte ist das kleinste Heinzelmännchen, und ich bin das größte. Genau genommen bin ich das dickste. Seit es wieder alles gibt, habe ich das unstillbare Bedürfnis, alles auch zu essen, und man sieht es fast ein bisschen.
»Ich stelle mir das anders vor auf dem Theater. Meinst du, ich will bis ans Ende meiner Tage mit der Laterne in der Hand diese Treppe als geölter Blitz in Moll runterkugeln?«
»Jeder muss klein anfangen.«
»Klein? Das sagst du mir? Guck mich an! Ich will spielen, die Leute wirklich zum Lachen bringen und im nächsten Moment zum Heulen. Ich will, dass sie klüger werden, dass sie lernen, dass Freude und Schadenfreude zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Ich .«
Der schnarchende Schneider verschluckt sich.
»Hier werde ich gar nix. Mal geht die kleene Dicke von links nach rechts und dann wieder von rechts nach links. Mal kichert sie, mal knickst sie vorm Zigeunerbaron, und bei den Heinzelmännchen darf sie die Treppe runterfallen. Nee, Gustl - ich hab das Zeug zum ganz großen Star. Unser Kohlenhändler hat in Ehrenfeld eine Baracke auf dem Hinterhof, die will er vermieten, hat er gesagt, und ich habe sie mir angesehen. Da richten wir beide - du und ich - unser Theater her, und weißt du, wie es heißen wird? >Kölner Lustspielbühne
»Kölner - was?«
». bereits gemacht!«
»Gustl - die Laterne, schnell! Ich muss raus!«
». Bürgermeisters Rock bereits gemacht!«, wiederholt der Kollege unten auf der Bühne, aber das hastig angerissene Streichholz ist Gustl runtergefallen und hat mir ein kreisrundes braunes Loch ins Heinzelmännchenwams gebrannt. Die Laterne ist immer noch aus.
»Der Rock ist gemahacht!«, ruft ein wenig verzweifelt der Kollege draußen zum dritten Mal in unsere Richtung herauf, als ich endlich mit brennender Latüchte und Loch im Gewand oben auf dem Treppenabsatz erscheine.
Im Schein meiner Laterne purzeln und kugeln, fallen mit Schallen, Lärmen und Schreien und Vermaledeien erwachsene Heinzelmännchen mit Zipfelmützen, grauen Bärten, ulkigen Schuhen, die ihnen viel zu groß sind, durcheinander die Treppe hinunter, als hätte Shakespeares Puck statt eines Sommernachts- einen ziemlichen Alptraum. Und das kleinste steht ganz unten und hält sich den Bauch vor Lachen, weil ich als Letzte herunterkegele. Den fleißigen Heinzelmännchen ist des Schneiders neugieriges Weib mittels hinterrücks ausgestreuter Erbsen mal wieder auf die Schliche gekommen! Das ist nun wirklich der Brüller - das Publikum tobt.
Geschafft. Nach dem Schlussapplaus eilen wir in die zugige Garderobe, um uns umzuziehen.
Ich beeile mich besonders, denn ich will Gustl heute noch zeigen, was ich meine. Er muss es mit eigenen Augen sehen. Es ist nämlich perfekt. Aber zuerst muss ich die kleine Gigi nach Hause bringen, sie ist nicht mal sieben, und es wird bald dunkel.
»Was war denn schon wieder los?«
Willy steht wütend und bereits in voller Stadtschreiber-Montur für die Abendvorstellung in der Garderobentür. Sein imposanter Schnäuzer bebt, und die - verbliebenen - Löckchen kräuseln sich unheilvoll um seine Stirn.
»Kannst du nicht einen einzigen Einsatz sicher nach Hause bringen, ohne dass man dich bis in die zehnte Reihe tuscheln hört?«
Er meint mich. Und ich denke, wie so oft, dass er doppelt so alt ist wie ich und dass man das sieht. Gustl und er sind zwar ein Jahrgang, aber dennoch so grundlegend verschieden wie Flönz und Appeltaart. Der eine feingliedrig, zart und sensibel, wenn auch groß, der andere mit dem Charme eines Bullenkalbes. Wie zufällig lege ich die Hand über das Brandloch in meinem Hemd. Wenn er das auch noch sieht, bin ich geliefert.
Und schon geht der übliche Sermon los, und zwar beifallheischend in die ganze Runde: »Die Leute haben bezahlt, es kann doch nicht sein, dass die die einfachsten Aufgaben nicht bewältigt, vielleicht muss sie einfach weniger essen und mehr zuhören! Ein hübsches Gesicht ist nicht alles! Da gibt man einem jungen Ding eine Chance, und dann das!«
Das junge Ding guckt mit demonstrativer Verzweiflung an die Decke und wagt nicht, weiter sein hart gekochtes Ei im Mund zu kauen. Was soll ich sagen? Ich habe halt immer ein Pausenbrot dabei.
»Die Streichhölzer sind feucht«, rettet mich Gustl. »Es war meine Schuld. Sie kann ja nicht rausgehen, wenn ich die Laterne nicht ankriege.«
Ein kurzer wütender Blick in meine Richtung. »Ihr seht doch, dass immer weniger Leute kommen! Nach der Währung haben alle kein Geld mehr. Und die paar, die noch kommen, vergrätzt ihr mir mit einer schlechten Vorstellung! Und wonach stinkst du zum Teufel noch mal so - bestialisch?«
Dann trollt sich der Theaterchef, ohne meine Antwort abzuwarten, er hat natürlich zu tun. Vor Gustl hat er Respekt, obwohl der im Augenblick kaum ernst bleiben kann.
Parallel zu seinem Vortrag habe ich hinter Willys Rücken ein paar klitzekleine willytypische Grimassen geschnitten: die Augenbrauen erzittern und schwindelerregende Höhen erklimmen lassen, den Finger tänzelnd wie eine Kobra in die Luft gereckt und bei »junges Ding« kräftig mit dem inzwischen wieder stattlichen Arsch gewackelt.
Was hätte ich ihm erzählen sollen? Dass meine Schwester letztes Silvester ein Schwein gewonnen hat und dieses seitdem bei uns auf der Etage wohnt, weil meine Mama Freundschaft mit ihm geschlossen hat, statt es zu verwursten? Das glaubt mir kein Mensch, aber man riecht es halt! Ich schicke Gisela zur Abendkasse, um ihre zwei Mark Gage abzuholen. Drei Zigaretten bekäme man für diese zwei Mark, muss ich sehnsüchtig denken, Gigi kauft sicher Schokolade.
»Nimm's ihm nicht krumm, er hat mit seinen vierzig Jahren eine riesige Verantwortung und weiß auch nicht, wie es jetzt weitergehen soll!«, beschwichtigt mich Gustl, noch immer leise kichernd, und wir stehen draußen.
Adenauer, unser alter Oberbürgermeister, hatte Willy und seine Schwester Lucy direkt 1945 höchstpersönlich gebeten - das kann der Chef noch vier Jahre später gar nicht oft genug erzählen -, das Theater ihres verstorbenen Vaters bloß wieder aufzumachen, damit die Leute auf andere Gedanken kämen. Das scheint mir in der Tat bitter nötig, nachdem genau diese Leute den furchtbarsten Weltenbrand angerichtet haben, den man sich nur vorstellen kann. Die Millowitschs haben seither sieben Tage die Woche Vorstellung, nachmittags für Kinder und abends für Erwachsene, um die Leute möglichst durchgehend auf andere Gedanken zu bringen.
Der lange, dünne Gustl ist Schauspieler, aber vor allem Regisseur und Schreiber bei Millowitsch. Wie durch ein Wunder hat der Bombenhagel das Haus in der...
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