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Die Würde des Menschen
Januar 1946
In den Nächten fegt der Wind kalt um die Bücherei der Schule in Braderup in Nordfriesland. Um diese Jahreszeit kommt er meist aus Westen, über die oft aufgepeitschte Nordsee. Ein Wind, wie ihn die junge Frau aus ihrer Zeit im Internat kennt, als sie in der »Schule am Meer« auf der Insel Juist lebte. Eine freie Erziehung für ein freies Mädchen, so hatten es sich ihre Eltern gewünscht, 1932, als sie ihre zwölfjährige Tochter aus Ostpreußen dorthin schickten. Damit sie gleichberechtigt mit Jungs aufwachsen, sich zu einer starken Persönlichkeit entwickeln würde.
Jetzt, einen Weltkrieg später, kauert sich die junge Frau mit ihrem Sohn auf dem Schoß abends vor den kleinen Ofen, den sie »Hexe« nennen. In dem Dorf, in dem sie gestrandet sind, kehren nach und nach ein paar der Männer zurück, und die Nachbarinnen sprechen mit gedämpfter Stimme von ihrer Angst, inmitten all der Not schwanger zu werden, wo sie doch selbst kaum etwas zu essen haben.
Diesen Frauen müsste jemand helfen, oder? Zuhören, das kann Beate Uhse.
*
Vierhundert Kilometer weiter südlich hackt ein junger Mann Holz und rezitiert dabei im Kopf große Verse; er kennt viele Monologe auswendig, den Hamlet etwa. Graue Socken hat er an, eine Armeejacke. Er ist hochgewachsen, hält sich gerade. Die Tätigkeit hier im Mittelgebirge Solling in Niedersachsen erfüllt ihn mit Zufriedenheit. Mit Holzhacken kann er sich Lebensmittelkarten verdienen, und wer in diesen Tagen Mittel zum Leben hat, der kann überleben.
Hinter ihm liegen vier Jahre Kriegsdienst. Bei den Panzergrenadieren war er, bei der 3. Panzer-Division, eingesetzt unter anderem in der Ukraine. Ostfront. Das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse hat er bekommen, war zuletzt Oberleutnant. Panzergrenadiere sind Männer, die auf Schützenpanzern die Kampfpanzer begleiten und inmitten all des Lärms, des Qualms, des Sterbens von ihren Vehikeln klettern, um zu Fuß weiterzukämpfen. Und zu töten, um nicht getötet zu werden. Er war 15, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, und 17, als er Soldat wurde, jetzt ist er 22 Jahre alt und lässt das Leben auf sich zukommen.
Sein Name ist Bernhard-Viktor von Bülow, er stammt aus Brandenburg an der Havel, ein Preuße aus jahrhundertealtem Offiziersadel, und das Wappentier seiner Familie - der Singvogel Pirol, auch Vogel Bülow genannt, Oriolus oriolus - heißt im Französischen Loriot.
Ein großer Tag, dieser 3. Januar des neuen Jahres: Wilhelm Pieck wird 70 Jahre alt. Während sich viele Kilometer weiter westlich, in Rhöndorf am Rhein, ein anderer Politiker auf seine Feierlichkeiten zum runden Jubiläum vorbereitet - Konrad Adenauer ist ebenfalls Anfang 1876 geboren -, wird der Chef der Kommunistischen Partei Deutschlands an der Berliner Friedrichstraße geehrt. Wobei: Ist die Staatsoper im Admiralspalast angemessen für einen Arbeiterführer? Aber wo sonst ließe sich anständig feiern, da doch alles zerstört ist?
Ausgerechnet Walter Ulbricht hält die Festrede. Wenige Redner entwickeln so wenig Charme wie er, aber man hört ihm trotzdem zu - mit Ulbrichts Freunden aus Moskau will man es sich nicht verscherzen. Die Russen haben sich in Karlshorst einquartiert, ihre Stimmen füllen den Saal, sie tragen die Uniform der Rotarmisten. Den »Alten«, so nennt er Pieck, und aus seinem Munde klingt es für manche nicht sehr freundschaftlich, sondern eher wie eine Drohung. »Der Tag, an dem du das achte Jahrzehnt deines Lebens beginnst«, sagt Ulbricht, »sieht dich an der Spitze unserer Partei als einen der ersten Baumeister des neuen demokratischen Deutschlands.«
Weitere Höhepunkte sind geplant: Wilhelm Pieck, den die Nationalsozialisten 1933 ausgebürgert hatten, wird zum Ehrenbürger Berlins ernannt. Außerdem reicht ihm Otto Grotewohl, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) in der sowjetisch besetzten Zone, demonstrativ die Rechte. Und Pieck schlägt ein. Was für ein Symbol: Die deutschen Arbeiterparteien Hand in Hand. Vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten hatten sich Kommunisten und Sozialdemokraten noch erbittert bekämpft. Nun stoßen ihre Anführer auf die gemeinsame Zukunft an.
Die Festgemeinde zieht später weiter ins Villenviertel nach Hohenschönhausen; natürlich wird dort Krimsekt ausgeschenkt. Und ja: Dieser Abend endet mit einem Feuerwerk.
Dresden, die schöne Stadt, die entstellte Stadt, macht sich ans Werk. Oberbürgermeister Walter Weidauer, ein altgedienter Kommunist, eingesetzt von den Sowjets, stellt in diesen Tagen seinen Plan für den Wiederaufbau vor. Zunächst sollen kulturell bedeutsame Gebäude, die bei den Bombenangriffen im Februar 1945 zerstört wurden, möglichst originalgetreu rekonstruiert werden. Am Zwinger sind sie schon zugange.
Man muss vorsichtig umgehen mit diesem Wort: Wunder. Aber wahrscheinlich trifft es auf ihn und seine Familie zu. Es ist wirklich ein Wunder, dass die Adenauers alle noch leben: die vier Söhne, von denen die drei ältesten im Krieg waren, die drei Töchter, die die Bombennächte überlebt haben, seine Frau, die tagelang in Gestapo-Haft gequält wurde, und Konrad Adenauer selbst, immer wieder von den Nationalsozialisten bedroht, mehrfach inhaftiert, ein Gegner des Regimes, den sie über viele Jahre drangsalierten, aber nicht umbrachten wie so viele andere.
Köln, mit seinem Dom, von Trümmern umgeben, liegt ein paar Kilometer den Rhein hinunter. Auf dem Weg dorthin kommt man durch das zweitausend Jahre alte Bonn. Adenauers Haus in Rhöndorf am Rhein schmiegt sich an den Hang des Siebengebirges; Rosen wachsen hier, Kartoffeln gedeihen, auf der Wiese unten an der Straße reihen sich Obstbäume aneinander, und den Steingarten hat er selbst geplant. Oben am Berg thront Burg Drachenfels, man kann die Ruine vom Garten aus sehen. Der Blick geht nach Westen, Richtung Frankreich. In diesem Haus sammelt Adenauer seine Kräfte, schreibt Briefe und Aufsätze. »An der Würde und den unveräußerlichen Rechten der Person findet die Macht des Staates ihre Grenzen«, notiert er in diesen Tagen.
Die Würde des Menschen - sie vor allem gilt es zu beschützen, darum muss es künftig gehen. Von Rhöndorf aus wird er, der frühere Oberbürgermeister von Köln, den nach dem Krieg die Amerikaner wieder einsetzten und dann die Briten verjagten, seine politische Karriere noch einmal befeuern. Von hier aus will er die Bürgerlichen und Konservativen um sich scharen, von hier will er die Zukunft Deutschlands gestalten, und dass er heute 70 Jahre alt wird, wird ihn daran nicht hindern.
Konrad Adenauer ist ein hoch aufgeschossener, hagerer Mann, die Gesichtszüge asketisch. Zweimal wird er an diesem 5. Januar Geburtstagsgäste willkommen heißen. Zuerst seine Familie, acht Erwachsene, drei Kinder; er ist voller Dankbarkeit. Folgt eurem Gewissen, sagt er zu ihnen an diesem Morgen, er folge seinem Gewissen schon das ganze Leben lang.
Draußen, vor dem Haus, nehmen sie ein Foto auf. Alle sind so dünn wie der Patriarch. Er steht hinten in der Mitte, dunkler Anzug, dunkle Krawatte. So ernst wie er schaut keiner.
Später kommen ihn Männer aus der Partei besuchen, Männer, deren Haltung er kritisch sieht. Sieben Wortführer des linken Flügels der neu gegründeten Christlich Demokratischen Union Deutschlands, kurz CDU. Noch ist Adenauer kein Mitglied, dabei umwirbt man ihn seit Monaten. Er könnte sich auch dem Zentrum anschließen, seiner alten Partei, die in der Weimarer Republik vor allem die Interessen der Katholiken vertreten hat - dort winkt eine Führungsposition. Und doch neigt er der überkonfessionellen CDU zu. Adenauer will möglichst viele Menschen erreichen, möglichst viel Einfluss gewinnen.
Längst hat er damit begonnen, sich eine gute Startposition in der neuen Partei aufzubauen. Und wer zur Geburtstagsfeier eingeladen ist, erscheint auch. Seine Gäste aus den Reihen der christlichen Gewerkschaften sind in diesen chaotischen Tagen erstaunlich gut organisiert und propagieren in manchen Aspekten sozialistische Positionen. Adenauer könnte sie auf den üblichen Wegen der demokratischen Willensbildung taktisch bekämpfen, da er nicht an den Erfolg einer staatlich gelenkten Wirtschaft glaubt. Aber lieber bietet er echten Bohnenkaffee auf, Torten und Kuchen, den Blick übers Tal, seine Aufmerksamkeit.
Auch dieser Jubilar, der geboren wurde, als das Kaiserreich noch jung war, schmiedet an seinem Geburtstag eine Allianz.
In Berlin nimmt Schering am 7. Januar als erstes deutsches Unternehmen die Produktion von Penicillin auf. Das neuartige Medikament, 1941 erstmals eingesetzt, wirkt gegen bakterielle Entzündungen und hemmt den Ausbruch von Lungenkrankheiten wie Tuberkulose. 900 Millionen Einheiten sollen pro Monat hergestellt werden. Penicillin, lange Zeit britisches Staatsgeheimnis, hat im Zweiten Weltkrieg Tausenden verwundeter Soldaten auf alliierter Seite das Leben gerettet. Nun steht es auch den Deutschen zur Verfügung.
Von draußen dringt das Summen der Menge herein, die Energie, die zweitausend Menschen ausstrahlen, wenn sie gemeinsam auf ein Ereignis warten. Fußball zu gucken, tut gut in diesen Tagen. Für die Dauer eines Spiels verschwindet der Alltag.
Sonntag. Unten in der Stadt steigt nachher noch die »Rue de Gallop«, da gehen die jungen Kaiserslauterer Männer auf die »Rennstrecke«, wie man hier sagt, um nach jungen Frauen Ausschau zu halten - und...
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