Schweitzer Fachinformationen
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Medizin ist nicht neutral. Sie wird von Menschen gemacht, und Menschen haben Vorurteile, Vorannahmen und sind geprägt durch Vorbilder und Traditionen - im Guten wie im Schlechten. Das wirkt sich auch darauf aus, wie Medizin betrieben wird und wie Männer und Frauen behandelt werden. Wenn man ihr schon einen bestimmten Artikel zuordnen wollte, dann müsste es nicht »die Medizin« heißen, sondern »der Medizin«. Denn die Medizin ist männlich.
Das weltweite medizinische Wissen ist immens, und es wächst beständig weiter an. Die Kenntnisse über Krankheiten, ihre typischen Symptome, den Verlauf, die passende Diagnostik und die beste Therapie sind extrem vielfältig. Allerdings stammt dieser umfangreiche Wissensschatz fast vollständig aus Studien an männlichen Zellen, männlichen Versuchstieren und männlichen Menschen; Studien, die mehrheitlich von Männern geplant, umgesetzt, ausgewertet und aufgeschrieben worden sind1.
Erstaunlich eigentlich, dass über Jahrzehnte und Jahrhunderte wissenschaftliche Forschung nur so betrieben wurde, dass nur Männer die Studienobjekte waren. Dabei ist doch der Gedanke mehr als naheliegend, dass ein Körper angesichts seiner Fähigkeit, Kinder auszutragen und zu gebären, auch anders sein muss - was den Stoffwechsel angeht, die Funktion vieler Organe und nicht zuletzt die Reaktion des Immunsystems, das während der Schwangerschaft ja einen Organismus tolerieren muss, der immunologisch verschieden ist.
Zu dieser einseitigen Art der fast ausschließlich männlichen Betrachtung der Medizin ist es nicht etwa aus bösem Willen gekommen oder weil Männer Frauen absichtlich diskriminierten. Lange Zeit wurde schlicht angenommen, dass sich die Zellen, Zellkulturen, Versuchstiere und auch die für wissenschaftliche Studien untersuchten Menschen untereinander zumindest in biomedizinischer Hinsicht weitgehend gleichen. Daher, so die Vermutung, müsse es unabhängig vom Geschlecht der Menschen, die behandelt werden, schon stimmig sein, sich in der Medizin hauptsächlich an den Männern zu orientieren.
Der heillos fortschrittsoptimistische Satz, wonach sich das medizinische Wissen angeblich alle sieben Jahre verdoppelt, bekommt vor diesem Hintergrund einen schalen Beigeschmack2. Schließlich ist über die typischen Beschwerden von Frauen, die optimalen Untersuchungsmethoden, wenn Frauen krank sind, sowie die beste Behandlung und den Genesungsverlauf erkrankter Frauen noch ziemlich wenig bekannt.
Zwar wurde das Problem in den letzten zwei, drei Jahrzehnten von einigen Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen (und von noch weniger Ärzten und Wissenschaftlern) erkannt, und es sind grundlegende Arbeiten zum Thema erschienen, von denen einige wichtige hier zitiert werden. Ein deutlicher Anstieg der wissenschaftlichen Projekte und Publikationen ist allerdings erst in den vergangenen fünf Jahren zu beobachten. Hier besteht ein eklatanter Forschungsrückstand, und es ist ein rasanter Wissenszuwachs zum Thema geschlechtergerechte Medizin notwendig, der allerdings von einem erschreckend niedrigen Niveau aus beginnt.
»Die medizinische Forschung orientiert sich am männlichen Normkörper«, sagt Sabine Oertelt-Prigione, die Deutschlands erste Professur für geschlechtersensible Medizin innehat: »Frauen zeigen bei den gleichen Erkrankungen aber häufig andere Symptome. So sind bei Männern die klassischen Symptome für einen drohenden Herzinfarkt starke Brustschmerzen, junge Frauen können in dieser Situation unter Übelkeit und Schwindel leiden. Asthma zeigt sich bei Jungen durch stärkere Geräusche beim Atmen, bei Mädchen oft durch trockenen Husten.« Für die Diagnose von Erkrankungen, aber auch während der Behandlung sei es deshalb wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte diese geschlechtsspezifischen Unterschiede endlich stärker berücksichtigen.
Um zu verdeutlichen, wie groß der Rückstand ist, hilft ein Blick in die Public Library of Medicine (»PubMed«). In dieser weltweit größten online-Datenbank für biomedizinische Fachartikel waren im Jahr 2000 unter dem Schlagwort »Gender Medicine« 1287 Publikationen gelistet. Im Jahr 2021 sind hingegen 16865 Fachbeiträge zu dem Thema erschienen, wobei besonders steile Anstiege in den Jahren 2014 und 2019 zu verzeichnen sind. Diese Zahlen und der Zuwachs mögen auf den ersten Blick beeindruckend wirken. Wie klein der Forschungsanteil zum Thema Gendermedizin tatsächlich ist, wird allerdings deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Datenbank jedes Jahr um rund 500000 Einträge wächst und dort inzwischen mehr als 32 Millionen Artikel zu allen Bereichen der Medizin verzeichnet sind.
Natürlich blieb es auch früheren Generationen von Ärztinnen und Ärzten nicht verborgen, dass es unterschiedliche Geschlechter gab und gibt. Die daraus resultierenden Unterschiede wurden - mit Ausnahme von Krankheiten der Sexualorgane und den damit zusammenhängenden Hormonveränderungen - jedoch lange Zeit nicht für klinisch relevant erachtet und deswegen auch nicht weiter beachtet. Zudem gibt es ja schon lange das Fach Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Wozu sich also zusätzlich um eine »weibliche« Medizin kümmern?
Frauen galten aus medizinischer Sicht als zumeist etwas kleiner und etwas leichter geratene Männer, die außer ihren typischen Frauenleiden und einer oftmals anderen psychischen Verfassung keine Besonderheiten aufwiesen. Warum sich also in Forschung und Praxis spezifisch mit ihnen beschäftigen? Waren ihre medizinischen Belange nicht genauso abgedeckt, wenn neue Medikamente an Männern erforscht oder andere innovative Therapiemethoden an männlichen Probanden ausprobiert wurden?
Zwar hatten die Nationalen Gesundheitsinstitute (NIH) der USA, die mächtigste Forschungsförderorganisation der Welt, bereits 1993 angekündigt, dass sie medizinische Studien künftig nur noch dann fördern würden, wenn auch Frauen als Versuchsteilnehmer darin aufgenommen werden. Doch viele Wissenschaftlerteams hielten sich nicht an diese Vorgabe - oder sie werteten die Ergebnisse nicht nach Geschlechtern getrennt aus, wenn Frauen doch als Probanden teilgenommen hatten, sodass die Erkenntnisse aus solchen Untersuchungen keinerlei Nutzen für die Frauen erbrachten3.
Auch in Medikamententests und anderen Studien, in denen neue Therapien erprobt wurden, hielten sich die Studienleiter oftmals nicht an die Empfehlung, die neuen Arzneimittel gleichermaßen an Frauen wie an Männern zu testen und zu erforschen. Es verwundert daher nicht, zu welch niederschmetterndem Ergebnis eine Analyse von US-Behörden 2001 kam: Acht der zehn verschreibungspflichtigen Pharmaka, die zwischen 1997 und 2000 wegen gefährlicher Nebenwirkungen vom Markt genommen werden mussten, brachten »ein größeres Risiko für Frauen als für Männer mit sich«4.
Wenngleich sich das Bewusstsein für die besonderen Belange von Frauen in Diagnostik und Therapie in einigen Bereichen inzwischen deutlich verbessert hat und immer mehr Ärztinnen und Ärzte erkennen, dass es entscheidend für eine gute Medizin ist, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu berücksichtigen, hat die Gendermedizin auch weiterhin einen schweren Stand. An den meisten Universitäten ist sie noch nicht institutionell etabliert, also ohne eigenen Lehrstuhl, eigenes Institut und die entsprechende Ausstattung. Sie wird oftmals als abwegiges Spezialgebiet oder unwichtige Nischendisziplin betrachtet und nicht als ein zentrales Thema für die medizinische Ausbildung, Forschung und Praxis.
Dabei sollte die angemessene Berücksichtigung von Frauen in der Medizin mittelfristig gar kein eigenständiges Fachgebiet sein, sondern zum Denken und Handeln in jeder medizinischen Disziplin gehören. Frauengesundheit und Gendermedizin bieten sich als ein interdisziplinäres Querschnittsthema an, das selbstverständlich das ärztliche Vorgehen in Theorie und Praxis bestimmen sollte.
Die vielfältigen genetischen, biologischen, anatomischen, physiologischen, klinischen aber auch die psychischen und sozialen Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu kennen, ist entscheidend für eine erfolgreiche individuelle Behandlung. Werden diese Erkenntnisse in die praktische Versorgung einbezogen, ist das übrigens nicht nur für die Untersuchung und Behandlung von Frauen von erheblicher Bedeutung, sondern auch gewinnbringend für die Betreuung von Männern. Zumindest, wenn gute medizinische Qualität der Anspruch sein soll.
Es gibt Männer und Frauen, und es gibt Menschen, die sich keinem Geschlecht eindeutig zugehörig fühlen oder im Laufe ihres Lebens einen Wandel durchmachen. Allen Menschen ist jedoch gemeinsam, dass sie zwar nicht allein, aber eben auch von ihrer Biologie in dem bestimmt werden, was sie sind, was sie fühlen, erleben und wie sie sich verhalten. Und außerdem werden sie davon bestimmt, wie sie von ihrer Umwelt geprägt worden sind.
Prozentual zu gewichten, ob es nun »die Gene« sind oder eine schwere Kindheit oder rückständige - zumindest aber gesundheitsschädliche - Rollenbilder, die mehr zum Gesundheits- und Krankheitsverhalten der jeweiligen Geschlechter beitragen, ist unmöglich. Zudem handelt es sich bei diesen beiden Polen weder um getrennte noch um gegensätzliche Welten. Vielmehr beeinflusst das gesellschaftliche wie das persönliche Umfeld und Erleben die Biologie - unter dem Stichwort Epigenetik gibt es dazu ein stetig wachsendes Forschungsfeld - und die Biologie wirkt sich darauf aus, wie sich Menschen verhalten, und entscheidet beispielsweise mit darüber, was sie essen, wie viel sie...
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