Schweitzer Fachinformationen
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Iss, was gar ist, trink, was klar ist,
sag, was wahr ist.
Martin Luther
Die Glocken hatten aufgehört zu läuten. Isa blickte zum Himmel und suchte jede einzelne der dicken, grauen Wolken nach Oma ab. Auf irgendeiner würde sie sitzen und ihr aufmunternd zuzwinkern, da war sie sich sicher. Doch außer ein paar Krähen, die in der dicken Eiche vor dem Eingang der Kirche hockten und krächzend aufschreckten, als Orgelklänge nach draußen drangen, war nichts zu sehen.
Isa berührte die kalte Klinke. Sie zögerte. Noch konnte sie abhauen. Noch hatte niemand mitbekommen, dass sie da war. Sie konnte es ja selbst kaum fassen.
Als sie die Kirche schließlich betrat, hatte das Orgelspiel gerade aufgehört. Die Kirche war voll besetzt. Das gab es in Nordernby sonst nur an Weihnachten. Hinter ihr fiel die schwere Tür krachend ins Schloss.
Unzählige Köpfe drehten sich um und starrten Isa an. Nun war es zu spät für die Flucht. Ihre Wangen begannen zu glühen. In der ersten Reihe war Momme aufgestanden und winkte sie zu sich. Auf Zehenspitzen, mit angehaltenem Atem und gesenktem Blick eilte sie den Gang entlang. Zwischen Momme und seiner Mutter Meta ließ sie sich auf die Bank sinken und atmete aus.
Meta legte ihre Hand auf Isas. Die Wärme tat gut. Langsam hob Isa den Kopf. Der Sarg stand nur wenige Schritte von ihr entfernt im Altarraum. Seitlich davor hatte man ein großes Porträt von Oma aufgestellt, auf dem Luise sie anlächelte. Hallo, Oma. Isa wollte zurücklächeln, aber sie hatte ihren Mund nicht mehr unter Kontrolle. Das Zittern ging in ein Beben über. Hinter ihren Augen breitete sich ein enormer Druck aus. Ihr Rachen fühlte sich an, als würde er brennen. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter und tropften auf ihren Mantel. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie schaffte es weder, sich die Nase zu putzen, noch ihren Blick von Omas Bild abzuwenden.
Seit Momme sie vor vier Tagen, am Ostersonntag, in London angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass ihre Oma Luise gestorben war, hatte Isa keine einzige Träne vergossen. Sie hatte seine Worte zwar vernommen, aber deren Bedeutung hatte es nicht bis in ihr Herz geschafft. Doch jetzt, hier, in der alten Dorfkirche von Nordernby lagen die Dinge anders. Hier traf sie der Schmerz mit ungeahnter Wucht.
Pastor Hartmann stand mit wässrigen Augen auf der Kanzel und begann seine Ansprache. «Luise Petersen war viele Jahre lang der Mittelpunkt unserer Gemeinde gewesen. Bei ihr im Seestern versammelten wir uns, wenn es etwas zu feiern gab, und auch, wenn wir von jemandem Abschied nehmen mussten. Heute nun müssen wir uns von Luise Petersen selbst verabschieden .»
Isa schluchzte laut auf. Meta reichte ihr sofort eines ihrer bestickten Stofftaschentücher. Isa schnäuzte hinein und konzentrierte sich auf ihre Atmung, wie sie es in der Therapie gelernt hatte. Einatmen. Innehalten. Doppelt so lange ausatmen.
Meta stieß ihr sachte mit dem Ellbogen in die Rippen und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Dann zog Omas beste Freundin aus ihrer Handtasche einen alten silbernen Flachmann heraus und hielt ihn Isa hin.
«Nimm einen Schluck, auf Luise!», flüsterte sie.
Isa blinzelte die Tränen weg und schüttelte energisch den Kopf. Meta hatte da weniger Hemmungen. Sie schraubte den Flachmann auf, prostete in Richtung Sarg und trank.
Isa richtete ihren Blick wieder gen Kanzel. Einatmen. Ausatmen.
«Bratkartoffeln .» Der Pastor guckte sehnsüchtig. «Schon während der Sonntagspredigt hatte ich mich stets auf Luises Bratkartoffeln gefreut. Zeit ihres Lebens hat sie uns alle mit ihrem Essen und mit ihrer Herzlichkeit verwöhnt .»
Isa schluckte. Um sie herum wurde geschnieft und geschnäuzt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie selbst Momme sich über die Augen wischte.
«. Aber Luise Petersen musste auch einige Schicksalsschläge verwinden», fuhr der Pastor fort. «Ihr Mann starb, als sie noch eine junge Frau war. Ihre Tochter hat Nordernby früh verlassen, und auch ihre Enkelin, die Luise großgezogen hatte, kehrte der Heimat vor einigen Jahren den Rücken .»
Jetzt sah Pastor Hartmann Isa über den Rand seiner Lesebrille hinweg direkt an. Und Isa meinte in seinem Blick nicht bloß Mitgefühl zu sehen. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Diesmal griff Isa zu, als Meta ihr den Flachmann reichte. Sie schloss die Augen und nahm einen kräftigen Schluck. Und dann noch einen. Der süße Kirschlikör breitete sich in ihrem Magen aus und verströmte eine angenehme Wärme. Der Pastor hatte ja recht mit seinem strafenden Blick. Es war eine Ewigkeit her, dass Isa Oma besucht hatte. Die ersten Jahre nach ihrem Umzug war sie noch regelmäßig nach Hause gekommen. Drei-, viermal im Jahr bestimmt, wenigstens für ein verlängertes Wochenende. Irgendwann wurden ihre Besuche seltener. Und schließlich schaffte sie es gar nicht mehr. Dabei hatte sie sich so fest vorgenommen, Oma bald zu besuchen. Seit der Sache mit ihrem Restaurant hatte Isa ja reichlich Zeit. Dass sie es nun nicht mehr rechtzeitig geschafft hatte, lastete schwer auf ihren Schultern. Einatmen. Ausatmen.
Das kurz darauf einsetzende Orgelspiel fuhr Isa durch Mark und Bein. Die Gemeinde sang Wir sind nur Gast auf Erden, und Isa hatte sich noch nie so einsam gefühlt wie in dieser proppenvollen Kirche. Nun gab es hier niemanden mehr, zu dem sie gehörte. Niemanden, der für sie kochte und sie anschließend fragte, ob sie auch wirklich satt war, so wie Oma es früher immer getan hatte. Isa starrte das Foto an: Omas silbernes Haar war ein wenig nachlässig zum Vogelnest hochgesteckt, so hatte sie ihre Frisur selbst genannt. In ihrem Blick suchte Isa nach Spuren, nach Anzeichen von Gebrechlichkeit oder Müdigkeit. Doch da war nichts. Ihre bernsteinfarbenen Augen strahlten dieselbe unverwüstliche Heiterkeit aus wie immer.
Der Pastor hatte die Kanzel inzwischen verlassen. Er stellte sich vor den Sarg, hob seine Hände in die Höhe und sagte mit theatralischem Ton: «Der Herr behütet deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit, Amen.»
Die Sargträger kamen und postierten sich.
«Lasst uns nun zum Acker Gottes gehen und den Leib der Verstorbenen zu seiner letzten Ruhestätte bringen.» Mit einem Nicken zeigte der Pastor der Gemeinde an, sich zu erheben. Die Orgel ertönte. Momme und Meta hakten Isa unter und nahmen sie in ihre Mitte. Die drei folgten dem Pastor, der hinter dem Sarg die Trauergesellschaft anführte, und gingen hinaus.
Die Glocke läutete. Es roch modrig. Die sandigen Wege waren aufgeweicht und voller Pfützen, denen Isa versuchte auszuweichen. Das lenkte sie für einen kurzen Moment ab, von der Trauer, dem schlechten Gewissen und dem Gefühl, sich in Nordernby wie eine Fremde zu fühlen.
Omas Grab lag direkt unter einer Linde. Die Träger stellten den mit Tulpen und Gerbera geschmückten Sarg auf die Holzbretter über der Grube. Dann trat die Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr ans Grab.
Isa senkte den Blick und starrte auf ihre mit Matsch gesprenkelten Stiefeletten. Sie schielte nach links. Selbst heute steckten Mommes Füße in schwarzen Holzklotzen, und Isa fragte sich, ob das dieselben waren, die er vor 15 Jahren getragen hatte, als sie von hier weggezogen war. Seltsam, nun wieder hier zu sein und alles unverändert vorzufinden. Fast alles.
Der erste Akkord der Feuerwehrkapelle fuhr Isa durch die Glieder. Sie blickte auf. Was war das für Musik? Das war kein Trauermarsch. Isa kam die Melodie bekannt vor. Sie guckte Meta an, die schon angefangen hatte, sich rhythmisch zum Takt zu bewegen.
«Hat Luise sich gewünscht», erklärte sie und begann mitzusingen: «Vielen Dank für die Blumen, vielen Dank, wie lieb von dir. Manchmal spielt das Leben mit dir gern Katz und Maus .»
Isa huschte ein Lächeln übers Gesicht. Sie ließ ihren Blick über die Trauergesellschaft schweifen. Oma und ihr Udo sorgten wie immer für Stimmung. Alle guckten vergnügt und wippten zur Musik. Plötzlich entdeckte sie Tim. Da stand er und nickte ihr zu. Wie lange hatte sie ihn nicht gesehen, ja nicht einmal an ihn gedacht? Isa nickte zurück.
Als die Musik verstummte und die Gemeinde begann, das Vaterunser zu murmeln, wurde Isa übel. Sie klammerte sich an Mommes Arm. Dann wurde der Sarg in die Erde gelassen. Der Pastor trat vor und schippte dreimal Sand in die Grube. «Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Wir geben Luise Petersen in Gottes Hand.»
Isa fröstelte. Jetzt war sie an der Reihe. Sie ließ Mommes Arm los und stakste durch den aufgeweichten Boden. Zögerlich lugte sie über den Rand der Grube. Gute Reise, Oma . Die Welt um Isa herum begann sich plötzlich zu drehen. Schnell griff sie nach der Schaufel. Die feuchte, schwere Erde klatschte auf den Sargdeckel, und vor Isas innerem Auge stiegen Bilder auf, die sich partout nicht verscheuchen ließen: Oma stieß den Sargdeckel auf und beschwerte sich über den Lärm, so wie früher, wenn Momme in der Mittagsstunde Rasen mähte. «Kann man hier nicht mal in Ruhe ein Nickerchen machen?!»
In Isas Oberkörper breitete sich ein Kitzeln aus. Ein hysterischer Lachanfall versuchte sich seinen Weg zu bahnen. Jetzt nicht! Einatmen. Ausatmen. Eilig legte sie die Schaufel zurück, steckte ihre Hände in die Manteltaschen und drehte sich um. Sie strauchelte. Denn der Absatz ihrer linken Stiefelette steckte in der Erde fest. Es ging ganz schnell: Isa konnte die Drehung nicht...
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