II.
Die Krankheit.
2. Das Wesen der Krankheit.
Wer mit dem medicinischen Wissen und Können der Naturvölker sich zu beschäftigen beabsichtigt, der darf den Versuch nicht unterlassen, zuvor darüber ins Klare zu kommen, was für Anschauungen bei denselben über die Natur und das Wesen desjenigen Zustandes bestehen, welchen man mit dem allgemeinen Worte Krankheit zu bezeichnen pflegt. Was ist nach dem Glauben der Naturvölker die Krankheit und wie entsteht dieselbe? Das sind die beiden Cardinalfragen, welche in erster Linie beantwortet werden müssen. Denn eine sehr grosse Zahl von therapeutischen Maassnahmen müssen vollkommen unverständlich für uns bleiben, wenn wir nicht in diese Begriffe einzudringen und uns im Geiste hineinzuversetzen im Stande sind. Sehr vieles, was uns widersinnig und gedankenlos aussieht, wird uns verständlich und muss uns als ein ganz logisches und wohldurchdachtes Vorgehen erscheinen, sobald wir einen hinreichenden Einblick gewonnen haben, was die Naturvölker sich unter der Krankheit und ihren Ursachen vorstellen, und manches Schlaglicht wird dabei gleichzeitig auf die sympathetischen und ähnliche Curmethoden geworfen werden, wie sie uns auch heutiges Tages noch in der Volksmedicin der Culturvölker entgegentreten.
Wenn wir nun auf die erste Frage wieder zurückkommen: was ist Krankheit? so ist man gewöhnlich sehr schnell mit der Antwort bei der Hand, indem man sagt: Krankheit ist der Einfluss böser Geister. Nun hat es ja allerdings seine Richtigkeit, dass vielfach die Naturvölker die Krankheit mit den Dämonen in eine bestimmte ursächliche Verbindung bringen. Wir finden dieses in Amerika, Asien, Oceanien und Afrika und, wenn wir genau hinsehen, auch in Europa.
Dass dieses hier auch die Ansicht der Gebildeten war. das beweist folgender Ausspruch von Martin Luther:
»Ueber das ist khein Zweyfel, dass Pestilentz und Fiber und ander schwer Krankheyten nichts anders sein, denn des Teufel werkhe.«
Aber wenn wir die Sache eingehender betrachten, so kommen wir mit einer solchen Erläuterung leider doch nicht viel weiter. Denn es entsteht natürlicherweise sofort die neue Frage, was ist das für ein Einfluss und wie äussert er sich? Es bleibt daher nichts anderes übrig, als den Versuch zu machen, sich doch noch etwas tiefer in diese Gedankengänge der Naturvölker hinein zu versetzen, soweit das immerhin noch spärliche Material es gestattet, das uns durch Reisende und andere wissenschaftliche Beobachter zugänglich gemacht worden ist.
Da zeigt es sich denn sehr bald, dass es nicht allein die dämonischen Einflüsse sind, durch welche die sogenannten Wilden die Krankheiten hervorgerufen glauben, sondern dass hier auch noch eine ganze Reihe anderer Factoren in Wirksamkeit treten. Wir müssen diese Factoren jetzt einer gesonderten Betrachtung unterziehen, indem wir noch einmal uns die Frage vorlegen, was ist nach dem Glauben der Naturvölker die Krankheit?
Die erste zutreffende Antwort lautet: die Krankheit ist ein Dämon (es können aber auch gleichzeitig mehrere sein). Hier schliesst sich gleich eine zweite Auffassung an: Die Krankheit ist der Geist eines Verstorbenen. Die Krankheit ist aber auch ein Thier oder der Geist eines Thieres; und endlich ist die Krankheit auch das Saugen oder Zehren eines dämonischen Menschen. Man könnte nun allerdings hier den Einwand erheben, dass dieses doch im Grunde genommen eigentlich alles als unter den Begriff der Dämonen fallend aufgefasst werden kann. Denn sie alle umschlingt doch ein gemeinsames Band und die Geister der Verstorbenen sowohl, als auch die in den Körper des Kranken eingedrungenen Thiere und deren Geister und ganz besonders auch die dämonischen Menschen wird man doch immerhin in den Sammelbegriff der bösen Geister einzureihen berechtigt sein.
Aber wir sind mit unseren Definitionen der Krankheit auch noch nicht zu Ende und es zeigt sich, dass wir gar nicht selten verschiedenen Krankheits-Definitionen bei demselben Volke begegnen. Es ist das ein recht deutlicher Beweis dafür, dass ihnen ihre Dämonen-Theorie doch nicht alle ihnen zur Beobachtung kommenden Krankheitsfälle in befriedigender Weise zu erklären vermochte.
Die Krankheit ist, um in unseren Betrachtungen fortzufahren, ferner etwas Belebtes, ein Animatum, welches nicht genauer präcisirt wird. In den Beschwörungsformeln der deutschen Volksmedicin wird es mit der Fähigkeit begabt, umherzuwandern und auf gestellte Fragen Rede und Antwort zu stehen. So heisst es in einer von Frischbier citirten Beschwörung aus Bürgersdorf bei Wehlau in der Provinz Preussen, um » das Geschoss«, eine Erkrankung, bei welcher necrotische Knochensplitter ausgestossen werden, zu besprechen:
Christus ging auf einen hohen Berg,
Er begegnete dem Geschoss.
Geschoss, wo gehst du hin?
Ich gehe, den Menschen die Knochen ausbrechen,
Das Blut aussaugen.
Geschoss, ich verbiete es dir,
Gehe wo die Glocken klingen
Und die Evangelien singen!
Auch dieses kann man allenfalls noch in die Dämonengruppe einrangiren.
Die Krankheit ist ferner ein Fremdkörper, der, sichtbar oder unsichtbar, auf oder häufiger in des Kranken Körper sich befindet.
Die Krankheit ist aber auch ein Gift.
Die Krankheit ist die Ortsveränderung eines Körperbestandtheiles, welch letzterer entweder überhaupt den Körper verlässt oder innerhalb desselben sich an eine falsche Stelle begiebt.
Die Krankheit ist dann auch noch der übernatürliche Verlust eines Körperbestandtheiles.
Die Krankheit ist aber ferner auch eine Behexung, eine Verfluchung, eine Bestrafung, der Wille oder ein Geschenk der Götter u. s. w., aber mit diesen letzteren Erklärungen treten wir eigentlich schon in die zweite Frage ein, nämlich in diejenige: Wie entsteht die Krankheit?
3. Die Krankheit ist durch Dämonen bedingt.
Um zu erforschen, was für eine Vorstellung sich die Naturvölker von der Entstehung der Krankheit machen, wird es am zweckmässigsten sein, in erster Linie die dämonischen Einflüsse näher zu erörtern. Denn es braucht, nach dem im vorigen Abschnitte Besprochenen, wohl kaum erst darauf hingewiesen zu werden, dass für gewöhnlich mehrere Entstehungsursachen für die Krankheiten verantwortlich gemacht zu werden pflegen.
Als das Werk der bösen Geister, oder durch den Einfluss der Dämonen entstanden, werden uns die Krankheiten von den Karaya-Indianern in Brasilien, von den Eingeborenen der Mentavej-Insel in Indonesien, von Dorej und Andai in Neu-Guinea, von Siam, vom westlichen Borneo, von Mittel-Sumatra und auf den Inseln Buru und Serang, sowie auf den Kêi-, den Tanembar- und Timorlao-Inseln und vom Seranglao- und Gorong-Archipel u. s. w. berichtet. Dieses »Werk« oder dieser »Einfluss« ist ohne allen Zweifel in den allermeisten Fällen die Besitzergreifung des betreffenden Menschen, welche in der Weise stattfindet, dass der böse Geist in den Körper hineinfährt und nun ist er also die Krankheit.
An eine solche Besitzergreifung durch einen Dämon, beziehungsweise ein Hineinfahren desselben in den ihm verfallenen unglücklichen Menschen, also an eine Besessenheit des Kranken, glauben die Koniagas und andere Eingeborne von Alaska und Britisch-Columbien, die Chippeway-Indianer, die Austral-Neger in Victoria, die Siamesen, die Niasser und die Einwohner von Ambon und den Uliase-Inseln. Es soll hiermit aber nicht gesagt sein, dass nicht auch noch sehr viele andere Völkerschaften an eine Besessenheit in Krankheitsfällen glauben; aber von den genannten Volksstämmen liegen mir directe Nachrichten hierüber vor.
Die Phi Pob sind Dämonen in Siam, welche von den Zauberern besonders gezüchtet werden, um sie dann in die Körper ihrer Mitmenschen zu jagen. Auch die bösen Geister Rahang fahren dort in die Menschen und zerfressen ihnen die Eingeweide.
Die Eingeborenen von Victoria betonen es besonders, dass selbst bejahrte und weise Männer von den Krankheitsdämonen besessen werden können.
Eigenthümlich ist die Auffassung der Mosquito-Indianer, dass der Dämon nur von dem erkrankten Körpertheile Besitz ergriffen habe.
Es kannten übrigens auch bereits die Assyrer und Akkader Dämonen, welche von besonderen Körpertheilen Besitz ergriffen. Das ersehen wir aus einer Beschwörungsformel, welche der Thontafel-Bibliothek des Assurbanhabal (des Sardanapal der Bibel) aus dem Königspalaste von Niniveh entstammt. Es heisst darin:
»Gegen den Kopf des Menschen richtet seine Macht der fluchwürdige Idpa,
Gegen das Leben des Menschen der grausame Namtar,
Gegen den Hals des Menschen der schändliche Utuq,
Gegen die Brust des Menschen...