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Savannenkind
Fayissa wünschte sich einen Hund. Einen Hund, den er streicheln und umarmen konnte und der ihm durch die Savanne folgte, so wie es die Hunde seiner Brüder taten. Dort, wo er lebte, bekamen kleine Jungen irgendwann einen Hund, der sie auf ihren Wegen durch die Savanne begleitete. Fayissas Familie gehörte zum Stamm der Borana. Die Boranas lebten als Nomaden im südlichen Äthiopien, nördlichen Kenia und manchmal im Sudan. Sie kümmerten sich von jeher um keine Grenze. Wenn es an der Zeit war, rissen sie ihre Hütten ab und errichteten sie an einem anderen Ort. Wichtig war Gras für die Ziegen, eine Wasserquelle nicht allzu weit weg vom Dorf und Reisig für den Bau der Hütten. Zu jener Zeit lebte die Familie in Äthiopien, aber das wusste Fayissa nicht. Er war zu jung, um schon einmal einen Umzug mitgemacht zu haben. Wie jung er war, wusste er ebenfalls nicht. Niemand in seinem Dorf wusste, wie alt er oder seine Kinder waren. Niemand schrieb es auf, denn niemand konnte schreiben. Geburtstage feierte man nicht, jeder Tag war ein Tag, an dem Leben gefeiert und geehrt wurde. Manchmal erinnerte man sich an eine Geburt, die kurz vor dem großen Regen stattgefunden hatte. Oder kurz danach? Es war nicht wichtig.
Die kleinen Kinder in der Savanne liefen so lange nackt herum, wie ihre Haut glatt war. Wenn sich erste Schamhaare zeigten, bekamen sie Kleidungsstücke. Wenn die Mädchen zu bluten begannen, waren sie alt genug, um zu heiraten. Wenn die Jungen ihr erstes Tier erlegten, taten sie einen großen Schritt auf dem Weg zum Mann. So wurde das Alter in der Savanne gemessen. Für ein Savannenkind gab es viele kleine Schritte auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Ein solcher Meilenstein war ein eigener Hund.
Die Tage in Fayissas Leben glichen sich. Zum Frühstück tranken er und seine Geschwister gemeinsam eine Tasse Milch. Seine Schwestern begannen mit Taju, der Mutter, das Tagwerk: Ziegen melken, Wasser holen, Wäsche waschen, Mais stampfen und zu Brei kochen - schließlich waren dreizehn Kinder zu versorgen. Seine größeren Brüder trieben die Ziegen auf die Weide. Nur die kleinsten Jungs hatten keine Pflichten. Sie verließen die Hütte der Familie in einer Formation von groß nach klein: Doyo, Wako und Fayissa. Mit dabei waren immer Doyo-Hund und Wako-Hund, wie sie zur Unterscheidung genannt wurden. Bloß Fayissa hatte keinen. Taju hatte auf seinen Wunsch bisher immer geantwortet: »Wenn du größer bist, bringt Vater einen Hund für dich mit.«
Deshalb erwartete Fayissa seinen Vater jedes Mal sehr ungeduldig, wenn dieser - oft nach Wochen oder Monaten - nach Hause kam. Sein Vater war nicht oft zu Hause, denn er hatte zwei weitere Frauen mit mehreren Kindern. Und wenn er nicht dort lebte, war er auf der Fora. So wurde die Zeit genannt, in der die Männer gemeinsam ihre Rinderherden in weit entfernte Gebiete trieben und dort unter freiem Himmel lebten, solange die Wiesen genug zu fressen für die Tiere boten.
Heute war alles anders. Fayissa und seine Brüder zogen am Morgen nicht los, denn seine Schwester Kabale heiratete und das ganze Dorf war in aufgeregter Vorfreude beschäftigt. Seit Tagen bereiteten die Dorfbewohner das große Fest vor. Die Männer hatten ein Rind geschlachtet und das Fell des Tiers zum Trocknen ausgelegt. Die Frauen stampften Mais, kochten Fleisch und rührten Milch für Joghurt und Frischkäse. Die Speisen füllten sie in feuchte Tontöpfe und stellten sie in schattige Erdlöcher unter Akazienbäumen.
Fayissa stand mit den anderen Kindern des Dorfes einige Meter entfernt von der Braut und bestaunte seine Schwester. Kabale saß in einem farbenfrohen neuen Kleid auf einem Stein. Mit schüchternem Blick ließ sie die Prozeduren der Frauen über sich ergehen, die sich hauptsächlich mit ihrer Frisur beschäftigten. Fayissa roch die Butter, mit der das Haar Kabales eingerieben wurde. Immer wieder zupften die Frauen an den Haaren, bändigten eine widerspenstige Strähne und strichen erneut Butter darauf. Dabei erinnerten sie sich singend an frühere Hochzeiten, ihre eigenen und die der anderen Frauen des Dorfes. Ihre Lieder priesen das künftige Paar und wünschten ihm viele Kinder. Für die Braut erhofften sie viele Söhne. Frauen vom Volk der Borana wünschten sich viele Söhne, denn mit jedem männlichen Nachkommen stieg ihr Ansehen in der Gemeinschaft. Männer hingegen wünschten sich Mädchen, die sie gegen Rinder eintauschten, sobald sie alt genug zum Heiraten waren.
Halake, der Bräutigam, und sein Vater kamen mittags mit einer Rinderherde. Vor Monaten hatten sie die Familie zum ersten Mal besucht, weil Halake Kabale zur Frau nehmen wollte. Nachdem Kabales Vater herausgefunden hatte, dass es in der Familie des jungen Mannes keinen Feigling und keinen Lügner gab, hatte er weiteren Gesprächen zugestimmt. So waren der Bräutigam und sein Vater immer wieder gekommen, hatten Tücher für die Frauen und Kaffeebohnen für die ganze Familie mitgebracht, um die Stimmung bei den Verhandlungen zu heben. Die fanden nur dann statt, wenn der Vater zu Hause war, denn er entschied.
Die Erwachsenen hatten Milch und Kaffee getrunken, Buluk, in Milch gekochten Maisbrei, gegessen und dabei über den Zeitpunkt der Hochzeit gesprochen. Und über die Menge der Rinder, die Kabales Vater für seine Tochter erhalten würde. Geeinigt hatte man sich auf zwei Stock, zweihundert Tiere, mit denen sie jetzt ins Dorf kamen.
Heute wurden Halake und sein Vater mit Verneigungen und Kaffee begrüßt. Taju erzählte ihrem zukünftigen Schwiegersohn davon, wie Kabale sich um ihre kleinen Geschwister kümmerte und auch sonst alles gelernt hatte, was eine Frau können musste: Tiere versorgen, kochen, waschen, Hütten bauen. Bei all diesen Arbeiten stellte Kabale sich geschickt an und Taju war sehr stolz auf ihre Tochter. Das Ritual verlangte nach dem Gespräch mit der Brautmutter eines mit ihrem Vater, der seinen zukünftigen Schwiegersohn bat, seine Tochter immer gut zu behandeln. Bei alledem wurden wie immer Kaffee und Milch getrunken.
Fayissa, der mit seinen Geschwistern am Eingang der Hütte stand, wurde müde von den langen Ritualen. Endlich, als er schon meinte, die Hochzeit würde nie stattfinden, erhob sich die Gesellschaft und begab sich zu einem eigens für diesen Tag hergerichteten Platz. Das aufgeregte Wispern, das den ganzen Tag in der Luft gelegen hatte, verstummte, als der Vater kurz vor Einbruch der Dämmerung Kabales Hand in die Hand ihres Mannes Halake legte.
Von nun an war sie seine Frau. Von nun an würde sie nicht mehr in ihrer Familie leben. Sie würde in Halakes Dorf ziehen, Kinder bekommen und ein neues Leben beginnen. Ihr Lächeln, das am Vormittag noch zögernd gewesen war, wandelte sich zu einem echten Strahlen und sie war das, was sie sein sollte: Die schönste Frau des Tages, die von allen die meiste Aufmerksamkeit bekam.
So wollte Fayissa sie in Erinnerung behalten, der sich nicht vorstellen konnte, dass Kabale am nächsten Tag nicht mehr bei ihnen sein würde. Sie würde ihm morgens nicht mehr die Milch reichen und abends nicht den Maisbrei bereiten, wie sie es oft getan hatte, wenn Taju mit anderen Dingen beschäftigt war. Wer würde das jetzt für ihn tun?
Bis weit in die Nacht sangen und tanzten die Frauen um sie herum. Fayissa kauerte sich auf den Boden inmitten der Tanzenden und schloss die Augen. Er war es gewohnt, bei Einbruch der Dunkelheit zu schlafen, nicht selten fand seine Mutter ihn nach langen Tagen in der Savanne schlafend unter einer Akazie. Dann trug sie ihn in die Hütte, wo er sich ein Lager aus Tierfellen mit seinen Brüdern teilte. Die Mädchen schliefen auf dem Bett daneben. Als kleinster wurde Fayissa in der Mitte platziert, umgeben von der Wärme seiner Brüder, und Taju deckte sie mit einer Decke zu. An diesem Abend jedoch war der Gesang der Frauen seine Decke und bot Geborgenheit für einen ruhigen Schlaf.
Die Frauen besangen Waka, den Schöpfer aller Lebewesen. Sie dankten ihm für die Gesundheit der Tiere und der Familie und baten um ein langes und erfülltes Leben für das frischvermählte Paar.
Fayissa erwachte noch einmal kurz, als seine Mutter ihn zum Lager trug. Eingehüllt in den Geruch seiner Mutter sowie den von Feuer, Butter und Essen öffnete er für einen Moment seine Augen und sah das Brautpaar in die Hütte schlüpfen, die für diesen Anlass gebaut worden war.
Am nächsten Morgen verließ Kabale die Familie. Fayissa sah Tränen in den Augen seiner Mutter, doch als er sie danach fragte, sagte sie, es sei nichts. Auch Fayissas Augen füllten sich mit Tränen, doch er zwinkerte sie fort. Wenn seine Mutter nicht weinte, wollte er auch tapfer sein.
Wenige Tage später machte sich auch sein Vater wieder auf den Weg. Es würde Monate dauern, ehe er zurückkam. Vielleicht war Fayissa dann groß genug für einen Hund.
Nach der folgenden Regenzeit wechselte Fayissas Bruder Doyo in die Gruppe jener Jungen, die ihre Tage nicht mehr mit absichtslosem Spiel verbrachten. Er suchte nun tagtäglich mit den Ziegen die nahegelegenen Grasflecken auf, begleitet von seinem Hund. Es blieben Wako, Wako-Hund und Fayissa, die morgens die Hütte verließen, um den Tag mit der Jagd nach Schmetterlingen, Eidechsen und Vögeln oder dem Beobachten größerer Tiere zu verbringen.
Wako hatte sich schnell daran gewöhnt, jetzt der Anführer zu sein. Er bestimmte die Richtung und Fayissa folgte ihm. Manchmal trafen sie auf Löwen oder Geparde, hauptsächlich aber zogen Antilopen, Giraffen und Zebras in größeren Gruppen an ihnen vorbei. Die Jungen hatten sich Stöcke gesucht, die sie mit beiden Händen an den Enden anfassten und quer hinter ihren Schultern trugen - so wie es die Erwachsenen taten. Manchmal ließen sie sich...
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