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Meine Mutter würde man wohl gemeinhin als Problemfall bezeichnen, wobei sie hier auch nur ein Opfer ihrer Umwelt wurde.
Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, und hatte eine harte Kindheit.
Einiges weiß ich von Onkel Albert, anderes hatte mir meine Mutter selbst noch erzählt als ich ein Kind war.
Man darf Onkel Albert nicht immer alles glauben was er einem erzählt, er ist ein notorischer Lügner, was sicherlich auch damit zusammenhängt dass er kein richtiger Mensch ist.
Zumindest glaube ich das. Genau genommen weiß ich gar nicht ob Onkel Albert jemals ein Mensch war, aber dazu werde ich später noch mal kommen.
Ich wuchs also gemeinsam mit meiner Mutter bei Onkel Albert in einem Randbezirk von Berlin auf, was im Grunde gar nicht so schlecht war.
Meine Mutter trank zwar immer noch etwas viel, aber allen Anschein nach hatte es sich seit meiner Geburt etwas gebessert.
Sie sorgte dafür dass ich regelmäßig zum Arzt ging, alle Zahnarzttermine einhielt, und auch täglich in der Schule erschien.
Die Schule besuchte ich, natürlich nur bis zu meinem traurigen Dahinscheiden aus diesem "ersten Leben" im Berliner Bezirk Neukölln.
Wenn man es so sagen kann begann nach dem Unfall mein "zweites Leben".
Es wäre sicherlich etwas schräg gewesen wenn ich nur wenige Tage nach meinem Tod dort wieder aufgetaucht wäre.
Zu diesem Zeitpunkt, kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag stand ich nur wenige Monate vor meinem Hauptschulabschluss, also entschied ich mich kurzerhand für meinen Onkel Albert zu arbeiten.
Einen Job hätte ich mir in ein paar Monaten sowieso suchen müssen.
Wenn ich im Nachhinein an den Moment zurückdenke, als der Lkw unseren Kleinwagen rammte war meine Überlebenschance eigentlich gleich Null gewesen.
Ich hatte mich wie immer nicht angeschnallt, was sich im Nachhinein als fatal herausstellte.
Ich durchschlug die Frontscheibe und landete einige Meter weiter auf dem Asphalt.
Nüchtern betrachtet hat das Sterben weniger geschmerzt als man meinen sollte.
In manchen Nächten sehe ich immer noch die Scheinwerfer die auf uns zu rasen und mich aus dem Leben gerissen, aber ansonsten denke ich dass ich meinen Tod recht gut überstanden habe. Sicherlich wäre ich gerne noch etwas älter als fünfzehn geworden, aber ich habe mich letztlich damit abgefunden.
Zu anfangs stellte sich die Arbeit für Onkel Albert als ein wenig kompliziert heraus.
Ich bin ein Taker. Genauer gesagt eine Takerin, wenn wir politisch korrekt bleiben wollen.
Im Laufe der Zeit habe ich durchaus Gefallen an meiner Arbeit gefunden, schließlich ist sie immens wichtig, jedenfalls behauptet dies Onkel Al.
Meine einzige Aufgabe besteht darin verstorbenen Seelen den Übergang in das Leben danach zu erleichtern.
Ich helfe ihnen den Weg ins Licht, oder. naja ober eben nach unten zu finden.
Wie ihr euch sicherlich vorstellen könnt, kommt nicht jeder ins Licht, so bezeichne ich es gerne. Ich vermeide es wenn möglich vor, und mit meinen Klienten über einen Himmel, Nirwana oder was auch immer zu sprechen. Ich nenne es einfach das Licht.
Glaubt mir das erleichtert einem vieles.
Dabei ist es völlig egal ob ihr Christen, Muslime, Orthodoxe, Juden, Hindu oder einer der sonstigen Religion angehört haben. Am Ende sind wir alle gleich. Naja, bis auf mich, denn ich bin nun mal anders.
Warum das so ist, konnte mir bisher noch niemand erklären. Auf mir lastet kein Jahrtausender alter Fluch, und ich bin auch nicht "Die Auserwählte" oder so, ich bin einfach eine die den Tod überlebt hat.
Zurück zum Sterben.
Wenn ihr euer irdisches Leben beendet habe, komme ich ins Spiel.
Meist verbringe ich den Tag in einem Café, oder sitze sonst wo herum.
Viele Freunde hab ich nun ja nicht mehr. Es wäre sicherlich auch schwierig mit einer toten befreundet zu sein.
Das man Tot ist hat auch einige Vorteile müsst ihr wissen.
Zum Beispiel werde ich niemals müde, das hilft mir dann wenn ich nachts arbeiten muss.
Da ich für Onkel Albert arbeite weiß ich natürlich immer wann ich wo zu erscheinen habe. Das macht die Sache mit dem abholen ein wenig einfacher.
Das ganze läuft bei uns folgendermaßen ab:
Meistens findet er mich. Egal wo ich mich gerade aufhalte, urplötzlich erscheint er neben einem, was zuweilen schon etwas seltsam sein kann.
Manchmal ist er getarnt, manchmal trägt er einfach seinen dunklen Anzug, wobei ich mir nicht ganz sicher bin ob das nicht auch eine Art Tarnung ist.
Er hat dann meist eine kleine Liste mit Namen und Daten dabei die er mir in die Hand drückt.
Ich hab ihn mal eines Tages gefragt ob das nicht etwas altmodisch sei, und er das Ganze nicht in digitaler Form einfach auf mein Smartphone schicken könne.
Er hat nur lauthals gelacht, und gesagt das würde aus Datenschutzgründen nicht gehen.
Auf dieser Liste stehen meist nur ein Name, eine Uhrzeit und ein Ort.
Ein Name eines ganz normalen Menschen, der an diesem Tag sein Leben verlieren wird.
Ein Ort an dem dieser Mensch zu Tode kommt. Und eine Uhrzeit an dem die letzte Stunde dieses Menschen geschlagen hat.
Meist sind es ganz normale Menschen, aber ab und an trifft es auch mal einen Prominenten.
Ein Superstar aus dem Fernsehen wie Thomas Gottschalk oder Günther Jauch, hatte ich noch nie, wobei einmal ein Schauspieler auf meiner Liste stand, der wohl in den frühen Siebziger und dann noch mal in den Achtzigern relativ bekannt gewesen war. Es hatte ihn hart getroffen dass er ausgerechnet auf der Toilette einen Herzanfall erlitten hatte, und nicht wie er sich immer gewünscht hatte auf einer vollbusigen, Blondine, aber so ist das Leben. Oder besser gesagt, das Sterben.
Im ersten Moment konnte er es erst gar nicht glauben.
Eine Reaktion die mir immer wieder begegnet. Er dachte wohl ich mache einen Scherz mit ihm. Andauernd hat er sich umgedreht, und nach einer versteckten Kamera gesucht. Erst als ich ihm dann seinen leblosen Körper mit dem aschfahlen Gesicht auf dem kalten Fußboden gezeigt hatte, musste er es sich eingestehen. Immerhin nahm es doch noch ein gutes Ende mit ihm. Er durfte nach oben.
Falls das ein Trost für sie dort draußen ist; es gehen mehr Leute hinauf als hinunter.
Wobei ich mit manchen Entscheidungen nicht immer ganz einverstanden bin.
Ich erinnere mich an einen Vorfall, der mich noch bis heute beschäftigt und der mir auch nach langer Zeit einfach keine Ruhe lässt.
Der Name des Mannes war Erik Tümmler. Ein glatzköpfiger Fetter Mensch, der sein Leben damit verbrachte Nachbarskinder zu schikanieren, jungen Mädchen hinterher zu starren und überhöhte Mieten für ein paar Drecklöcher zu kassieren in denen Flüchtlingsfamilien untergebracht waren.
Die meisten Wohnungen besaßen weder fließend warmes Wasser, noch eine funktionierende Heizung, und wenn sich eine der Vermieterinnen doch mal beschwerte drohte er direkt mit der Polizei.
Dabei würden ihm mehr Probleme drohen als seinen Mietern.
Und nur weil so ein Mistkerl jeden Sonntag brav in die örtliche Kirche ging und dort seine Sünden gestand sollte er ins Licht kommen?
No way! Keine Chance! Nicht mit mir.
Durch Onkel Albert wusste ich genau wann seine Zeit gekommen war, und wann es für ihn an der Zeit war hinüber zu wechseln.
Ich würde lügen wenn es mich nicht innerlich freute als ich seinen Namen eines Morgens auf dem Zettel las.
Also begleitete ich ihn an diesem Tag etwas länger als meine üblichen Klienten.
Ich wollte wissen wie er zu Tode kommt. Vielleicht dachte ich mir, würde mir das eine besondere Befriedigung geben, aber dem war leider nicht so.
Es war um die Mittagszeit als er sich an der Currywurstbude in seinem Kiez eine rote Currywurst bestellte, und diese mehr hinunter schlang als wirklich zu essen.
Ich kann heute noch die dickflüssige rote Soße sehen die seine Lippen umschlossen. Er trank sein Bier aus und ging nach Hause. Dort erlitt er auf der Couch liegend einen koronaren Herzinfarkt in Folge dessen er verstarb.
Als ich ihm die traurige Nachricht seines Todes übermittelte war er ganz perplex.
"Aber, aber" hat er rum gestottert, und dann gefragt was denn jetzt aus ihm würde.
"Na ja" hab ich zu ihm in meiner lieblichsten Stimme gesagt, das kommt ganz darauf an ob er ein gutes Leben gehabt habe, und ob er sich stets bemüht hat nett zu seinen Mitmenschen zu sein. Darüber musste er lange und ausgiebig nachdenken.
"Ich weiß nicht" sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich.
"Ich schätze ich war ganz ok."
Das sind genau die Momente in denen ich manchmal dankbar für meinen Job bin.
Plötzlich erschien ein grelles Licht an der Stelle an der Sekunden zuvor noch das Fenster von Erik Tümmler gewesen war.
Geschickt legte ich meinen kurzen Arm um seine Massige Hüfte und manövrierte ihn ganz sachte weg von dem Licht.
"Wenn sie das meinen" sagte ich zu ihm und führte ihn in sein noch viel spärliches Schlafzimmer.
Ich half ihn in eine Unterhose, und in eine bequeme Sporthose, zog ein T-Shirt aus dem Schrank und reichte es ihm.
"Sie müssen sich was anziehen."
"Aber warum, ist das denn nicht egal wenn ich doch jetzt schon tot bin"
"Für sie vielleicht, aber sicherlich nicht für mich."
So verließen wir also seine Wohnung. Er ganz deprimiert, und ich penibel darauf achtend dass er nicht mehr in die Nähe des Fensters gelangte, und machten uns gemeinsam auf den Weg zu meinem nächsten...