Schweitzer Fachinformationen
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Im Jahr 1938, dem Jahr, als ich zwölf wurde, feierte meine Heimatstadt Macedonia in West Virginia ihr hundertfünfzigstes Jubiläum. In der Schule ehrten wir den Anlass entsprechend, so wie wir die meisten Anlässe ehren: mit lebenden Bildern, die wir auf der Bühne darstellen sollten, eines für jedes große Ereignis in der Geschichte Macedonias. Viele Ereignisse gab es nicht, kaum genügend, um sie über acht Klassenstufen aufzuteilen. Doch die Lehrkräfte ergänzten sie, so gut es eben ging. Hätte es den Sezessionskrieg nicht gegeben, ich weiß nicht, was sie getan hätten. Denn als sich Virginia von der Union lossagte, spielte das westliche Virginia verrückt, spaltete sich vom übrigen Virginia ab und kehrte sogleich wieder in die Union zurück, alle Bezirke - bis auf vier kleine, einer davon unserer, die West Virginia die Zunge herausstreckten und sich als Teil der Konföderierten Staaten von Amerika verstanden, eine Dreistigkeit, die noch jahrelange Auswirkungen auf unsere Straßenpflaster und Schulbänke nach sich ziehen sollte.
In einem Tal zwischen den beiden Flüssen Potomac und Shenandoah gelegen, war Macedonia gleichermaßen ein Knotenpunkt für Generäle wie auch für Eisenbahnschienen, und bis General Robert E. Lee in Appomattox kapitulierte, war die Stadt siebenundvierzig Mal in andere Hände übergegangen, sechs Mal davon innerhalb eines einzigen Tages. Unsere Lehrkräfte malten uns nur allzu gern bildlich aus, wie die Einwohner beim Einmarsch der Unionstruppen ihre Konföderiertenflaggen in den Kamin stopften und sie beim Abzug der Soldaten wieder herauszerrten. Die Viert-, Fünft- und Sechstklässler bekamen die Kriegsszenen, und die Siebt- und Achtklässler zogen den Kürzeren, weil nach 1865 rein gar nichts in Macedonia passiert war, außer, dass der Lokschuppen in die Luft geflogen war und die American Everlasting Strumpfwarenfabrik ihre Tore geöffnet hatte. Die halbe Stadt arbeitete in der Strumpfwarenfabrik, und die andere Hälfte wünschte es sich, aber es gab kaum etwas an der Fabrik, das sich für eins unserer lebenden Bilder eignete. Manchmal gaben die Lehrkräfte auf und schlugen zwei Fliegen mit einer Klappe, indem sie die Siebtklässler mit Strümpfen wedelnd über die Bühne marschieren ließen, während die Achtklässler hinter ihnen »The Star-Spangled Banner« sangen. 1938 zog die achte Klasse das große Los, weil Mrs. Roosevelt durch die Stadt fuhr. Sie hielt auf dem Marktplatz an, trank von dem aus einer Schwefelquelle gespeisten Brunnen, schnitt eine Grimasse und brauste davon. Das reichte völlig für ein Bild, bloß dass die Mrs. Roosevelt der achten Klasse keine Grimasse schnitt, sondern sagte: »Die Einwohner von Macedonia können sich glücklich schätzen, die Vorzüge von gesundem Mineralwasser zu genießen.« Meine Schwester Bird und ich lachten so heftig, dass wir aus dem Saal geschickt wurden.
Sobald der Vorhang nach dem letzten Bild gefallen war und man uns zurück in die Klassenzimmer getrieben hatte, ging ich davon aus, dass die Feierlichkeiten zu Macedonias Hundertfünfzigjahrfeier zu Ende waren. Hatten wir nicht eben einhundertfünfzig Jahre Geschichte in gerade einmal dreiundzwanzig Minuten abgehandelt? Jawohl. Aber nicht einmal eine Woche später folgte die Parade am Decoration Day, und das war der eigentliche Beginn der Hundertfünfzigjahrfeier, wie mir später bewusst wurde. Noch später wurde mir klar, dass alles an diesem Tag begann. Alles, was sich im Laufe des Sommers aus seinen Fundamenten lösen würde, fing am Morgen der Parade leicht zu wackeln an. Damals hörte ich zum ersten Mal von Layla Beck, ich begann, meinen Vater infrage zu stellen, und als ich bemerkte, welche Lügen man mir auftischte, entschied ich, meine Kindheit hinter mir zu lassen. Natürlich habe ich mich seitdem gefragt, inwiefern mein Leben - und auch das meines Vaters und meiner Tante Jottie - anders verlaufen wäre, hätte ich an jenem Morgen beschlossen, zu Hause zu bleiben. Das bezeichnet man als das Rätsel der Geschichte, und es kann einen um den Verstand bringen, wenn man solche Gedanken zulässt.
Jottie und ich standen an jenem Morgen zusammen mit jedem anderen aus der Stadt dicht gedrängt auf dem Bürgersteig, um uns die Parade anzusehen. Gewöhnlich machte sie nicht viel her, die Parade am Decoration Day, sondern bestand lediglich aus verschiedenen grimmig dreinblickenden Kriegsveteranen und der Marschkapelle der Highschool. Aber in diesem Jahr, zu Ehren der Hundertfünfzigjahrfeier, hatte man uns eine besonders aufwändige Vorführung versprochen, ein echtes Spektakel. Und genau das bekamen wir geboten: Die Blaskapelle stimmte patriotische Melodien an, was für vier Trompeten nicht ganz einfach war und schreckliche Auswirkungen auf die Ponybrigade hatte. Die Veteranen marschierten vorüber, zwei spärlich gekleidete Mädchen wirbelten Tambourstöcke in die Luft, ganz genau wie in einer Parade im Film, bloß dass nur eines von ihnen die Stäbe wieder auffing. Wir hatten sogar einen Festzugswagen, die »Apfelprinzessin und ihre Blüten«, die von der Ladefläche eines Lasters herunterlächelte. Und dann kam der Bürgermeister, der aus seinem großen grünen Wagen winkte, und hinter ihm Mr. Parker Davies, der sich mit Schwert und Kniebundhose als General Magnus Hamilton verkleidet hatte, der Gründer von Macedonia, sodass mir eine Frage in den Sinn kam, die ich schon immer hatte stellen wollen. Ich stieß meine Tante Jottie an. »Wieso hat er die Stadt Macedonia genannt?«
Sie richtete ihre dunklen Augen auf mich. »Der General war ein großer Bewunderer der Makedonischen Tugenden.«
»Hä?« Das war mir neu. »Und was sind das, die Makedonischen Tugenden?«
»Sag nicht hä. Entschlossenheit und Hingabe.« Die Apfelprinzessin schunkelte vorüber. Es war Elsie Averill in einem weißen Kleid. Eine Dame, die direkt hinter mir stand, beugte sich vor, um besser sehen zu können, und mir stieg ein starker Hauch des Parfums Jungle Gardenia in die Nase.
Ich drückte mich dichter an Jottie. »Hatte er sie?«, fragte ich.
Jotties Augen folgten Elsie kurz. »Hatte er was?«, murmelte sie.
»Jottie!«, rief ich. »Hatte General Hamilton die Makedonischen Tugenden?«
»Der General?« Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Einmal hat der General einem Soldaten die Zehen abgehackt, um den armen Mann am Desertieren zu hindern. Sag du es mir, Willa: Ist das Entschlossenheit, Hingabe oder einfach nur blanker Wahnsinn?«
Ich betrachtete Mr. Parker Davies und stellte mir sein blutverschmiertes Schwert hoch erhoben vor, auf der Spitze einen kleinen Zeh aufgespießt. Das war Entschlossenheit, da war ich mir ziemlich sicher. »Habe ich sie?«, fragte ich hoffnungsvoll.
Jottie lächelte. »Entschlossenheit und Hingabe? Die willst du haben?«
»Es sind Tugenden, nicht wahr?«, fragte ich.
»Ganz bestimmt. Mit Entschlossenheit, Hingabe und einem Fünfcentstück kannst du dir eine Tasse Kaffee im Pickus Café kaufen.«
Ich verzog das Gesicht, und sie lachte. Die Parade marschierte vorüber, machte kehrt und trottete die Prince Street zurück.
Ich überlegte, dass ich vielleicht mehr Glück in Sachen Hingabe hatte.
Die Handelskammer von Macedonia wendete und marschierte vorüber, acht Männer in völlig identischen hellbraunen Hüten und Mänteln. Sie sahen wie ein Satz gleicher männlicher Puppen aus, nur mit peinlich berührter Miene. Jottie lachte glucksend und ließ ihre kleine Flagge flattern. »Hurra!«, jubelte sie. »Ein Hoch auf unsere wackeren Männer von der Handelskammer!«
Alle außer einem taten so, als würden sie sie nicht hören. »Jottie?«, fragte der eine und wirbelte herum. Jottie sog scharf die Luft ein, und auf ihren Wangen erschienen zwei rosafarbene Flecken. Sie machte Anstalten, die Hand zu heben, ließ sie dann wieder sinken, überlegte es sich erneut anders und hob sie zu einem zaghaften Gruß. Das gab dem Mann Auftrieb. Er grinste jetzt wie verrückt und obwohl sich die Parade wieder in Bewegung setzte, rief er ihr zu: »Ich hatte gehofft, dich heute zu sehen, Jottie, ich habe mir gedacht, vielleicht könnte ich .«
Da stieß ein Mann von hinten mit ihm zusammen und er musste weitermarschieren, aber er drehte sich beim Gehen immer wieder um und winkte ihr zu.
»Wer war das?«, fragte ich. Da ich keine Antwort bekam, stupste ich sie an. »Wer war das, Jottie?«
»Sol«, sagte sie. »Sol McKubin.« Sie öffnete die Handtasche und kramte darin herum. »Heute Morgen war hier noch ein Taschentuch drin.«
Und damit wäre die Sache erledigt gewesen, wenn hinter mir nicht leises Lachen erklungen wäre. Es war Mrs. Jungle Gardenia. »Tststs, bloß gut, dass der alte Felix nicht hier ist«, johlte sie leise vor sich hin.
Was? Ich wirbelte herum, weil ich mich fragte, wer sie war und woher sie meinen Vater kannte.
Sie sah nicht wie jemand aus, den er kennen würde. Sie trug ein Kleid, das normalerweise nur junge Mädchen trugen, obwohl sie kein junges Mädchen mehr war, und ihr Gesicht war vor Puder ganz weiß. Als sie merkte, dass ich sie anstarrte, hob sie mehrmals die aufgemalten Augenbrauen. Ich drehte mich schnell wieder zu Jottie zurück.
»Jottie«, sagte ich und stieß sie erneut an. »Wer ist Sol McKubin?«
»Ist das dort auf der anderen Straßenseite Miss Kissining?« Jottie warf einen Blick auf den gegenüberliegenden Bürgersteig. »In dem getupften Kleid?«
Ich sah hin. Es war genauso wenig Miss Kissining, wie es das Lindbergh-Baby war. »Bist du blind, Jottie?«, setzte ich spöttisch an, wurde aber von der Blaskapelle übertönt, die ein letztes Mal »The Battle Hymn of the Republic« aufspielte. Die Parade war zu...
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