Rechts von der Straße konnte man die Loire sehen, den Königsfluss, wie sie von Dichtern und Schriftstellern genannt wurde, und drüben, auf dem gegenüberliegenden Ufer in der Ferne, lag der Gutshof mit seinen weiten Feldern und Wäldern. Es war ein majestätischer Ausblick, der sich ihren Augen bot, und die alten Erinnerungen übermannten sie auf einmal.
Marie bog langsam ein, fuhr über die alte Brücke und kam am Château Chandor an. Vor ihr breitete sich eine unglaubliche Landschaft aus. Die Weingärten erstreckten sich bis zum Horizont, der kristallblaue Himmel schmolz irgendwo in der Ferne mit dem Fluss zusammen, die Luft war frisch, kühl, vom Duft ihrer Kindheit durchdrungen. Sie lächelte, fuhr mit der Hand durch ihre blonden Haare, atmete tief ein und schloss die Augen: Wenn sie nur dieses harmonische Gefühl für immer behalten könnte! Zum ersten Mal seit zwei Jahren war sie wieder zu Hause.
Der Gutshof Chandor hatte eine lange Geschichte: Ende des siebzehnten Jahrhunderts erbaut, befand er sich schon seit mehr als vierhundert Jahren im Besitz der Familie Louvière, die einige der besten französischen Weißweine der Rebsorte Sauvignon Blanc produzierte.
Das Schloss war das ganze Leben ihres Vaters gewesen. Alles sah noch so aus, wie sie es in Erinnerung hatte - als ob die Zeit stehen geblieben wäre, ihr Vater noch da wäre und sich liebevoll um alles kümmerte und als ob er jeden Augenblick mit dem Traktor eingefahren käme und sie in die Arme nehmen würde. Es war aber unmöglich, dass sich alles wiederholte, es wäre einfach zu schön gewesen, um wahr zu sein.
Sie warten vielleicht schon auf mich, dachte Marie und ging mit schnellen Schritten auf das große steinerne Gebäude zu. Die Eingangstür öffnete sich und eine kleine, mollige, wie eine Hauswirtschafterin gekleidete Frau trat vor und rief fröhlich aus:
»Marie, mein Kind, endlich bist du wieder da!«
»Hallo, Rose, komm, lass dich umarmen!« Marie nahm die ältere Frau sanft in die Arme. »Gut siehst du aus. Wo ist Mama?«
»Christine ist im Wintergarten. Sie wartet schon auf dich seit dem frühen Morgen und wollte endlich etwas Ablenkung. Los, lauf zu ihr, Mädchen! Ich kümmere mich um dein Gepäck, jemand wird es ins Haus bringen.«
Marie beeilte sich zum Wintergarten, der sich in einem Nebengebäude des Schlosses befand. Sie erreichte die Tür und öffnete sie.
»Mutter, Mutter!«
In der entlegenen Ecke neben den großen Zitronenbäumen pflanzte Christine auf einem kleinen Tisch gerade Frühlingsblumen an. Sie war mittelgroß, schlank und hatte strohblonde Haare, die sie im Nacken zu einem Dutt zusammengebunden trug. Sie richtete sich abrupt auf, ihr Gesicht erhellte sich, ihre Augen strahlten.
»Mein Kind, mein liebes Kind!« Christine stürmte zur Tür, umarmte Marie fest und hielt sie lange an ihrer Brust. »Mein Gott, wie ich dich vermisst habe! Komm, lass mich dich ansehen. Du siehst wunderbar aus.«
»Du hast mir auch gefehlt, Mama. Sehr sogar.«
Hand in Hand gingen die beiden zum Haus.
»Jetzt wird Tee getrunken und du erzählst mir, wie es dir geht«, schlug Christine vor, strahlend vor Glück.
Vor dem großen Esszimmer hielt Marie inne. Über dem Kamin sah sie das große Foto - ihr Vater gab ihr Schwung in der Schaukel, die er zu ihrem achten Geburtstag selbst zusammengebastelt hatte. Ihr Blick streifte auch über die anderen Bilder, ihre Augen wurden nass.
»Ich kann mich immer noch nicht an diesen Gedanken gewöhnen, Mama, ich will es einfach nicht wahrhaben, dass Papa nicht mehr da ist, dass er nie wieder zurückkommt.«
Sie ließ sich auf das Sofa nieder, umfasste ihren Kopf mit den Händen und beugte sich nach vorn. Christine setzte sich zu ihr, streichelte ihr sanft über den Rücken und versuchte sie zu beruhigen:
»Weine nicht, mein Kind. Papa wird immer mit uns sein. Wir tragen ihn in unseren Herzen. Er hatte dich sehr lieb und hätte nicht gewollt, dass du leidest. Egal, wie schwer es ist, du musst lernen, mit diesem Schmerz und mit dieser Leere in deiner Seele weiterzuleben und stark zu sein.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür.
»Tee ist fertig«, verkündete Rose mit feierlicher Stimme. »Und dein Lieblingszitronenkuchen auch, Marie«, lächelte sie höflich, servierte den Tee und fuhr mit belehrendem Ton fort: »Na, wie steht's also um dich, junges Fräulein? Wo steckt dein Marc, wann stellst du ihn uns vor?«
Sie schaute verschwörerisch zu Christine hinüber, die mit einem Lächeln fragte:
»Und, habt ihr schon über die Hochzeit geredet?«
Marie lächelte:
»Ach, Rose, ich habe mich schon gewundert, dass du mit dieser Frage so lange gewartet hast!«
Marie kostete vom Kuchen, er war einfach fantastisch. Sie kannte Rose und ihren Mann François, seit sie denken konnte. Die beiden waren schon seit vielen Jahren im Schloss beschäftigt, Rose war Hauswirtschafterin und François verwaltete die Schlosskellerei und die Weingärten. Sie standen den Louvières sehr nahe und wurden von der Familie nicht als Bedienstete, sondern vielmehr als Teil der Familie betrachtet. Nach dem Tod von Phillippe Louvière blieben sie die Einzigen, auf die sich Christine verlassen konnte. Sie waren schon im Rentenalter, deshalb hatten sie nicht mehr so viele Aufgaben auf dem Schlosshof wie früher. Die beiden wohnten im ersten Stock des Gebäudes. Familie Lemar hatte einen Sohn, André. Er und Marie waren zusammen aufgewachsen, er war fünf Jahre älter als sie. Als kleine Kinder hatten sie oft in den Weingärten herumgetobt, im Wald Versteck gespielt, waren im Fluss baden gegangen, hatten ihre Zeit wunderbar verbracht und waren wie Geschwister gewesen.
»Naja, was soll ich sagen .«, begann Marie. »Eine Hochzeit wird es bestimmt geben. An einen genauen Tag haben wir noch nicht gedacht, aber es wird wahrscheinlich im August sein. Zurzeit hat Marc ziemlich viel um die Ohren, er steht kurz vor dem Abschluss eines großen Geschäfts. Er beschäftigt sich mit Immobilien und so, wie die Dinge jetzt auf dem Markt laufen, muss man vor jeder Entscheidung alles bis ins kleinste Detail prüfen.«
Marie holte tief Luft, atmete schwer aus und fragte sichtlich gereizt:
»Sonst noch irgendwelche Fragen?«
»Aber wieso denn?« Rose zog die Augenbrauen zusammen. »Ist es nicht ein bisschen voreilig, bist du dir sicher, dass er der Richtige ist, habt ihr euch das gut überlegt? Immerhin ist es eine Entscheidung fürs Leben, obwohl ihr als junge Menschen das nicht unbedingt so seht.«
»Rose, er ist reich, schön und schwört, dass er mich liebt. Worin soll ich mir sicher sein? Was braucht eine Frau mehr, um glücklich zu sein?«
»Ach, mein Kind«, seufzte Christine, versuchte zu lächeln und fuhr fort: »Keiner der Gründe, die du genannt hast, ist schwerwiegend genug, um eine solche Entscheidung zu treffen. Aber du hast es dir bestimmt gut überlegt und weißt, was du tust. Erlaube jetzt deiner alten Mutter, dir etwas zu sagen. Die Liebe, mein Mädchen, ist ein Segen, nur sie allein kann dich durch die Wirrnisse des Lebens bringen, und nur sie kann dir eine Stütze sein auf dem Weg, der mit viel Freude, aber auch mit vielen Schwierigkeiten und Hindernissen übersät ist, von denen du nichts geahnt hast und auf die du nicht vorbereitet bist. Das Leben, Marie, ist unvorhersehbar, man kann nie wissen, welche Überraschungen das Schicksal für uns bereithält. Wichtig ist, dass der Mann an deiner Seite dich unterstützt und achtet. Alles andere ist vergänglich und unbeständig.«
Marie wurde nachdenklich, sagte aber nichts. Sie nippte an ihrem Tee. Dieser unglaubliche Duft und der unverwechselbare Geschmack riefen sehr angenehme Gefühle in ihr hervor. Sie entspannte sich, sie war wieder zu Hause. Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann ging Marie auf ihr Zimmer.
Rose war dabei, das Teegeschirr wegzuräumen, hielt kurz inne und wandte sich an Christine:
»Wie findest du sie? Diese Heirat kommt mir ein bisschen zu schnell vor, was meinst du?«
»Ich weiß es nicht. Diese Nachricht hat mich unvorbereitet getroffen; obwohl die beiden schon seit längerer Zeit zusammenleben, hat sie ihn kein einziges Mal hierhergebracht. Sie schien mir etwas angespannt, warten wir bis heute Abend ab. Sie weiß ja nicht, dass André zurück ist, das wird eine große Überraschung für sie sein. Die beiden standen sich schließlich sehr nahe.«
»Ja, sehr nahe, zu nahe sogar, bis André diese Giftschlange Natalie kennengelernt hat.« Rose ging zur Küche und hörte nicht auf, halblaut vor sich hin zu schimpfen.
Christine blieb noch einige Zeit da, in Gedanken versunken, dann zog sie sich auf ihr Zimmer zurück.
Marie lag in ihrem großen Bett und starrte auf die Decke. Das Zimmer war geräumig und hell, stilvoll eingerichtet, alles darin trug die typischen Züge der Renaissance. An die Wände waren herrliche Bilder gemalt: Schöne Frauen in seidenen Kleidern spazierten in den Parkanlagen und um die Wasserbrunnen von Schloss Versailles herum, in eleganter männlicher Begleitung. Schwere Samtgardinen in Blassrosa verliehen dem Raum zusätzlichen Charme. Alte weiße Möbelstücke mit goldfarbenen Ornamenten erinnerten an die lange Vergangenheit von Schloss Chandor. Auf der großen Kommode standen die Lieblingspuppen und Lieblingsstofftiere von Marie. Vor dem großen Kosmetikschrank konnte sich jede noch so anspruchsvolle Dame bequem herrichten, darüber war an der Wand ein schöner ovaler Spiegel mit reich dekoriertem Rahmen aufgehängt. Auf dem...