Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Letztes Jahr im November hat ein Buch mein Leben gerettet. Ich weiß, das klingt jetzt sehr unwahrscheinlich. Manche mögen es gar für überspannt halten, wenn ich so etwas sage, oder melodramatisch. Und doch war es genau so.
Dabei hatte nicht einmal jemand auf mein Herz gezielt, und die Kugel wäre wundersamerweise in den Seiten einer dicken, in Leder gebundenen Ausgabe von Baudelaires Gedichten stecken geblieben, wie man es manchmal in Filmen sehen kann. So ein aufregendes Leben führe ich nicht.
Nein, mein dummes Herz war bereits vorher verwundet worden. An einem Tag, der wie jeder andere zu sein schien.
Ich erinnere mich noch genau. Die letzten Gäste im Restaurant - eine Gruppe von ziemlich lauten Amerikanern, ein diskretes japanisches Paar und ein paar diskutierwütige Franzosen - waren wie immer lange sitzen geblieben, und die Amerikaner hatten sich nach dem Gâteau au chocolat mit vielen «Aaahs» und «Ooohs» die Lippen geleckt.
Suzette hatte, nachdem der Nachtisch serviert war, wie immer gefragt, ob ich sie wirklich noch brauche, und war dann glücklich davongeeilt. Und Jacquie war wie immer schlecht gelaunt gewesen. Dieses Mal hatte er sich über die Essgewohnheiten der Touristen ereifert und die Augen verdreht, während er die leergefegten Teller scheppernd in die Spülmaschine warf.
«Ah, les Américains! Verstehen nichts von französischer Cuisine, rien du tout! Essen immer die Dekoration mit - warum muss ich für Barbaren kochen, ich hätte gute Lust, alles hinzuschmeißen, es macht mir schlechte Laune!»
Er hatte sich die Schürze losgebunden und mir beim Hinausgehen sein bonne nuit entgegengebrummt, bevor er sich auf sein altes Fahrrad schwang und in der kalten Nacht verschwand. Jacquie ist ein großartiger Koch, und ich mag ihn sehr, auch wenn er seine Griesgrämigkeit vor sich herträgt wie einen Topf Bouillabaisse. Er war schon Koch im Temps des Cerises, als das kleine Restaurant mit den rot-weiß gewürfelten Tischdecken, das etwas abseits vom belebten Boulevard Saint-Germain in der Rue Princesse liegt, noch meinem Vater gehörte. Mein Vater liebte das Chanson von der «Zeit der Kirschen», die so schön ist und so schnell vorbei, dieses zugleich lebensbejahende und etwas wehmütige Lied über Liebende, die sich finden und wieder verlieren. Und obwohl sich die französische Linke dieses alte Lied später zur inoffiziellen Hymne erkoren hat, als ein Bild für Aufbruch und Fortschritt, glaube ich, dass der wahre Grund, weshalb Papa sein Restaurant so nannte, weniger dem Gedenken an die Pariser Kommune geschuldet war, sondern ganz persönlichen Erinnerungen.
Dies ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, und wenn ich nach der Schule mit meinen Heften in der Küche saß, umgeben vom Geklapper der Töpfe und Pfannen und von tausend verheißungsvollen Gerüchen, konnte ich sicher sein, dass Jacquie immer eine kleine Leckerei für mich hatte.
Jacquie, der eigentlich Jacques Auguste Berton heißt, kommt aus der Normandie, wo man bis zum Horizont sehen kann, wo die Luft nach Salz schmeckt und das endlose Meer, über dem Wind und Wolken ihr rastloses Spiel treiben, dem Auge nicht den Blick verstellt. Mehr als einmal am Tag versichert er mir, dass er es liebt, weit zu gucken, weit! Manchmal wird ihm Paris zu eng und zu laut, und dann sehnt er sich an die Küste zurück.
«Wer einmal den Geruch der Côte Fleurie in der Nase hat, wie kann der sich in den Pariser Abgasen wohlfühlen, sag mir das!?»
Er wedelt mit dem Fleischmesser und schaut mich vorwurfsvoll mit seinen großen braunen Augen an, bevor er sich mit einer ungeduldigen Bewegung die dunklen Haare aus der Stirn wischt, die mehr und mehr - ich sehe es mit einer gewissen Rührung - von silbrigen Fäden durchzogen sind.
Es ist doch erst ein paar Jahre her, dass dieser stämmige Mann mit den großen Händen einem vierzehnjährigen Mädchen mit langen dunkelblonden Zöpfen gezeigt hat, wie man die vollkommene Crème brûlée zubereitet. Es war das erste Gericht, mit dem ich meine Freundinnen beeindruckte.
Jacquie ist natürlich nicht irgendein Koch. Als junger Mann hat er in der berühmten Ferme Saint-Siméon gearbeitet, in Honfleur, der kleinen Stadt am Atlantik mit diesem ganz besonderen Licht - Fluchtpunkt der Maler und Künstler. «Das hatte schon etwas mehr Stil, meine liebe Aurélie.»
Doch soviel Jacquie auch schimpft - ich lächle still, weil ich weiß, dass er mich nie im Stich lassen würde. Und so war es auch in jenem letzten November, in dem der Himmel über Paris weiß wie Milch war und die Menschen mit dicken Wollschals durch die Straßen hasteten. Ein November, der so viel kälter war als alle anderen, die ich in Paris erlebt hatte. Oder kam mir das nur so vor?
Wenige Wochen zuvor war mein Vater gestorben. Einfach so, ohne Vorwarnung, hatte sein Herz eines Tages beschlossen, nicht mehr zu schlagen. Jacquie fand ihn, als er nachmittags das Restaurant aufschloss.
Papa lag friedlich auf dem Fußboden - umgeben von frischen Gemüsen, Lammkeulen, Jakobsmuscheln und Kräutern, die er morgens auf dem Markt gekauft hatte.
Er hinterließ mir sein Restaurant, das Rezept für sein berühmtes Menu d'amour, mit dem er angeblich vor vielen Jahren die Liebe meiner Mutter gewonnen hatte (sie starb, als ich noch sehr klein war, deswegen werde ich nie wissen, ob er nicht doch geschwindelt hat), und einige kluge Sätze über das Leben. Er war achtundsechzig Jahre alt, und ich fand das viel zu früh. Aber Menschen, die man liebt, sterben immer zu früh, nicht wahr, egal, wie alt sie werden.
«Die Jahre bedeuten nichts. Nur was in ihnen geschieht», hatte mein Vater einmal gesagt, als er Rosen auf das Grab meiner Mutter legte.
Und als ich im Herbst etwas verzagt, aber doch entschlossen in seine Fußstapfen trat, traf mich die Erkenntnis, dass ich nun ziemlich allein auf der Welt war, mit voller Wucht.
Gott sei Dank hatte ich Claude. Er arbeitete als Bühnenbildner am Theater, und der riesige Schreibtisch, der in seiner kleinen Atelierwohnung im Bastilleviertel unter dem Fenster stand, quoll stets über von Zeichnungen und kleinen Modellen aus Karton. Wenn er einen größeren Auftrag hatte, tauchte er manchmal für ein paar Tage ab. «Ich bin nächste Woche nicht vorhanden», sagte er dann, und ich musste mich erst daran gewöhnen, dass er tatsächlich weder ans Telefon ging noch die Tür öffnete, obwohl ich Sturm klingelte. Kurze Zeit später war er wieder da, als wäre nichts gewesen. Er schien am Himmel auf wie ein Regenbogen, nicht zu fassen und wunderschön, küsste mich übermütig auf den Mund, nannte mich «meine Kleine», und die Sonne spielte in seinen goldblonden Locken Versteck.
Dann nahm er mich an der Hand, zog mich mit sich fort und präsentierte mir mit flackerndem Blick seine Entwürfe.
Sagen durfte man nichts.
Als ich Claude erst einige Monate kannte, hatte ich einmal den Fehler begangen, meine Meinung unbefangen zu äußern, und mit schief gelegtem Kopf laut überlegt, was man noch verbessern könnte. Claude hatte mich fassungslos angestarrt, seine wasserblauen Augen schienen fast überzulaufen, und mit einer einzigen heftigen Handbewegung hatte er seinen Schreibtisch leergefegt. Farben, Stifte, Blätter, Gläser, Pinsel und kleine Kartonstücke wirbelten durch die Luft wie Konfetti, und das filigrane, in sorgsamer Arbeit gefertigte Bühnenmodell für Shakespeares Sommernachtstraum zerbrach in tausend Stücke.
Seither hielt ich mich mit kritischen Bemerkungen zurück.
Claude war sehr impulsiv, sehr wechselhaft in seinen Stimmungen, sehr zärtlich und sehr besonders. Alles an ihm war «sehr», ein wohltemperiertes Mittelmaß schien es nicht zu geben.
Wir waren damals ungefähr zwei Jahre zusammen, und es wäre mir nie in den Sinn gekommen, die Beziehung zu diesem komplizierten und höchst eigenwilligen Menschen infrage zu stellen. Wenn man genau hinsieht, hat doch jeder von uns seine Kompliziertheiten, seine Empfindlichkeiten und Spleens. Es gibt Dinge, die wir tun, oder Dinge, die wir niemals tun würden oder nur unter ganz bestimmten Umständen. Dinge, über die andere lachen, den Kopf schütteln, sich wundern.
Merkwürdige Dinge, die nur zu uns gehören.
Ich zum Beispiel sammle Gedanken. In meinem Schlafzimmer gibt es eine Wand mit bunten Zetteln voller Gedanken, die ich festgehalten habe, damit sie mir in ihrer Flüchtigkeit nicht verloren gehen. Gedanken über belauschte Gespräche im Café, über Rituale und warum sie so wichtig sind, Gedanken über Küsse im Park bei Nacht, über das Herz und über Hotelzimmer, über Hände, Gartenbänke, Fotos, über Geheimnisse und wann man sie preisgibt, über das Licht in den Bäumen und über die Zeit, wenn sie stillsteht.
Meine kleinen Notizen haften an der hellen Tapete wie tropische Schmetterlinge, eingefangene Momente, die keinem Zweck dienen außer dem, in meiner Nähe zu bleiben, und wenn ich die Balkontür öffne und ein leichter Luftzug durch das Zimmer streicht, zittern sie ein wenig, so als wollten sie davonfliegen.
«Was ist das?!» Claude hatte ungläubig die Augenbrauen hochgezogen, als er meine Schmetterlingssammlung zum ersten Mal sah. Er war vor der Wand stehen geblieben und hatte interessiert einige Notizen gelesen. «Willst du ein Buch schreiben?»
Ich wurde rot und schüttelte den Kopf.
«Um Gottes willen, nein! Ich mache das .», ich musste selbst einen Moment überlegen, fand aber keine wirklich überzeugende Erklärung,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.