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Kapitel 2
Jede Faser seines Wesens dürstete nach Luft, die nicht nach Staub und Vergangenheit roch.
Die Uhren schlugen Mitternacht. Dwight schloss die Tür des Stadthauses hinter sich ab und trat hinaus in die Dunkelheit. In der ersten Nacht in London war er im Haus geblieben, hatte auf die Geräusche der Stadt gelauscht und auf den Schlaf gewartet, der nicht kommen wollte. In Yorkshire waren die spätabendlichen Spaziergänge seine Rettung gewesen. Wenn er länger als ein oder zwei Tage hier in London bleiben wollte, brauchte er Schlaf, sonst würde er krank werden.
Seine Schritte hallten auf dem Pflaster, während er die Straße entlangging. Sein Mantel bauschte sich im Wind. In Yorkshire roch die Luft nach dem scharfen, erdigen Wind, der über das Moor strich. In London war jeder Atemzug schwer von Rauch und Ruß. Es war das erste Mal, dass er das so deutlich spürte.
Obwohl die Stadt nie wirklich zur Ruhe kam, umfing ihn eine Art Stille. Er hatte kein Ziel, ihn trieb nur das Bedürfnis, der Enge eines Ortes zu entkommen, der ihn ständig an die Vergangenheit erinnerte.
Zu seinen beiden Seiten schliefen die Häuser von Mayfair, bleiche Fassaden, in Mondlicht getaucht. Ihre prachtvoll ausgestatteten Räume waren unbewohnt, denn zu dieser Jahreszeit hatten ihre Besitzer die Stadt verlassen und hielten sich auf ihren Landsitzen auf. Die meisten Häuser kannte er, er erinnerte sich an die Bälle und Dinnerabende, die er dort erlebt hatte, die Tänze mit den heiratsfähigen jungen Damen unter glitzernden Kronleuchtern, den schweren Wein, das gedämpfte Lachen, den ungeniert zur Schau getragenen Luxus.
Und Louisa. Immer Louisa.
Er biss die Zähne zusammen.
Verflucht wollte er sein, wenn er sich von den Gedanken an sie einmal mehr in den bodenlosen Sumpf der Schwermut ziehen ließ.
Er ging schneller, hastete mit langen Schritten über das vom Regen glänzende Kopfsteinpflaster, ließ Mayfair hinter sich. Die Zeit verstrich. Das trübe Glimmen der Straßenlaternen konnte die Dunkelheit nicht durchdringen. Nebelschwaden umwaberten ihn. Langsam veränderten sich die Straßen, die er entlangging: Die verwöhnte Eleganz verwandelte sich in Armut und Not, nur schwach überlagert von billiger Protzerei.
Covent Garden. Als junger Bursche hatte er viele Aufführungen in den Theatern besucht. Korinthische Säulen bewachten die Eingänge, die einen Abend der Verzauberung und des Entzückens versprachen. Doch jetzt, um diese Stunde, war alles kalt und leer. In den Hauseingängen lungerten Bettler. Hinter ihren leeren Blicken lauerte eine wilde Verzweiflung, die nicht zögern würde, sich schwächere Opfer zu suchen.
Im Schatten der Häuser standen spärlich bekleidete Frauen mit rot geschminkten Wangen. Die grellfarbigen Fetzen, die sie trugen, verkündeten überlaut, dass sie käuflich waren. Als er vorüberging, keuchte eine der Frauen bei seinem Anblick auf und sprang mit einem leisen Schrei zurück.
Die Angst in ihren Augen brannte sich in seinen Rücken, als er weiterging.
Die nebelgeschwängerte Luft war erfüllt von den Gerüchen nach billigem Fusel, menschlichen und tierischen Exkrementen und faulendem Abfall. An einer Hauswand übergab sich ein Betrunkener. Dwight ging weiter.
Er hatte seinen Spaziergang in einem wahren Olymp begonnen, doch jetzt befand er sich im Herzen eines Infernos, das selbst Dante noch hätte inspirieren können. Er hatte keine Angst um sich selbst. Seine Fähigkeiten im Umgang mit der Pistole, die er bei sich trug, beschützten ihn. Doch was war mit denen, die gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt an einem solchen Ort zu verdienen? Die jeden Tag ertragen mussten, dass die Bedauernswertesten und am meisten Verachteten der Gesellschaft sich in ihren Hauseingängen zusammenkauerten?
Hatte er in der langen Zeit, die er in London gelebt hatte, jemals über diese Dinge nachgedacht?
Nein. Nie. Bei dem Gedanken stieg die Übelkeit wie ein Schwall in ihm auf.
In der Ferne schlug eine traurige Glocke ein Uhr.
Er sollte umkehren. Zurückgehen in die eisige Einsamkeit seines Stadthauses, wo nur eine weitere schlaflose Nacht auf ihn wartete. Die Sachen, die er mit nach Yorkshire nehmen wollte, waren ausgesucht und eingepackt. Ein Bündel Briefe in der Handschrift seiner Mutter, zusammengehalten von einem lavendelfarbenen Band. Ihr Porträt. Ein aufklappbarer Reisesekretär, der seinem Großvater gehört hatte.
Alles andere sollte nun zusammen mit dem Haus bei einer Auktion versteigert werden. Es blieben nur noch wenige Zimmer durchzusehen, das würde er bis morgen Abend schaffen. Am darauffolgenden Tag konnte er dann bereits auf dem Rückweg nach Yorkshire sein. Sein Anwalt würde den Verkauf organisieren.
Dwight drehte sich auf dem Absatz um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
Plötzlich zerriss ein Schrei die Dunkelheit.
Den Schal fest um die Schultern geschlungen, hastete Jenny durch die Tür des Pubs in die Nacht hinaus. Ihre Schuhe rutschten über die glitschigen Pflastersteine. Wieder war ein Arbeitsabend überstanden. Wenn doch nur die Münzen, die sie in ihr Taschentuch gewickelt hatte, ihnen ein wenig mehr als das Allernötigste, das sie zum Überleben brauchten, sichern würden! Sie hatte sich, als sie zur Arbeit ins Drei Könige gegangen war, wie immer mit einem Kuss von Anna verabschiedet. Die Haut ihrer neun Monate alten Tochter hatte sich so warm unter ihren Lippen angefühlt! Sie betete, dass es kein Fieber war und dass Anna, wenn sie jetzt zurückkam, friedlich schlief.
Die Kälte schmerzte in ihren Lungen bei jedem Atemzug. Jetzt war sie am Ende der Straße angelangt. Im trüben Licht einer Straßenlaterne zeichneten sich die Gestalten zweier Männer ab. Sie zog den Schal fester und ging schneller, mit gesenktem Kopf.
»Na, wenn das mal nich' unsre Miss Hochnäsig is'!«
Ihr Herz stockte. Sie blickte auf. Die beiden Männer, die sie im Drei Könige belästigt hatten, standen nur einen Schritt von ihr entfernt, Schulter an Schulter, und verstellten ihr den Weg.
Sie wirbelte herum, raffte ihren Rock zusammen und rannte los. Schwere Schritte verfolgten sie. Wieder rutschte sie über die glatten Steine. Ein eiserner Griff packte ihren Arm und riss sie zurück wie eine Stoffpuppe.
»Wir ham auf dich gewartet.« Das Licht warf schwankende Schatten auf sein Bulldoggengesicht. Der Gestank nach Schweiß und der ekelerregende Geruch nach Opium drehten ihr den Magen um. Verzweifelt wehrte sie sich gegen den eisernen Griff. Seine muskulösen Arme hielten sie fest und pressten sie an seinen Leib.
Ein gelbzahniges, anzügliches Grinsen kräuselte die Lippen des Mannes. »Wir ham gemerkt, dass du keine Manieren has', und dachten, die bringen wir dir mal 'n bisschen bei. Nich', Bill?«
Sie sah sich verzweifelt um, das Entsetzen schmeckte wie Galle in ihrem Mund. Niemand würde ihr zu Hilfe kommen, nicht um diese Stunde, in diesem Teil der Stadt. Sie hatte keine Wahl, sie musste kämpfen.
Gott, hilf mir.
Wie hilflos schien das Gebet.
Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, schrie, so laut sie konnte, und rammte ihm ihren Absatz auf den Fuß. Er schrie auf und sprang zurück. Sie war frei. Rannte los. Stürmte blind vorwärts. Ihre Schritte hallten ihr in den Ohren, ihr Atem ging keuchend.
Schon fast am Ende der Straße. Ihr Herz schlug schmerzhaft gegen ihre Brust, ihre Lungen brannten. Nur noch um die Ecke und .
Die Füße rutschten ihr weg. Sie warf die Hände nach vorn, um den Sturz abzufangen.
Sie schlug so heftig auf, dass sie kurz keine Luft mehr bekam. Der Kies schürfte ihre Handflächen auf. Sie war in einer Pfütze gelandet, die nach faulen Eiern roch.
Sie stieß die Luft aus, rappelte sich auf und wollte aufstehen, doch ihre Füße hatten sich in ihrem Rock verfangen. Schritte kamen näher. Die beiden Männer standen über ihr.
»Jetzt sin' wir wohl nich' mehr so hochnäsig, was?« Bill riss sie hoch.
Sie kratzte und trat ihn und schrie erneut laut auf, als er sie gegen eine Hauswand schleuderte und ihr Kopf gegen den Stein prallte. Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Sein Atem traf heiß auf ihr Gesicht. Er beugte sich über sie, seine Hände glitten an ihrem Körper hinunter.
Obwohl sie verzweifelt versuchte, nicht zu weinen, lief ihr eine Träne über das Gesicht. Nein! Das konnte nicht noch einmal passieren. Sie würde es kein zweites Mal überleben. Ein Nebel legte sich über ihre Gedanken, als sei das Vergessen der einzige Schutz, den sie noch hatte.
Gott. Bitte.
Plötzlich drang ein erschrockenes Umpf durch den Nebel. Kalte Luft trat an die Stelle von Bills heißem Körper an ihrem. Jenny hob den Blick.
Eine Gestalt in weitem Mantel stand über dem jetzt bäuchlings hingestreckten Mann. Wie ein Geist war sie aus dem Nebel erschienen, in mitternachtschwarzem Mantel und Hut. Eine Maske, ebenfalls schwarz, verbarg die linke Hälfte des Gesichts.
Einen atemlosen Augenblick lang starrte sie die Erscheinung an.
»Hol mich der Teufel, das is'n Geist!«, stieß Bills Kumpan aus.
Die Gestalt hielt eine Pistole in der behandschuhten Hand, die ganz ruhig auf die beiden Männer gerichtet war. »Verschwindet.« Das Wort kam heraus wie ein lautes Knurren.
Bills Kumpan nahm Reißaus, warf nur noch einmal einen panischen Blick über die Schulter zurück zu ihnen. Der Mann - es musste ein Mann sein - stieß Bills Körper, der noch immer am Boden lag, rücksichtslos mit der Stiefelspitze an.
Ihre Lunge verkrampfte sich. War er tot? Das erstickte Stöhnen, das aus seinem Mund kam,...