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»Federico!«
Nonna Ginas Stimme ließ Vera derart zusammenschrecken, dass sie beinahe den Staubwedel fallen gelassen hätte. Sie war gerade dabei, den Kaminsims im Wohnzimmer zu säubern, auf dem Nonna die besten Schnappschüsse ihres verstorbenen Ehemanns ausstellte. Es war Ginas Schrein, dem sich Vera nur in Ausnahmefällen nähern durfte, und auch nur in gebührendem Sicherheitsabstand, genau genommen eine Staubwedellänge.
Der goldene Rahmen ganz links zeigte Emilio im Jahr 1950 bei seiner Einschulung mit spitzbübischem Grinsen und gegen die Sonne zusammengekniffenen Augen. Ein Foto daneben war er knapp zehn Jahre später auf dem Mofa mit Zigarette im Mundwinkel und keck aufstehendem Hemd zu sehen. Es folgten verschiedene Stationen seines Lebens: Mit 27 im schicken, eng geschnittenen Hochzeitsanzug, neben sich die elf Jahre jüngere Virginia, die bewundernd zu ihm aufsah. Als braungebrannter Mitdreißiger am Strand von Tropea, den fünfjährigen Carlo vor sich im Sand sitzend, der gerade selbstvergessen an einer Burg baute. 1983 hinter dem Steuer seiner heißgeliebten Alfetta in Rostrot, die bis heute in der Garage des Hauses in Rom stand und unbeugsam dem Zahn der Zeit trotzte. Und schließlich Emilio 1990, kurz vor seinem viel zu frühen Tod am 10. Juli - zwei Tage nachdem Beckenbauers Mannschaft ausgerechnet in seiner Heimatstadt Weltmeister geworden war. »Dieser Elfmeter hat dir das Herz gebrochen«, lamentierte Nonna Gina bis heute, wenn sie mal wieder lautstark mit dem toten Emilio sprach, den sie immer noch genauso vergötterte wie am Tag ihrer Heirat.
Vera indes war sich sicher, dass es nicht der Elfmeter von Andreas Brehme, sondern der von der männlichen Seite der Familie weitervererbte Bluthochdruck gewesen war, der Emilio Renzi mit gerade mal 46 Jahren dahingerafft hatte.
Sie schlug eilig ein Kreuz, wobei sie dabei beinahe das Mofabild ihres Schwiegervaters vom Sims gefegt hätte. Gerade noch rechtzeitig konnte sie den schweren Goldrahmen auffangen und schob ihn vorsichtig zwischen die anderen Fotografien in Schwarz-Weiß und verblichener Farbe zurück.
Wenn das Nonna Gina mitbekommen hätte.
»Federico!«, rief die in dieser Sekunde aus dem Untergeschoss erneut, als wollte sie sich der Schwiegertochter ein weiteres Mal ins Gedächtnis rufen - was nicht nötig gewesen wäre. Die Nonna war in Veras Leben omnipräsent. »Komm runter. Mangiamo!«
Wie üblich orderte Nonna Gina nicht die gesamte Familie zum Essen, sondern bestellte immer nur das amtierende Oberhaupt der Renzis ein. Was je nach Wochentag Veras Mann Carlo, der älteste Sohn Federico oder die vierzehnjährige Fabiola war - je nachdem, welcher von den Stammhaltern das Haus gerade mit seiner Anwesenheit beglückte. Nonna Gina achtete strenger auf die Erbreihenfolge als das britische Königshaus, und genau deswegen wurde Vera nie gerufen, denn sie war nur angeheiratet und zu allem Überfluss auch noch Deutsche. Und der Nonna war es egal, dass die Enkelkinder in Monheim am Rhein geboren und aufgewachsen waren, in ihren Adern floss wenigstens hälftig italienisches Blut. Vera hingegen würde bis in alle Ewigkeit la bionda bleiben. Das war der Name, den Nonna Gina ihrer Schwiegertochter verpasst hatte, den sie benutzte, wenn sie mit ihrem verstorbenen Ehemann über sie sprach und meinte, Vera höre es nicht.
Dabei waren Vera und ihre bärbeißige Schwiegermutter fast nur noch allein im großen, zweistöckigen Haus, denn Veras Mann Carlo ließ sich unter der Woche sowieso nie blicken. Und da sich der fast erwachsene Federico und die schwer pubertierende Fabiola immer häufiger bis in den Abend hinein mit ihren Freunden herumtrieben, blieb die Küche kalt. Das war Nonna Ginas Art, der Schwiegertochter unmissverständlich klarzumachen, was sie von ihr hielt.
Vera nahm Staubwedel, Besen und Handfeger und machte sich auf den Weg nach unten. Bevor sie in die Küche trat, verstaute sie die Putzutensilien in der Kammer unter der Treppe, quälte sich mühsam aus den gelben Gummihandschuhen und betrat anschließend die Küche. Im Vorbeigehen verstrubbelte sie ihrem Sohn, der bereits am Tisch saß, die dunklen Haare, was der mit einem genervten Gesichtsausdruck quittierte.
»Mama, lass das!« Er stöhnte und zupfte sich die viel zu langen Strähnen wieder zurecht. »Weißt du, wie lange das dauert, damit die Frisur so aussieht?«
»Ehrlich gesagt, sieht es aus, als wärst du heute Morgen so aufgestanden«, erwiderte Vera.
»Lass den Jungen«, sagte Nonna Gina knurrend auf Italienisch, ohne Vera anzusehen, und servierte ihrem Enkel einen Teller Panzerotti alla Romana, mit Schinken, Ei und Parmesan gefüllte, gebackene Teigtaschen aus Mehl und Eiern. Eine typische Vorspeise aus der Region rund um die italienische Hauptstadt, die Nonna Gina mit nach Monheim gebracht hatte, als ihr Sohn sie vor etwa vierzehn Jahren, kurz nach der Geburt der Tochter, angerufen und um Hilfe gebeten hatte: »Mamma, Vera ist völlig überfordert! Federico macht, was er will, und die Kleine hat eine Kolik nach der anderen. Kannst du kommen?«
Die Nonna - schwer unterbeschäftigt in Rom und sowieso der Meinung, dass die Erziehung der Enkel ohne sie zwangsläufig in einer Katastrophe enden würde - zögerte keine Sekunde und stieg noch am selben Nachmittag mit zwei altertümlichen Koffern in der Hand, natürlich ohne Rollen oder irgendeinen Schnickschnack, der ihren Transport erleichterte, in den Zug in Richtung Mailand. Als sie fast zwanzig Stunden später in Monheim am Rhein ankam, war ihr Rücken kerzengerade, und ihr schwarzes Kleid hatte nicht einmal eine Falte im Rock. Mit stummer Entschlossenheit nahm sie Vera das schreiende Neugeborene aus dem Arm, schickte sie unter die Dusche und bezog das Gästezimmer. Wo sie bis heute lebte. Sie war in der Not gekommen und seitdem einfach nicht mehr weggegangen. Und es schien niemanden außer Vera wirklich zu stören. Die hatte damals, als Carlo versprach, ihr eine Hilfe zu organisieren, an einen Babysitter gedacht - nicht an seine Mutter, die sich neben der Kindererziehung auch gleich den Haushalt und die Küche unter den Nagel gerissen hatte.
»Wo ist denn Fabiola?«, wollte Vera gerade von der Nonna wissen.
In diesem Moment kam ihre Tochter in die Küche. In traumtänzerischer Sicherheit nahm sie auf dem freien Stuhl am Kopfende Platz, wo bereits ein halbes Dutzend goldfarbener Panzerotti auf sie wartete und sein köstliches Aroma verströmte. Vera war es ein Rätsel, wie Fabiola sich durch die Welt bewegen konnte, ohne sich jemals ernsthaft zu verletzen. Ihr Blick war nämlich immer auf das Smartphone in ihrer Hand gerichtet. Vermutlich waren beide mittlerweile sogar miteinander verwachsen. Zumindest konnte sich Vera nicht mehr daran erinnern, wann sie Fabiola das letzte Mal ohne das Ding in der rosafarbenen Glitzerhülle gesehen hatte.
Während die Kinder bereits damit begannen, die von Nonna Gina hausgemachten Köstlichkeiten gedankenlos in sich hineinzuschaufeln, nahm Vera ihren blanken Teller und ging an den Herd, wo in stiller Eintracht eine Armada von Töpfen stand und auf die Leerung wartete. In der Küche war Vera eine persona non grata. Genau genommen war es ihr noch nicht einmal gestattet, den Salzstreuer zu heben. Denn wenn Nonna Gina eines gar nicht gut vertrug, dann, dass man ihr Essen nachwürzte.
Damals, als Carlo und Vera sich auf einer Konferenz kennengelernt hatten, auf der sie als Übersetzerin arbeitete, war es völlig unvorstellbar gewesen, dass seine Mutter Gina, seit beinahe zehn Jahren verwitwet, einmal mit im gemeinsamen Haushalt in Monheim leben würde. Im Gegenteil, Vera war sogar davon ausgegangen, dass sie dem gut aussehenden Italiener nach Rom folgen würde . nicht etwa, dass er bei erster Gelegenheit beschloss, ihr einen Ring an den Finger zu stecken und mit ihr ins Rheinland zu kommen. Sie träumte von milden Wintern, mediterranem Klima und der Spanischen Treppe. Er vom Export italienischer Feinkostspezialitäten.
Immerhin, manchmal nahm er sie in den ersten Jahren, bevor die Kinder kamen, mit in seine Heimatstadt und führte sie Abend für Abend auf der großen Piazza aus. Sie war seine Eroberung, die Blonde aus dem kühlen Norden. An guten Tagen kam sich Vera wie die im Trevi-Brunnen badende Anita Ekberg vor. An schlechten wie eine Trophäe. In Italien waren nicht allzu viele Frauen blond. Deswegen war Carlo umso stolzer auf seinen Fang.
Leider fand seine Mutter Gina nicht viel an der hellen Haarpracht der Verlobten ihres Sohnes. Außerdem kam Vera wie gesagt aus Deutschland, und mit den Deutschen wollte die Nonna am besten gar nichts zu tun haben, unter anderem deswegen, weil die in den Augen der Schwiegermutter die schlimmsten Touristen von allen waren, die Jahr für Jahr über Rom herfielen und die Einheimischen andauernd anrempelten, weil sie die Nase in die Reiseführer steckten, statt die Schönheit der Ewigen Stadt mit eigenen Augen zu bewundern. Deutsche, das waren Menschen, die Ananas auf eine Pizza legten und nach zwölf Uhr Cappuccino tranken. Deutsche waren für die Nonna im Grunde nur dann zu ertragen, wenn sie das Eis ihres Cousins Giggi kauften, der irgendwo im Süden der deutschen Republik in einem Ort mit dem unaussprechlichen Namen Hintermurrhärle eine kleine Gelateria betrieb und regelmäßig Fotos von seinem Erfolg an die Familie schickte.
Vera zählte die Panzerotti im Topf. Fünf. Entweder sie war bei ihrer Schwiegermutter noch weiter in der Gunst...
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